
© dpa/Christoph Soeder
Zum Ende der EM in Deutschland: Mit Applaus und Beigeschmack im Abgang
Die EM 2024 ist gewiss kein „Sommermärchen 2.0“ gewesen, aber auch kein Albtraum, eher so ein Kabinett der Kuriositäten. Und eine Ode an die echte Fanliebe. Eine Betrachtung zum Ende des Turniers.
Stand:
Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, aber erst als in Berlin ein überdimensionales Fußballtor aufgestellt und die Straße des 17. Juni mit 24.000 Quadratmeter Kunstrasen ausgelegt wurde, meldete sich mein Erinnerungsvermögen zaghaft zurück: „Europameisterschaft, stimmt, da war ja was …”
Tatsächlich schien es vielen ähnlich zu gehen, denn nicht wenige realisierten erst kurz vor Beginn der eigenen Heim-EM, dass die nächste große Fußballparty steigen sollte. Als habe die Pandemie uns in einen tiefen Dornröschenschlaf versetzt, aus dem wir alle ganz kurz aufschreckten, als wir träumten, die WM 2022 habe in Katar stattgefunden.
So richtig wach wurden wir alle erst, als der selbsternannte „Balkon-Ultra“ mit einem musikalischen Plädoyer für die Entkriminalisierung von Pyrotechnik die sozialen Medien wach rüttelte und der Begriff „Sommermärchen 2.0“ in allen prominenten Sport- und Nachrichtensendungen Hochkonjunktur hatte und den Erfolg von 2006 künstlich reproduzieren wollte: Deutschland sollte im eigenen Land Europameister werden.
Zunächst mussten wir aber feststellen, dass einige Menschen in diesem Land wieder im Jahre 1933 zu leben scheinen, was wenige Wochen zuvor aus einer verkorksten Europawahl hervorging und jegliche Vorfreude auf die nächste große Fussballparty zu dämpfen schien.
Die Frage schien ganz Deutschland in drei Lager zu teilen: Da waren die einen, die jegliche Form von Patriotismus zu jedem Zeitpunkt total beschämend finden, die, die ihre Seele für ein kostenloses Check-24-Trikot verkauften, und die ganz anderen, die endlich wieder in ihrem Nationalstolz aufgehen durften.
Ein bisschen zu viel sollte man meinen, denn als Julian Nagelsmann seinen Kader für die EM vorstellte, rollte eine Welle der Empörung durch das Internet: Der Kader sähe nicht „deutsch“ genug aus und selbst die AfD verkündete schnell, dass diese Nationalmannschaft keinesfalls ihrer Vorstellung einer Nationalmannschaft entsprechen würde.
Wer, wie ich, mit einem erhöhten Gerechtigkeitsbewusstsein gesegnet ist, für den sollte die EM 2024 zum emotionalen Endgegner werden, denn dass Mannschaften ohne eigene Tore das Halbfinale erreichten, ergab für mich genauso wenig Sinn wie vieles andere.
Jessy James LaFleur
Parallel dazu erklärte in Frankreich Präsident Emmanuel Macron dem „Rassemblement National“ mit einer Neuwahl den Krieg, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ging auf Kuschelkurs mit Russland und China und in Belgien wurden die Sozialdemokraten von flämischen Rechtspopulisten in die Opposition verfrachtet.
Das „Sommermärchen 2.0“ schien, zumindest aus politischer Sicht, unter einem ganz schlechten Stern zu stehen, und ich frage mich immer noch, welcher Spaßvogel die grandiose Idee hatte, eine Europawahl so kurz vor der EM anzusetzen.
Es muss ein Katarer gewesen sein. Machen wir uns nichts vor, die WM 2022 ist leider doch kein Albtraum, sondern Realität gewesen, und egal wie sehr wir sie auch verdrängen, niemand von uns hätte vermutet (bzw. befürchtet), dass eine WM (oder eine EM) jemals wieder so politisch hätte werden können.
Deprimierendste Eröffnungsfeier aller Zeiten
Gab es nicht mal Zeiten, in denen sich die Vorbereitung auf so ein Turnier leichter angefühlt hatte? Als die größten Sorgen die Anschaffung von ausreichend Grillgut, Bier und das Wetter gewesen waren? Doch selbst Petrus ließ uns dieses Jahr allumfassend im Stich, Stadiondächer konnten die Wassermassen kaum aufhalten und als traurige Krönung beschenkte man uns mit der deprimierendsten Eröffnungsfeier aller Zeiten.
Es hätte auch eine Dauerwerbesendung für eine bekannte Discounterkette sein können, denn an nichts anderes erinnerten die rot-gelb-blauen Farbtöne, und die heiß erwartete „Pyroshow“, die die Uefa ganz groß angekündigt hatte, stellte sich letztendlich als ein billiges Tischfeuerwerk heraus, das genauso schnell erlosch, wie die Freude am Vorrundenmodus.
Wir haben gelernt, dass Fußballer nach verschossenen Elfmetern bitterlich weinen dürfen und dass ein pinkfarbenes Trikot seinem Träger die Männlichkeit nicht aberkennt.
Jessy James LaFleur
Wer wie ich mit einem erhöhten Gerechtigkeitsbewusstsein gesegnet ist, für den sollte die EM 2024 zum emotionalen Endgegner werden, denn dass Mannschaften ohne eigene Tore das Halbfinale erreichten, ergab für mich genauso wenig Sinn wie vieles andere: Ein Neuzugang namens E. Igentor konnte sich innerhalb weniger Tage als Torschützenkönig durchsetzen, der VAR ruinierte die Tradition des Tourjubels, indem er uns stattdessen das Bangen lehrte, und der große Zeh wurde in puncto Abseits zum relevantesten Körperteil aller Zeiten.
Wir erlebten, dass sich Handspiele mit einem im Ball integrierten Chip messen lassen, aber ein ganz offensichtlicher Handelfmeter wegen eines „komplizierten Regelwerkes“ nicht gegeben werden konnte. Wir erlebten, wie Menschen für ein Selfie mit Cristiano Ronaldo jeden Zaun, jede Mauer und jede Geldstrafe ignorierten, dass die Uefa ihren Zuschauern hunderte Flitzer vorenthielt, und die Franzosen lernten einen Ort namens Paderborn kennen, aber nicht lieben.
Wir haben gelernt, dass Fußballer nach verschossenen Elfmetern bitterlich weinen dürfen und dass ein pinkfarbenes Trikot seinem Träger die Männlichkeit nicht aberkennt. Dass schottische Fans die besten der Welt sein müssen und niemand so hart feiern kann wie die Anhänger der niederländischen Mannschaft, die uns vortanzten, wozu politische Systeme seit Jahrhunderten tendieren: Sie rutschen naar links und dann wieder naar rechts.
Wir haben in den Stadien ganz offenen Nationalismus gesehen, Hassgesänge gehört, ausgepfiffene Nationalhymnen und die Diskussion, ob ein Griff in den Schritt nicht genauso hart geahndet werden sollte, wie ein Symbol für türkischen Nationalismus. Ich habe gefühlt, wie ein politischer Konflikt bis in die Kabine der „Roten Teufel“ vordringen konnte und gar nicht so unschuldig am Ausscheiden meiner hochkarätigen Belgier gewesen sein soll.
Wie kam England eigentlich ins Finale?
So wird sich die EM 2024 mit einer Mischung aus wohlwollendem Applaus und einem bitteren Beigeschmack in die Geschichtsbücher verabschieden und mit der ganz großen Frage, wie es Southgate und die englische Fußballnationalmannschaft ins Finale schaffen konnten.
Vielleicht steht sie auch symbolisch dort, weil sich im United Kingdom vor wenigen Wochen nach vielen traurigen Herrschaftsjahren der konservativen „Tories“ endlich wieder die „Liberals“ durchsetzen konnten. Vielleicht, weil Briten inzwischen verstanden haben, wie dumm es ist, sich gegen Europa zu entscheiden, wäre doch schön, wenn wir das genauso sehen könnten.
Die EM 2024 ist gewiss kein „Sommermärchen 2.0“ gewesen, aber auch kein Albtraum, eher so ein „Kabinett der Kuriositäten“ und eine Ode an die echte Fanliebe.
Wir haben gesehen, wie faszinierend Fanaufmärche sind, wie euphorisch man Mannschaften wie Georgien und Schottland feiern kann, das Pyrotechnik wirklich kein Verbrechen sein sollte, Influencer nicht ins Stadion gehören, wie viel uns dieser wunderbare Sport bedeutet und dass England aus dem Nichts das Elfmeterschießen gelernt hat.
Wir haben gesehen, dass die Deutschen mehr eint, als sie trennt, und wenn es nur die Hoffnung ist, dass im Finale keine der beiden Mannschaften gewinnt, sondern immer noch die deutsche Nationalmannschaft, die nach vielen dunklen Jahren endlich wieder zu Glanz und Größe gefunden hat.
Die Mehrheit wird den Spaniern den Sieg gönnen, denn letztendlich ist die „Furia Roja“ mit echten eigenen Toren und einem äußerst attraktiven Fußball ins Finale eingezogen. Ich dagegen werde mein Englandtrikot anziehen und die „Three Lions“ anfeuern, weil es für diese äußerst seltsame, verregnete und von Fehlentscheidungen geprägte EM keinen würdigeren Titelträger geben könnte.
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