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Solidarität für Israel? Auf der Kundgebung „Nie wieder ist jetzt“ fanden im Oktober 2023 viele Menschen zusammen. Ein Jahr später fällt es unserer israelischen Autorin schwer, hoffnungsvoll zu bleiben.

© Andreas Klaer

„Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren“: Wie eine Israelin in Potsdam den Jahrestag des Hamas-Angriffs erlebt

Einen Monat nach den Attentaten der Hamas auf Israel schrieb sie: „Fühlt Trauer, nicht Rache“. Ein Jahr später formuliert sie ihre Gedanken erneut – aus Angst vor antisemitischer Aggression anonym.

Stand:

Ich schreibe diesen offenen Brief am 2. Oktober, in der Nacht, in der wir unser Rosch ha-Schana feiern – das jüdische Neujahrsfest. Nach der jüdischen Zählung beginnt das Jahr 5785. Feiern ist nicht ganz das richtige Wort – denn bei einem Jahr, wie es das für uns war, fällt es sehr schwer zu feiern. Der auf Hebräisch bekannte Segen – „Möge es ein gutes und süßes neues Jahr werden“ – trägt in diesem Jahr einen besonders bitteren Beigeschmack.

Es ist schwer, mit den Ereignissen, die wir in diesem Jahr hatten, Schritt zu halten. Unser Jahr begann mit einer äußerst brutalen Offensive und setzte sich fort mit immer schwierigeren Nachrichten, Angriffen, einer Vielzahl von Kriegsfronten von Gaza bis Jemen, Irak, Libanon, Iran, Raketen, Terrorangriffen, Ermordeten, Evakuierten und Vertriebenen und Entführten … Die Entführten befinden sich immer noch in den Tunneln der Hamas. Berichten zufolge ist nur die Hälfte von ihnen noch am Leben.

Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn Menschen auf der ganzen Welt eine Gleichung aufmachen, in der Israel der aggressive Satan ist.

Eine israelische Potsdamerin

Warum ist es manchmal besser, kein Hebräisch zu sprechen?

Es ist sehr schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn die Israelis nicht nur an allen möglichen Fronten kämpfen, sondern auch das Gefühl haben, dass der größte Teil der Welt gegen uns ist und uns hasst. Bereits am 8. Oktober wurde Israel des Völkermords beschuldigt. Ohne das Leid der Palästinenser und ihre große Trauer zu schmälern, und ohne sich der Verantwortung zu entziehen, die Israel in diesem Zusammenhang auf sich nimmt, ist dies aus meiner Sicht und nach der Definition, die ich kenne, eine haltlose Anschuldigung. Das bedeutet natürlich nicht, dass Israel keine Kriegsverbrechen begeht.

Es ist schwer, die Heuchelei zu ignorieren, dass Länder, die nicht den ethischen Standards entsprechen, die sie selbst gesetzt haben, diejenigen sind, die Israel verurteilen. Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn Menschen auf der ganzen Welt eine Gleichung aufmachen, in der Israel der aggressive Satan ist, während mörderische Terrororganisationen sowie totalitäre religiöse Staaten Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit sind.

In Potsdam fühle ich mich persönlich etwas sicherer, Hebräisch auf der Straße zu sprechen als in Berlin zum Beispiel.

Eine Israelin, die seit einigen Jahren in Potsdam lebt

Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn man sieht, wie viel Hass sich gegen uns ausbreitet und wächst, wie der Antisemitismus zunimmt und der Ruf nach der Auslöschung Israels so laut und schallend ist. Warum gibt es an jüdischen Orten so viele Sicherheitsvorkehrungen? Wie kommt es, dass die Bedrohung weiter wächst? Warum ist es manchmal besser, auf der Straße kein Hebräisch zu sprechen?

In Potsdam fühle ich mich persönlich etwas sicherer, Hebräisch auf der Straße zu sprechen als in Berlin zum Beispiel. Aber auch hier überlege ich immer, was ich antworten soll, wenn mich jemand fragt: „Woher kommst du?“

„Wir haben keine andere Wahl, als es weiter zu versuchen“

Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn die israelische Regierung eine extreme, messianische und gefährliche rechte Regierung ist. Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn man so viel Leid sieht. Das Leiden des palästinensischen Volkes und des israelischen Volkes. Es ist so schwer, nach all den Schrecken Vertrauen aufzubauen. Aber wir haben keine andere Wahl, als es weiter zu versuchen.

Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn es so viel existenzielle Angst gibt, das Zuhause, die Heimat zu verlieren. Es war ein Jahr der nicht enden wollenden Trauer, und obwohl das Jahr vorbei ist, befinden wir uns immer noch am 7. Oktober, das heißt im Krieg. Wir feierten also nicht das neue Jahr, sondern wir kamen an seinem Beginn zusammen in dem Versuch, auch die Hoffnung zusammenzuhalten. Damit wir vielleicht doch ein gutes neues Jahr haben werden. Und wir wünschen uns ein Jahr der Hoffnung, ein Jahr der Sicherheit für jeden Menschen, ein Jahr des Friedens. „Mögen dieses Jahr und seine Flüche vergehen und ein neues Jahr mit seinen Segnungen beginnen.“ (Zitat aus dem Pijjut „Ahot Ketannah”)

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