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Panzer, „Moorleichen“ und Terminchaos: Als der Winter die Fußball-Bundesliga eiskalt erwischte
Vor 55 Jahren gibt es in ganz Deutschland mehrere Monate Eis und Schnee. Das bringt die Vereine und Spielleiter Walter Baresel in große Schwierigkeiten.
Stand:
Am 6. Januar 1970 liegt der Schnee in Berlin gut 30 Zentimeter hoch. Trotzdem soll das Messepokal-Spiel zwischen Hertha BSC und Vitoria Setubal aus Portugal einen Tag später stattfinden.
Unter anderem machen 100 Bereitschaftspolizisten das Olympiastadion spielfähig. Währenddessen verschafft sich Herthas Trainer Helmut Kronsbein mit den portugiesischen Gästen vor Ort ein Bild. Dabei rutscht er auf einer Treppe böse – aber glücklicherweise folgenlos – aus.
Das Spiel kann wirklich stattfinden. Der Rasen ist weiß, am Rand türmen sich hohe Schneehaufen, die 15.000 Zuschauer frieren, können allerdings am Ende „Oh, wie ist das schön“ singen. Hertha zieht durch das 1:0 (Hinspiel 1:1) ins Viertelfinale ein. Anschließend wird die Mannschaft lange nicht mehr im Olympiastadion zu sehen sein.
Bereits das Pokalspiel am Wochenende zuvor in Ludwigshafen gegen den FK Pirmasens war abgesagt worden. Die 4000 schon anwesenden Besucher waren sauer, Pirmasens-Geschäftsführer Ludwig Jörg war sauer: „Hier konnte ohne weiteres gespielt werden. Der Schiedsrichter weiß gar nicht, was er angerichtet hat.“
Der ebenfalls anwesende Ex-Bundestrainer Sepp Herberger lockerte die Atmosphäre mit einem Scherz etwas auf: Schiedsrichter Dieter Heckeroth habe zu einem wichtigen Kegelturnier gemusst.
Am 8. Januar ereignen sich Dinge von fußballhistorischer Dimension. Spielleiter Walter Baresel sagt alle Begegnungen des zwei Tage später geplanten 18. Bundesliga-Spieltags ab. Zum ersten und bis heute einzigen Mal fällt ein Spieltag witterungsbedingt komplett aus.
Der Winter hat das ganze Land im Griff. Acht der neun Plätze seien vereist oder vom Schnee verweht, berichtet Baresel: „So habe ich nach Rücksprache mit dem Deutschen Fußball-Bund generell abgeblasen.“ Dem „Kicker“ sagt er: „Der schwärzeste Tag bei dieser weißen Winterpracht“.
Im Stadion an der Grünwalder Straße wäre nur Eishockey möglich
Damals spielen die Vereine in weitgehend unüberdachten Stadien ohne Rasenheizung, die Winterpause wird erst viel später eingeführt. Wenn also „General Winter“ (Tagesspiegel) derart nachdrücklich in Aktion tritt, helfen auch keine kreativen Ideen wie der geplante Einsatz von Panzern der US-Armee, um das Eis zu durchbrechen (1. FC Kaiserslautern) oder Dampfluftbeheizung zum Abtauen (1860 München). In der Realität meldet 1860-Trainer Franz Binder, im Stadion an der Grünwalder Straße sei bestenfalls Eishockey denkbar.
„Ich hoffe, dass wir nach Möglichkeit den gesamten Spieltag irgendwann im März oder April nachholen können“, sagt Baresel. In dieser Zeitung ist derweil bereits jetzt von einer „Terminkatastrophe“ die Rede. Schließlich bleibt wegen der schon Ende Mai in Mexiko beginnenden WM keinerlei Spielraum nach hinten.

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Und der Winter denkt gar nicht daran, zügig die Kurve zu kratzen. Ganz im Gegenteil. „Schnee und Kälte, die in fast gleichmäßiger Intensität über diese drei Monate verteilt waren, gaben ihm ein Gepräge außergewöhnlicher Härte“, wird der Tagesspiegel Anfang März schreiben. An 89 von 90 möglichen Tagen gibt es in Berlin eine geschlossene Schneedecke, das ist beispiellos seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1892.
Eine Woche nach der Komplettabsage finden drei Bundesligaspiele statt, alle enden 0:0. Insgesamt fallen im Januar vor 55 Jahren 23 Spiele aus – Monats-Höchstwert bis in die Gegenwart. Für Hertha BSC heißt das: Keine Spiele beim MSV Duisburg sowie zu Hause gegen 1860 und Rot-Weiss Essen, lediglich bei Alemannia Aachen können die Berliner wie geplant auflaufen. Sie gewinnen 4:2.
Mich hat fast der Schlag gerührt, als ich den Platz sah.
Max Gereit, Direktor der Olympiastadion-Verwaltung, im Jahr 1970
Wie groß das Chaos ist, zeigt sich anhand des geplanten Spiels gegen Essen: „Eis im Olympiastadion dürfte Hertha-Spiel stoppen“, heißt es am Mittwoch im Tagesspiegel. „Mich hat fast der Schlag gerührt, als ich den Platz sah“, wird Max Gereit zitiert, der Direktor der Olympiastadion-Verwaltung. „Es kann gespielt werden“, teilt die Platzkommission am Freitag mit.
Am Sonnabend läuft Schiedsrichter Dieter Berner 45 Minuten über den Platz und entscheidet sich für die Absage: „Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen.“ Beide Teams tragen die Entscheidung mit, die Essener sind jedoch stocksauer, dass der Platz am Freitag als bespielbar angesehen worden war und sie überhaupt anreisen mussten.
Der Januar geht, der Winter und damit die Probleme für die Liga bleiben beziehungsweise werden noch größer. Notgedrungen mischt Baresel den Spielplan fast ohne Pause neu. „Es werden für uns harte Monate“, spricht Herthas Trainer Kronsbein aus, was für alle gilt.
Nach langer Wartezeit trägt Hertha BSC in der Bundesliga wieder ein Heimspiel aus
Sein Team kann in diesem Monat nur beim 1. FC Köln (1:5) und im Nachholspiel gegen Essen antreten (4:0), zum ersten Heimspiel in der Liga nach fast zweieinhalb Monaten. Viele rechnen mit einer erneuten Absage, doch die immerhin 25.000 Zuschauer sehen nicht nur Herthas 4:0-Erfolg, sondern auch einen schneebedeckten Rasen, auf den an einigen Stellen Torfmull gestreut worden war.
„Es war zwar kein idealer ,Musterrasen‘, auf dem dieses Bundesligaspiel stattfand, aber der Schnee eignete sich recht gut zum Fußballspielen, wenngleich er die Spieler offenbar viel Kraft kostete“, schreibt der Tagesspiegel.
Längst regt sich deutlich vernehmbarer Unmut mit Blick auf die drohenden Dauereinsätze. „Der DFB sollte die Meisterschaft abbrechen, den DFB-Pokal durchziehen und sich sonst nur auf die Weltmeisterschaft vorbereiten“, sagt Nationalspieler Willi Schulz vom Hamburger SV.
Weitere Spielausfälle können wir nicht mehr verkraften.
Spielleiter Walter Baresel im März 1970
Die Zuschauereinnahmen sind aber in den frühen Jahren der Bundesliga eine eminent wichtige Einnahmequelle. Unterdessen fordern Klubs aus unteren Tabellenregionen, auf Absteiger zu verzichten und die Liga aufzustocken.
Spielleiter Baresel betont Anfang März, dass die Liga wie geplant am 2. Mai enden solle. Aber: „Weitere Spielausfälle können wir nicht mehr verkraften.“ Erst Mitte März, am 27. Spieltag, gehen erstmals im Jahr alle neun Partien wie geplant über die Bühne. Das Problem der vielen Nachholspiele löst sich damit nicht auf. Der April am Beispiel Hertha BSC: acht Einsätze in der Liga und einer im DFB-Pokal.

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Am 8. April steht nach weiteren Absagen in dieser Zeitung: „Nun steckt man vollends in der Sackgasse … Bundesligaspielleiter Walter Baresel weiß keinen Rat mehr.“ Baresel macht sich jetzt doch für eine zeitliche Verlängerung der Saison um vier Tage stark, Bundestrainer Helmut Schön lehnt entschieden ab: „Wenn die Saison am 2. Mai nicht pünktlich beendet wird, platzt mein gesamtes Vorbereitungsprogramm für Mexiko.“
Spieler, die am Ende ihrer Kräfte sind, müssen nicht selten mit Spritzen fitgemacht werden. Plätze, die sich in einem desolaten Zustand befinden, werden bespielt. Funktionäre, bei denen sich reichlich Frust angestaut hat, lassen diesem freien Lauf. Im „Spiegel“ schimpft Essens Geschäftsführer Paul Nikelski: „Was jetzt noch in den Nahholspielen passiert, ist eine Farce.“
Manche Spiele finden unter abenteuerlichen Umständen statt
Bei Werder Bremen wird in einer Partie wegen der riesigen Personalprobleme Helmut Schimeczek eingewechselt, der fast ein Jahr lang kein Spiel mehr bestritten hatte. Der „Kicker“ bezeichnet den Zustand des Platzes bei der Partie Essen gegen den späteren Meister Borussia Mönchengladbach als „Moor, Seenplatte oder Schlammwüste.“ Weiter heißt es: „Der DFB ging über Moorleichen. Dieses Spiel hätte niemals angepfiffen werden dürfen.“
42 ausgefallene Spiele sind am Saisonende zu verzeichnen. Der Wert wird nur 1978/79 übertroffen (46), allerdings ist da nach hinten mehr Zeit, weil kein großes Turnier ansteht. 1970 kommt es trotzdem nur zu einer Mini-Verlängerung von 24 Stunden: Die Saison endet am 3. Mai, einem Sonntag. Hertha BSC feiert am 15. April den höchsten Sieg seiner Bundesligageschichte (9:1 gegen Borussia Dortmund) und belegt am Ende überraschend den dritten Platz.
Da für den DFB-Pokal nun wirklich keine Termine mehr frei waren, werden die meisten Runden erst ab Ende Juli im Schnelldurchlauf ausgetragen. Den Pokal der eigentlich längst beendeten Saison 1969/70 gewinnt Kickers Offenbach, das als Zweitligist in den Wettbewerb gestartet war und nun Erstligist ist.
Mit dabei ist der neu verpflichtete Winfried Schäfer, der als einziger Spieler in dieser Saison das Double gewinnt. Im Mai hatte Schäfer noch mit Gladbach die Meisterschaft geholt. Zwei Titel in einer – ebenso denkwürdigen wie chaotischen – Spielzeit mit zwei Vereinen, General Winter hat es möglich gemacht.
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