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Anja Adler bei einem Kanu-Wettbewerb 2023.

© IMAGO/Siegfried Dammrath

Nach Sturz in 15 Meter Tiefe: Para-Kanutin Anja Adler lebt ihr Leben weiter

Bei einer Höhlenexpedition verunglückte Para-Kanutin Anja Adler schwer und musste sich dann mit einem Leben im Rollstuhl anfreunden. Ihre Leidenschaft für den Sport half ihr dabei.

Von Tim Rosenberger

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Das Auto von Anja Adler erkennt man sofort. Ein knallroter Renault, außen bedruckt mit ihrem Namen. Sie steuert es mit Handgas durch die Straßen von Halle an einem regnerischen ersten Julitag. Der Rollstuhl ist im Kofferraum verstaut.

Auf dem Auto prangt zusätzlich ein Foto, das Adler im Kajak zeigt. Es könnte als eine Ansage zu verstehen sein, in etwa: Hier kommt eine der besten Para-Kanutinnen Deutschlands. Die 34-Jährige reist als WM-Dritte zu den Paralympics nach Paris und wird auch im Freizeitkomplex von Vaires-Torcy um die Medaillen paddeln. Auf den Kopf gestellt wurde ihr Leben 2015, als sie bei einem Bergunglück stürzte und querschnittgelähmt überlebte.

Damit gehört sie zu der Hälfte der Athletinnen und Athleten des deutschen Teams, die nicht mit einer Beeinträchtigung geboren wurde. Unterkriegen lassen hat sie sich davon aber nicht, im Gegenteil: „Eigentlich lebe ich mein Leben so wie vorher weiter.“ Schon immer war Adler sportbegeistert. Das habe sie von ihren Eltern, erzählt sie bei dem Treffen im Juli. „Die haben mich immer alles machen lassen, was ich wollte.“ Unter anderem probierte sie sich in der rhythmischen Sportgymnastik, im Turnen und sogar zwei Jahre im Skispringen aus. Am erfolgreichsten war sie aber in der Leichtathletik: 2015 schaffte sie es im Gehen bei den deutschen Meisterschaften in die Top-10.

Abseits vom Sport war Adler als studierte Geologin viel in Höhlensystemen unterwegs. „Teilweise war ich zwei Wochen in den Höhlen, habe 24 Stunden am Stück nur Proben genommen und das vier Tage nacheinander“, sagt sie. Mit ihrem Team war sie 2015 für eine Wasserprobe im Südharz unterwegs, als der Unfall geschah. Ein Felsvorsprung brach weg, Adler stürzte rund 15 Meter in die Tiefe. „Als ich unten gelandet bin, war es erstmal gar nicht so schlimm“, erinnert sie sich. „Das Einzige war, dass ich kopfüber den Hang hinunter lag und drohte, ins Wasser zu rutschen.“

Glück im Unglück

Dank des geschulten Retter-Teams gelang es, Adler innerhalb von vier Stunden zu bergen. „Ich hatte das Glück, dass der Notarzt sich direkt zu mir abseilen konnte. Sonst wäre es deutlich schlimmer ausgegangen“, sagt sie. Noch heute hält sie mit ihrem Lebensretterteam Kontakt und veranstaltet regelmäßig Grillabende.

Im Krankenhaus in Nordhausen wurde sie nach dem Unglück notoperiert, um die Wirbelsäule zu stabilisieren. Am Tag darauf wurde sie per Intensivkrankenwagen in das BG Klinikum Bergmannstrost in Halle verlegt. Dort wurde sie weitere dreimal operiert. Insgesamt blieb sie acht Monate. „Ich hatte eine Berstungsfraktur des ersten Lendenwirbels, was auch die inkomplette Querschnittlähmung mit sich brachte. Dann noch eine gebrochene Rippe und eine geprellte Hüfte“, beschreibt Adler ihre Verletzungen. Glück im Unglück sei dennoch dabei gewesen: „Ich hatte nicht mal eine Gehirnerschütterung“, sagt sie.

Adlers Eltern wichen ihrer Tochter in dieser Zeit nicht von der Seite. Als sie über das Unglück informiert wurden, hatten sie sich sofort auf den Weg gemacht. „Ich weiß das nur vom Hörensagen, aber sie haben wohl auf der gesamten Fahrt
kein Wort gesprochen“, sagt Adler.

Es sei insgesamt ein langer Prozess gewesen, mit ihrer Querschnittlähmung klarzukommen. Sie selbst habe die neue Situation aber eher akzeptieren und besser damit umgehen können als ihre Familie. „Die waren ja nicht bei jeder Therapie dabei, sie konnten nicht in mich reinhorchen. Ich habe bei mir aber die Entwicklung gesehen“, sagt Adler. Auf ihren neuen Alltag wurde sie während einer fünfmonatigen Reha im sächsischen Kreischa vorbereitet. Physiotherapie stand dort auf dem Programm – zudem lernte sie, mit dem Rollstuhl umzugehen. Eine psychologische Beratung lehnte sie ab: „Das hat mich mehr runtergezogen, als dass es mir geholfen hat.“

Geholfen hat eher eine Tradition, die sich bis heute hält: Anjas Donnerstag. Jeden vierten Tag der Woche bekam sie damals Besuch von ihren Freundinnen und Freunden. „Meistens haben wir Pizza gegessen, Spiele gespielt oder gelästert, wenn die Männer nicht dabei waren“, lacht Adler. Die Tradition hält sich bis heute – wohl selbst in Paris. „Sechs Freunde werden kommen“, kündigt sie an. Die Entscheidungen im Para-Kanu stehen am kommenden Wochenende an.

Der Grundstein für ihre erfolgreiche Sportkarriere wurde nach ihrem Unfall im Bergmannstrost gelegt. Adler traf auf den damaligen Nationaltrainer der deutschen Para-Kanuten, der in der Unfallklinik als Physiotherapeut tätig ist. Er lud Adler zu einem Probetraining ein, doch aufgrund ihres Korsetts, was sie in der Zeit zur Stabilisation trug, konnte sie der Einladung nicht folgen.

Sie probierte sich in anderen Sportarten wie Rollstuhlbasketball oder Tischtennis aus – dann kam sie auf das Angebot zurück. „Der Wunsch nach einer Sportart im Freien war groß“, sagt Adler. Sie sei eben ein naturverbundener Mensch. Nach ihrem Meteorologie-Studium arbeitet die 34-Jährige als Klima- und Umweltmanagerin mittlerweile selbst im Bergmannstrost und kann Arbeit und Sport perfekt verbinden. „Das Engagement dort im Bereich des Behindertensports ist unglaublich“, sagt Adler. Das Klinikum ist seit über zehn Jahren Partner des Behinderten- und Rehabilitationssportverband Sachsen-Anhalt und fördert den Para-Kanusport in Halle und auch Adler als einer ihrer Sponsoren.

Ihr Leben versucht Adler heute so selbstständig wie möglich zu gestalten. Das Auto mit Handgas bietet Freiheiten, auch die Arbeit und der Sport sind barrierefrei sehr gut möglich. Falls sie doch mal Unterstützung braucht, ist ihre Familie immer da und hilft ihr zum Beispiel beim Einkaufen. Ihre Wohnung im Untergeschoss des Elternhauses mitten in Halle konnte sie nahezu komplett barrierefrei einrichten.

Um sich zu entspannen, hat Adler ein besonderes Hobby: Sie sortiert ihre Mineralien-Sammlung. „Wenn ich mich in die Geologie vertiefen kann, bin ich in einer anderen Welt“, schwärmt sie und erzählt von der Doktorarbeit, die in Planung ist. Ihre Daten und Messungen hatte Adler schon vor dem Unfall fast alle zusammen. Lediglich die Zeit zum Schreiben fehlte ihr.

Und selbst in Höhlen hatte es Adler nach dem Unfall wieder gezogen. Im Rollstuhl nahm sie die letzten Proben. „Das war natürlich echt eine Herausforderung“, sagt sie: „Aber mithilfe meiner Kollegen und meiner Familie hab ich’s geschafft.“ Ein Satz, der für Anja Adlers gesamtes Leben stehen könnte.

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