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Sein letzter Job: Dick Advocaat will bei der WM mit Curaçao die Deutschen ärgern
Julian Nagelsmann war noch nicht geboren, da arbeitete Dick Advocaat schon als Trainer. Für den Holländer soll die Fußball-WM in den USA nun der finale Höhepunkt seiner Karriere werden.
Stand:
Dass er auf seine alten Tage noch einmal Fan der rumänischen Fußball-Nationalmannschaft werden würde, hätte sich Dick Advocaat vermutlich auch nicht träumen lassen. Ist aber tatsächlich so.
Im Frühjahr spielen die Rumänen in den europäischen Play-offs um einen der letzten Plätze bei der Weltmeisterschaft in Nordamerika. Advocaat gönnt ihnen die Qualifikation von Herzen. Vor allem ihrem Trainer Mircea Lucescu, der in diesem Fall WM-Geschichte schreiben würde.
Mit 80 Jahren wäre er dann im kommenden Sommer der älteste Trainer jemals bei einer Endrunde. Und nicht Dick Advocaat. „Dann ginge das an mir vorbei“, sagt er. Denn anders als Lucescu weiß der Niederländer bereits, dass er beim Turnier in Mexiko, Kanada und den USA dabei sein wird – mit dann fast 79 Jahren.
Advocaat wird am 14. Juni in Houston an der Seitenlinie stehen, wenn Curaçao als bisher kleinster Teilnehmer der Turnierhistorie sein erstes WM-Spiel überhaupt bestreiten wird – gegen Deutschland, den viermaligen Weltmeister. „Wir lassen es mal auf uns zukommen“, sagt er.
Wir sind eine echt unangenehme Mannschaft und lassen zumindest wenig Tore zu.
Dick Advocaat, Nationaltrainer Curaçao
Deutschland gegen Curaçao ist in jeder Hinsicht ein Duell der Gegensätze. In Houston wird Advocaat auf Julian Nagelsmann treffen, den vermutlich jüngsten aller 48 Nationaltrainer bei der WM. Als Nagelsmann im Juli 1987 in Landsberg am Lech geboren wurde, da hatte Dick Advocaat gerade als Assistent von Bondscoach Rinus Michels bei der niederländischen Nationalmannschaft aufgehört, um fortan als Vereinstrainer zu arbeiten.
Nur knapp 155.000 Menschen – weniger als in der Stadt Heidelberg – leben auf der 444 Quadratkilometer großen Insel, die etwa 60 Kilometer nördlich vom venezolanischen Festland in der Karibik liegt. Trotzdem ist Curaçao, die Nummer 82 der Weltrangliste, in der Qualifikation unbesiegt geblieben.
Ob das seine größte Leistung als Trainer gewesen sei, ist Advocaat vor kurzem in einer Talkshow im niederländischen Fernsehen gefragt worden. „Die schwierigste“, antwortete er. Und auch die verrückteste.
Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Advocaat als Trainer. Insgesamt 28 Stationen in elf verschiedenen Ländern hat er in seinem Lebenslauf stehen, auch ein knappes halbes Jahr bei Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga.
Curaçao ist das achte Nationalteam, das er betreut, und die WM in Nordamerika die dritte, an der Advocaat teilnimmt: 1994 trainierte er Oranje, 2006, bei der WM in Deutschland, Südkorea und jetzt Curaçao.

© IMAGO/ANP/IMAGO/Training session Curacao
Als Dirk Nicolaas Advocaat, Arbeiterkind aus Den Haag und aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, bei der WM-Auslosung Anfang Dezember in Washington unter all den Größen des Weltfußballs saß, hatte er vor Rührung Tränen in den Augen. Carlo Ancelotti, Brasiliens Nationaltrainer, saß in der Reihe vor ihm, daneben der ehemalige Weltfußballer Ronaldo, den Advocaat vor mehr als 20 Jahren als jungen Burschen in Eindhoven trainiert hat.
Er hätte ihm mal eben auf die Schulter klopfen können. Aber das traute er sich nicht. „Ich bin zu bescheiden.“
Nach dem Angebot, Curaçaos Nationalteam zu übernehmen, hat Advocaat ein halbes Jahr mit sich gerungen, ehe er zusagte. „Angefangen haben wir mit sieben Spielern, von denen wir dachten: Die haben’s drauf. Den Rest mussten wir uns zusammenfischen“, hat er über sein karibisches Abenteuer erzählt, das im Januar 2024 begonnen hat.
Als Curaçao im letzten Gruppenspiel auf Jamaika noch einen Punkt benötigte, um sich für die Endrunde zu qualifizieren, standen mit Torhüter Eloy Room und dem früheren Hoffenheimer Jürgen Locadia zwei Spieler in der Startelf, die zu diesem Zeitpunkt nicht einmal einen Verein hatten. Advocaat wiederum verfolgte die Partie aus fast 8000 Kilometer Entfernung am heimischen Fernseher, weil seine Frau so schwer erkrankt war, dass er kurzfristig in die Niederlande zurückfliegen musste.
Sein Team aber trotzte sämtlichen Widerständen und sicherte sich durch ein glückliches 0:0 die WM-Teilnahme. „Wir sind eine echt unangenehme Mannschaft und lassen zumindest wenig Tore zu“, sagt Advocaat. Das Team ist gut organisiert, besitzt ein hohes Maß an Motivation und hatte den unbedingten Willen, sich diese historische Chance nicht entgehen zu lassen.
Eine historische Chance ist es auch für Dick Advocaat, der schon 1994 dabei war, als die WM-Endrunde zum ersten Mal in den USA stattfand: als achtjüngster der damals 24 Nationaltrainer, von denen bereits sechs verstorben sind. „Es war für mich eine enorme Erfahrung“, sagt Advocaat im Rückblick auf das Turnier vor 32 Jahren, bei dem ihn im Viertelfinale durch ein 2:3 gegen den späteren Weltmeister Brasilien das Aus ereilte.
Advocaat sollte für Johan Cruyff Platz machen
Eigentlich war er für den Job gar nicht vorgesehen. Nach der erfolgreichen Qualifikation mit Advocaat als Trainer sollte bei der Endrunde eigentlich Johan Cruyff als Bondscoach einspringen. Doch letztlich konnten sich der Fußballverband KNVB und der Trainer des FC Barcelona nicht auf eine Zusammenarbeit für das Turnier einigen.
Cruyff war die Lichtgestalt im niederländischen Fußball, Advocaat der Mann für die Mühen der Ebenen. „Wenn man so will, dann ist er Hollands Berti Vogts“, hat der „Kicker“ im Sonderheft zur WM 1994 über ihn geschrieben, ein „Mister Zuverlässig“, der als „guter Analytiker und absoluter Fachmann“ gelte.
Nach dem Aus der Holländer im Viertelfinale erklärte Cruyff, dass die Mannschaft mit ihm als Trainer natürlich besser abgeschnitten hätte.
Plötzlich erfährt er die Zuneigung seiner Landsleute
Insgesamt dreimal hat Advocaat die Elftal trainiert: zum ersten Mal Anfang der Neunziger, dann zwischen 2002 und 2004, als er bei der EM in Portugal immerhin das Halbfinale erreichte und trotzdem wegen des wenig wagemutigen Fußballs seiner Mannschaft massiv in der Kritik stand. Und noch einmal 2017, als er in der Qualifikation zur WM 2018 retten sollte, was schon nicht mehr zu retten war.
Wenn Advocaat in diesen Tagen und Wochen in seiner Heimat in Talkshows zu Gast ist, dann johlen und klatschen die Leute und bringen ihm eine Zuneigung entgegen, die ihm früher zumeist verwehrt geblieben ist.
Inzwischen weiß das Land zumindest seinen Durchhaltewillen zu schätzen und sein offenbar unermüdliches Arbeitsethos. Der Erfolg mit Curaçaos Nationalteam ist aber auch einfach eine gute Geschichte, so etwas wie die niederländische Version von „Der große Bellheim“.
Advocaats Stab besteht aus dem Teamarzt Casper van Eijck, 68, seinem Co-Trainer Cor Pot, 74, und Pressechef Kees Jansma, 78, der bei der WM 1994 noch fürs niederländische Fernsehen gearbeitet und Advocaat nach dem Aus im Viertelfinale gegen Brasilien interviewt hat.
„Ich bin froh, wenn ich morgens aufwache und gesund bin“, hat Curaçaos Nationaltrainer vor kurzem im Interview mit der Zeitung „NRC“ erzählt. „Bei allem, was ich tu, denk ich: Wie lange noch?“
Einmal auf jeden Fall noch. Das Turnier im nächsten Sommer soll für den unermüdlichen Advocaat der finale Höhepunkt seiner Karriere werden. „Das wird echt der letzte Job“, hat er kurz nach der WM-Auslosung in einer Talkshow gesagt. Dann hat er angefangen zu lachen. Dick Advocaat hat das so oder so ähnlich einfach schon zu oft gesagt.
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