
© Balazs Czagany/MTI/AP/dpa
Hagen Stamm im Interview: „Die Spieler dürfen nicht leichtsinnig in die Arena geschickt werden"
Bundestrainer Hagen Stamm spricht über die Olympia-Qualifikation der deutschen Wasserballer und seine Sorgen wegen der Coronavirus-Situation.
Stand:
Herr Stamm, nachdem im vergangenen Jahr die Qualifikation für die Olympischen Spiele abgesagt worden war, haben Sie den Nationalspielern gesagt, sie sollen nach Hause fahren, ein Bier trinken, eine kurze Pause machen, und danach werde es den neuen Start geben. Das war Mitte März.
Die meisten Nationalspieler habe ich danach bei Pokal- oder Meisterschaftsspielen gesehen. Aber zwei erst jetzt wieder, als wir am 3. Januar unseren Lehrgang in Warendorf begonnen haben.
Dort, in der Sportschule der Bundeswehr, findet fast die gesamte Vorbereitung auf die Olympia-Qualifikation statt, die nun am 14. Februar in Rotterdam beginnt. Es gab zuvor rund zehn Monate keine gemeinsamen Lehrgänge der Wasserball-Nationalmannschaft. Haben Sie Anfang Januar alle Spieler wiedererkannt?
Ich kannte noch alle Namen. Aber im Ernst: Die Bundesliga pausiert seit Monaten, und mehrere Lehrgänge mussten im Herbst wegen Coronavirus-Fällen bei Spandau 04 ausfallen. Vor und direkt nach Weihnachten sind die Spieler in verschiedenen Hallen je drei Tage nur geschwommen, damit wir nicht konditionell bei null anfangen.
Und abgesehen von der Kondition?
Da standen wir Anfang des Jahres tatsächlich fast bei null. Bei taktischen Dingen, im Spiel Mann gegen Mann oder im Stellungsspiel war dies deutlich zu merken. Wir müssen sehr viel aufholen.
Ist das bis zum Start in Rotterdam in genau vier Wochen möglich?
In der Vergangenheit haben wir das Niveau in der Vorbereitung immer stark anheben können. Das sollte auch diesmal machbar sein. Aber es gibt noch ein weiteres großes Problem.
Welches?
Uns fehlen wichtige Spieler, die beim geplanten Termin 2020 dabei gewesen wären. Ben Reibel fehlt aus gesundheitlichen Gründen, Fynn Schütze hat sich die Hand gebrochen.
Außerdem hat Center Dennis Eidner kürzlich seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärt.
Er fängt bei der Feuerwehr an. Ich hatte bis zuletzt auf ihn gehofft, weil er für die Stimmung in der Mannschaft und von der Leistung her ein enorm wichtiger Faktor war. Dennis hat in den vergangenen Jahren sehr viel für uns geleistet, ich kann seine Entscheidung verstehen und akzeptiere sie. Aber insgesamt hat sich unsere Lage durch die Verschiebung deutlich verschlechtert. Auf dem Papier sind wir auch schwächer besetzt als bei der WM 2019…
…als Deutschland das Viertelfinale erreichte und schließlich Achter wurde.
Anderen Teams hilft der spätere Termin vielleicht sogar, weil ständig neue Talente nachkommen. Aber ich kann einen Dennis Eidner oder einen Ben Reibel nicht ersetzen.
Zumindest ist Mateo Cuk von den Wasserfreunden Spandau 04 nach seiner Schulteroperation und anschließender langer Pause auf der Centerposition wieder dabei.
Genau wie Tobias Preuß kann er aber noch nicht voll trainieren. Falls Mateo bei acht Spielen in acht Tagen in Rotterdam Probleme bekommt, sieht es bei den Centern düster aus. Junge Spieler ohne internationale Erfahrung müssen jetzt neue Rollen übernehmen. Doch es ist ja zum Glück eine deutsche Tugend in allen Ballsportarten, sich in Turnieren zu steigern.
Die Bundesligasaison beginnt nach der Absage im Oktober aufgrund der Pandemie frühestens im März. Bei den meisten Gegnern, auf die Ihre Mannschaft trifft, lief die Saison zeitweise oder ununterbrochen.
Fast alle haben mehr Spielpraxis. Da blicke ich ein bisschen neidisch hin. In den Mittelmeerstaaten beispielsweise konnte wegen der höheren Temperaturen lange draußen gespielt werden. Und in Montenegro etwa haben die Nationalspieler fast ohne Pause trainiert.
Auch in anderen Ligen gab es Coronafälle in den Teams.
Da wurden die Betroffenen und Kontaktpersonen in Quarantäne geschickt. Die Spiele haben meist trotzdem stattgefunden. Solche individuellen Lösungen kann man treffen. Aber ich sage ganz klar, dass ich hinter den Entscheidungen der Politik bei uns stehe und auch hinter der Entscheidung, die Bundesliga zu verschieben.
Waspo Hannovers Präsident Bernd Seidensticker hat unlängst in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ gefordert, dass die Liga endlich spielen müsse: „Ganz Europa schafft das, aber wir drohen immer schlechter zu werden.“
Wenn es bei Aufnahme des Ligabetriebs fünf Mal Spandau 04 gegen Waspo geben würde, okay. Aber das wäre nicht der Fall. Wenn Spandau gegen den Tabellensiebten 20:5 gewinnt, weiß ich nicht, ob das wirklich weiterhilft in Sachen Spielpraxis. Außerdem ist jeder seines eigenen Glückes Schmied. Die Hannoveraner hatten – anders als Spandau mit sechs Fällen – keine Coronafälle. Sie hätten sich internationale Partner für Testspiele holen können. Völlig klar ist aber, dass weder Spandau noch Waspo in der Champions League eine erbauliche Visitenkarte abgegeben haben.
Beide haben Mitte Dezember ihre jeweils drei Gruppenspiele zum Teil deutlich verloren. Ist das ein Vorgeschmack auf Rotterdam?
Hoffentlich nicht, da wir nun eine richtige Vorbereitung haben. Aber Sorgen mache ich mir schon, weil wir auf viele der starken Spieler aus der Champions League auch in deren Nationalteams treffen. Durch die Absagen mehrerer Länder ist es fast eine kleine EM, ohne auch nur ein leichteres Spiel. Wir brauchen ein sehr gutes Turnier und am Ende einen sensationellen Tag.
Drei Teams qualifizieren sich für Tokio. Die Favoriten sind Kroatien, Griechenland und Montenegro.
Letzte Woche fand die Finalveranstaltung der Europaqualifikation in der Weltliga statt. Da standen Griechenland und Montenegro im Endspiel, die haben also derzeit eine hervorragende Form. Über die Stärke der Kroaten brauchen wir nicht groß zu sprechen, sie sind der absolute Favorit.
"Wir werden alles tun, um uns zu schützen"
Klingt nach einer fast unmöglichen Mission für Ihr Team.
Für einen Sieg gegen eine der drei Topmannschaften müssten Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen. Unsere Chance ist wahrscheinlich nicht viel höher als zehn Prozent. Aber einfache Sachen sind langweilig.
Mit welchem Gefühl gehen Sie hinsichtlich der aktuellen Pandemie-Situation ins anstehende Turnier?
Zunächst werden wir in der Vorbereitung in Warendorf alles tun, um die Blase aufrechtzuerhalten und alle so gut es geht zu schützen. Bei den Meldungen von der Handball-WM habe ich allerdings einen Schreck bekommen.
Dort gab es bereits im Vorfeld viele positive Coronavirus-Fälle, Tschechien und die USA treten gar nicht an.
Ich mache mir natürlich Gedanken, wie es mit unserem Turnier aussieht. Ich habe als Bundestrainer eine Verantwortung für die Spieler. Das sind alles junge Menschen, die mitten im Leben stehen und zum Teil Familienväter sind.
Bei den deutschen Handballern haben mehrere Spieler abgesagt – was Torwart Andreas Wolff kritisiert hat.
Ich habe volles Verständnis für jeden, der aus familiären Gründen absagt. Keiner von uns ist berechtigt, darüber zu urteilen. Bei uns sind glücklicherweise alle Spieler an Bord. Aber ich verlange von den Verantwortlichen des Weltverbandes, die Lage bis zum letzten Tag genau zu beobachten und erst dann zu entscheiden, ob wirklich gespielt wird. Zur Not muss die Reißleine gezogen werden.
In Form der Absage der gesamten Olympia–Qualifikation.
Die Spieler dürfen nicht leichtsinnig in die Arena geschickt werden, nur damit die Veranstaltung durchgeführt werden kann. Wenn auch bei uns zwei Teams nicht antreten, würde das Ganze zu einer Farce werden. Ich hoffe jedoch, die Hygienekonzepte halten. Wir stellen uns voll auf die Durchführung des Turniers ein.
Sie sind mit einer Unterbrechung inzwischen seit mehr als 15 Jahren Bundestrainer. Waren die vergangenen Monate die schwersten?
Definitiv. Die Jungs wollten im März endlich loslegen, wollten ihre Chance auf die Olympischen Spiele wahrnehmen. Nur zwei von ihnen waren schon einmal dabei. Und dann kam die Absage der Qualifikation, und wir konnten monatelang nur warten. Aber es ist toll zu sehen, wie das Team jetzt zusammensteht. Es gibt kein Vereinsdenken, kein jung oder alt. Und ich bin sehr dankbar, dass von den entsprechenden Stellen alle Hebel in Bewegung gesetzt worden sind, um uns erneut eine solche Vorbereitung zu ermöglichen.
Wie haben Sie selbst die letzten Monate erlebt?
Mich erinnert es an 1980. Es wären meine ersten Olympischen Spiele gewesen. Wegen des Boykotts haben wir nicht teilgenommen. Nun höre ich als Trainer bald auf. Hoffentlich schließt sich der Kreis nicht, indem es erneut eine Enttäuschung durch Dinge gibt, auf die man keinen Einfluss hat.
Ein kurzer Blick Richtung Sommer: Wird Olympia in Tokio Ihrer Meinung nach trotz der Coronavirus-Pandemie über die Bühne gehen?
Ja. Ich denke, dass die Spiele mit strengen Auflagen und Impfungen im Vorfeld stattfinden. Ich hoffe, mit unserer Beteiligung. Die Jungs bei Olympia ins Stadion einlaufen zu sehen, wäre für mich zum Abschluss meiner Trainertätigkeit noch einmal eine großartige Geschichte.
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