
© IMAGO/Shutterstock
„Profis zerbrechen daran“: Wenn die Lust am Fußball zur unerträglichen Last wird
Fußballerin Lina Magull macht ihre Depressionen öffentlich. Ein Experte erklärt, welche Verantwortung die Vereine tragen – und warum Sportpsychologen im aktuellen System nur bedingt helfen.
Stand:
Es war ein Moment purer Euphorie: Als Lina Magull im EM-Finale 2022 gegen England in der 80. Minute zum 1:1 ausglich, da tobte das Wembley-Stadion. Über 87.000 Menschen waren bei diesem Spiel dabei – eine Rekordkulisse im Fußball der Frauen.
Zwar musste das deutsche Nationalteam sich nach der Verlängerung mit 1:2 geschlagen geben. „Trotzdem war das der größte Moment meiner Karriere“, sagt Magull im Podcast „Wie gehts?“ mit Robin Gosens.
Am liebsten wäre die Fußballerin noch eine ganze Weile auf diesem „Hoch geritten“, wie sie erzählt. Doch stattdessen ging „es immer tiefer“. Drei Jahre später blickt sie auf die wohl schwerste Zeit in ihrem Leben zurück. Im vergangenen Jahr wurde bei ihr eine „schwerwiegende Depression“ diagnostiziert und sie verbrachte sechs Wochen in einer Klinik.
„Das war der schwierigste Schritt in meinem Leben“, sagt die 30-Jährige rückblickend. „Meine Gedanken sind so ausgeartet, dass ich gar keinen Sinn mehr im Leben gesehen habe. Ich hätte kein Problem damit gehabt, zu sterben. Das war schlimm für mich, weil ich eigentlich ein lebensfroher Mensch bin.“
Im Gespräch mit Robin Gosens gibt Magull tiefe Einblicke in ihr Seelenleben. Dabei wird auch deutlich, dass der Druck und die Erwartungen an sie, insbesondere nach der EM, immer größer wurden und sie nahezu erdrückten.
Beim FC Bayern München Kapitän zu sein und mit dem Verein 2023 und 2024 die Meisterschaft zu gewinnen, sei zwar eine „Riesenehre“, aber auch mit einem großen Verantwortungsgefühl verbunden gewesen.
Überdies lief es schon bald bei der Nationalmannschaft nicht mehr rund, zwei Jahre nach dem Wembley-Spektakel schieden Magull und Co. bei der WM in der Vorrunde aus. Und Magull trieben Zweifel um wie „Bin ich als Spielerin und als Mensch nicht mehr gut genug?“
Plötzlich stand sie, die bereits im Alter von 18 Jahren mit dem VfL Wolfsburg Champions League, Meisterschaft und Pokal gewonnen hatte, vor der Frage: Wer bin ich, wenn der Fußball, über den ich mich all die Jahre identifiziert habe, wegzubrechen droht?
Der Druck auf Profis ist groß
Thorsten Dolla, der lange als Mannschaftsarzt für Vereine wie Hertha BSC und den 1. FC Union tätig war, kennt das Problem. „Fußballer und Fußballerinnen stehen permanent unter Druck. Immer wieder gibt es Fälle, wo das zu psychischen Problemen führt, die weit über den Burnout bis in zu Depressionen reichen. Robert Enke, ehemaliger Nationaltorwart, nahm sich sogar das Leben.“
Ein Grundproblem sieht Dolla, der aktuell DFB-Mannschaftsarzt des Nationalteams im Futsal ist, der einzigen vom Weltverband FIFA anerkannten Variante des Hallenfußballs, in der hohen Belastung. Diese werde vor allem durch die englischen Wochen und die zusätzlichen Turniere wie die anstehende Klub-WM bedingt. „Viele Spieler berichten, dass nicht nur die körperliche, sondern vor allem die mentale Belastung eine große Rolle spielt.“
Vereine müssen dafür sorgen, dass Spieler gesund bleiben, sowohl körperlich als auch psychisch.
Thorsten Dolla, Arzt
Einige deutsche Spieler mussten nach der Bundesliga und dem Pokalfinale direkt zu den Spielen mit der Nationalmannschaft reisen und fliegen jetzt zur Klub-WM in die USA, wo erschwerend die Zeitverschiebung hinzukommt.
„Durch die Dauerbelastung fehlt die mentale Erholung komplett. Über Wochen sehen sie ihre Familien nicht und sind sozial isoliert. Hinzu kommen die Angst vor Verletzungen und der große öffentliche Druck. Die Fans in den Stadien und vor dem Fernseher erwarten, dass die Spieler ihre allerbeste Leistung abrufen.“

© IMAGO/Eibner-Pressefoto/Memmler
So war es auch bei Magull, die sich im vergangenen Jahr dazu entschied, vom FC Bayern zu Inter Mailand zu wechseln, in der Hoffnung, einen Neustart zu schaffen. Doch das Gegenteil war der Fall: Sie verlor endgültig die Freude am Fußballspielen, hatte mit Schlafstörungen zu kämpfen und litt an Schweißausbrüchen und Panikattacken.
„Ich habe die Kontrolle über meine Gedanken und meinen Körper verloren, das hat nicht nur mir Angst gemacht, sondern auch meinem Umfeld.“ Also entschied sie sich dazu, in Deutschland in eine Klinik zu gehen.
„Spieler sind das Kapital des Vereins“, sagt Dolla. „Deshalb müssen die Vereine dafür sorgen, dass sie gesund bleiben, sowohl körperlich als auch psychisch.“ Viele Klubs verfügen mittlerweile über eigene Sportpsychologen und Sportspychologinnen, so auch Inter Mailand. „Aber das darf nicht in einer Alibi-Funktion ausarten“, so Dolla. „Psychologen sollten dazu befugt sein, Spielern und Spielerinnen eine Pause zu erteilen oder sie gar nicht mehr spielen zu lassen. Das kommt immer noch selten vor.“
Magull musste lernen, die Erkrankung zu akzeptieren
Rückblickend halfen Magull vor allem zwei Dinge: die Depression als eine Erkrankung anzuerkennen, nicht als eine persönliche Schwäche – und sich zeitweise eine Pause vom Fußball zu nehmen, um sich professionelle Hilfe zu suchen. In der Klinik fand sie dann auch ihre Leidenschaft für andere Aktivitäten, neben dem Sport wieder, wie das Zeichnen.
„Wenn Profis sich nur mit ihrer Sportart identifizieren, kann das zu Problemen führen“, sagt Dolla. „Sie zerbrechen daran, wenn sie nicht die Leistung erbringen können, die sie selbst und andere von ihnen erwarten.“ Gerade für Fußballprofis ist es angesichts des engen Zeitplans aber quasi unmöglich, ein Hobby zu pflegen. „Es bleibt gar keine Zeit.“
Man sollte sich Hilfe suchen – und das nicht in sich hineinfressen.
Lukas Märtens, Schwimmer und Olympiasieger
Andere Profisportler:innen in Deutschland machten ähnliche Erfahrungen. Schwimmer und Olympiasieger Lukas Märtens musste vor einigen Jahren das Training aussetzen und sich auf seine psychische Gesundheit fokussieren. „Man sollte sich Hilfe suchen – und das nicht in sich hineinfressen“, sagte er.
Auch Ruderin Tabea Schendekehl, die im Doppelvierer Bronze in Paris geholt hatte, machte öffentlich, aufgrund von Depressionen und Angststörung eine Therapie gemacht zu haben. Dadurch habe sie gelernt, besser damit umzugehen. „Ich habe immer noch schlechte Tage und Panikattacken. Aber zum Glück kommen diese deutlich unregelmäßiger vor“, schrieb sie auf Instagram.
Lina Magull entschied sich im März dazu, ihre Karriere in der Nationalmannschaft zu beenden. Zwar findet im kommenden Monat die EM statt, doch sie möchte sich nur noch auf den Fußball im Verein bei Inter konzentrieren und mehr Dinge außerhalb des Sports erleben. Mit ihrem offenen Umgang will sie anderen Menschen Mut machen, ihnen zeigen, dass sie sich für eine psychische Erkrankung nicht schämen müssen.
Thorsten Dolla meint, die Scham rund um das Thema habe in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. „In den 1980er Jahren mussten wir es geheim halten, wenn unsere Spieler zum Psychologen gegangen sind. Da hat sich glücklicherweise viel verändert.“
Das Grundproblem, nämlich die hohe Belastung und die fehlende mentale Erholung, bleibe aber bestehen. „Es wird gern vergessen, dass es sich um Menschen handelt – nicht um Maschinen.“
- 1. FC Union Berlin
- Bundesliga
- Champions League
- England
- FC Bayern München
- Fußball
- Hertha BSC
- Mental Health (psychische Gesundheit)
- VfL Wolfsburg
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false