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Joachim Löw und der Blick in die Zukunft. Auch die EM findet womöglich ohne Zuschauer im Stadion statt.

© dpa

Die Folgen der Coronavirus-Pandemie: Profitieren die Deutschen von der Verschiebung der EM?

An diesem Freitag hätte die Fußball-Europameisterschaft begonnen. Dass sie nun erst in einem Jahr stattfindet, hat für Bundestrainer Joachim Löw auch Vorteile.

„Das Wichtigste ist die Vorbereitung, da können wir inhaltlich und konzeptionell arbeiten.“ – „Ich mache mir keine Sorgen. Wenn ein Spieler ausfällt, gibt es einen anderen. Ich will nicht anfangen zu jammern. Das ist dann so.“ – „Je näher das Turnier kommt, desto ruhiger werde ich. Ich empfinde keinen Stress.“ – „Bei großen Turnieren spüre ich eine immer eine große innere Vorfreude.“

In einer normalen Welt, einer Welt ohne Coronavirus, wären Sätze wie diese in den vergangenen Tagen wohl wieder vermehrt zu vernehmen gewesen. Sie stammen von Joachim Löw und sind in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten rund um die Welt- und Europameisterschaften gefallen, in denen er als Bundestrainer für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verantwortlich war. Auch jetzt, im Anflug auf die Europameisterschaft 2020, wären sie so oder so ähnlich mit einiger Sicherheit wieder gefallen.

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Denn ohne Coronavirus würde an diesem Freitag in Rom mit dem Spiel Italien gegen die Türkei das Paneuropa-Turnier mit zwölf Spielorten in zwölf Ländern eröffnet werden. Und ohne Coronavirus würde die deutsche Mannschaft am kommenden Dienstag in München gegen Frankreich in die EM starten.

Für die Deutschen wäre es der Auftakt zu einer anspruchsvollen Gruppenphase gewesen: mit Spielen gegen Weltmeister Frankreich, gegen Europameister Portugal und gegen ... Ja, gegen wen eigentlich? Der dritte Gruppengegner ist bis heute nicht ermittelt, weil die Play-offs Ende März wegen der Coronavirus-Pandemie verschoben werden mussten. Ein Ersatztermin steht immer noch nicht fest.

Auch deshalb gibt es zumindest leise Zweifel, ob die EM in einem Jahr in exakt der gleichen Form stattfinden kann, wie sie für diesen Sommer geplant gewesen wäre. Neun Gastgeberländer haben bereits erklärt, dass sie auch 2021 zur Verfügung stehen.

Was wird aus Rom, Baku und Bilbao?

Bilbao, Rom und Baku aber gelten als Wackelkandidaten, so dass eine Reduzierung der Spielorte mittlerweile als wahrscheinlich gilt. Aleksander Ceferin, der Präsident des europäischen Fußballverbandes Uefa, hat schon gesagt, dass er am liebsten an zwölf Spielstädten festhalten wolle, es zur Not aber auch in zehn, neun oder acht Stadien gehe.

Auch die Frage, ob zu den Spielen Zuschauer zugelassen sein werden, kann derzeit niemand verlässlich beantworten. „Dass Menschen zusammenkommen, gehört gerade bei einem internationalen Turnier einfach dazu“, hat Oliver Bierhoff, der Manager der deutschen Nationalmannschaft, in einem Interview mit dem „Kicker“ gesagt. Und doch könne er sich vorstellen, dass die Uefa eine Europameisterschaft notfalls auch ohne Zuschauer prüfen würde.

Diskussionsbedarf: Uefa-Präsident Aleksandar Ceferin hat noch einiges zu klären bis zur EM.
Diskussionsbedarf: Uefa-Präsident Aleksandar Ceferin hat noch einiges zu klären bis zur EM.

© Zuma/Imago

So steht derzeit alles unter Vorbehalt. Auch der Wiederbeginn des Länderspielbetriebs. Nach aktuellem Stand geht es für die Nationalmannschaft am 3. September mit dem Nations-League-Duell gegen Spanien weiter. Solle es wirklich so kommen, wäre es das erste Länderspiel nach einer Pause von neun Monaten und fünfzehn Tagen. Am 19. November 2019 hat die Nationalmannschaft ihr vorerst letztes Spiel bestritten. Um exakt 22.31 Uhr traf Julian Brandt in Frankfurt zum 6:1-Endstand gegen Nordirland.

Abgesehen von den beiden weltkriegsbedingten Unterbrechungen hat es nie zuvor in der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) eine längere Pause zwischen zwei Länderspielen gegeben. Der bisherige Rekord lag bei neun Monaten und sechs Tagen zwischen dem 2:3 gegen Österreich im Juni 1908 und dem 0:9 gegen England im März 1909.

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Joachim Löw, der sich ohnehin immer mehr der Öffentlichkeit entzogen hat, ist durch die Coronavirus-Pandemie erst recht zum Phantom geworden. Nur zu Beginn der Krise ist er bei einer Pressekonferenz des DFB aufgetreten, und selbst in den Bundesligastadien ist er derzeit nicht zu sehen. „Ich hätte mich wirklich gern mal wieder ins Auto gesetzt, um in ein Stadion zu fahren“, sagt Bierhoff. „Leider erlaubt es das medizinische Konzept nicht.“

Lange her: Julian Brandt erzielte im November 2019 gegen Nordirland das letzte Tor des DFB-Teams.
Lange her: Julian Brandt erzielte im November 2019 gegen Nordirland das letzte Tor des DFB-Teams.

© Sven Simon/Imago

So werkelt Löw derzeit im Hintergrund. „Wir haben unsere Arbeit wieder aufgenommen, so gut es eben geht“, hat er in einem DFB-Interview erzählt. Er habe mit vielen Spielern gesprochen und auch das Konzept für die Vorbereitung zur EM noch einmal überarbeitet. Die grundsätzliche Planung aber bleibt unverändert: Auch 2021 soll das Trainingslager in Seefeld stattfinden; ihr Quartier während der EM wird die Nationalmannschaft in Herzogenaurach beziehen.

Die Verletzten Süle, Reus und Sané kommen zurück

Dass er durch die Verschiebung des Turniers mehr Zeit erhält, an den Details zu feilen, dürfte Löw als überzeugtem Tüftler eigentlich gefallen. Trotzdem sagt er: „Wir hätten die Saison gerne mit dem Turnier abgeschlossen. Gedanklich waren wir vorbereitet.“ Auch Kapitän Manuel Neuer hätte die EM lieber in diesem Sommer gespielt. „Unsere junge Mannschaft braucht gerade solche Wettbewerbssituationen, um zu reifen, um widerstandsfähig zu werden, um wichtige Erfahrungen zu sammeln“, sagt er.

Andererseits kann man die Frage stellen, ob nicht gerade die junge Mannschaft von der Verschiebung profitiert, weil Spieler wie Robin Koch, Lukas Klostermann, Kai Havertz, selbst Timo Werner die wichtigen Erfahrungen nun im Ligabetrieb sammeln. Hinzu kommt, dass verletzte Spieler wie Niklas Süle oder Marco Reus in einem Jahr womöglich wieder mit voller Kraft zur Verfügung stehen und Leroy Sané nicht direkt aus der Reha kommt.

„Die Erfahrung hat gezeigt, dass vor jedem Turnier Spieler ausgefallen sind“, sagt Joachim Löw. „Als Trainer muss man flexibel sein.“ Wie sehr ihm die Verschiebung der EM letztlich geholfen haben wird, das wird man dann in einem Jahr sehen. Oder auch nicht.

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