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Die Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz.

© dpa

4. November 1989: Aufstand auf dem Berliner Alexanderplatz

Lasst uns auf die Straße gehen! Nie hat Jutta Wachowiak so viel Beifall erhalten wie für diesen Satz im Deutschen Theater in Berlin. Dem Aufruf folgten Hunderttausende zum Alexanderplatz.

Schon im Fronttransparent materialisierte sich ein kleiner Sieg. Gute zehn Meter breit, schwarze Druckbuchstaben auf rotem Hintergrund. Bloß ein Wort stand darauf: „Protestdemonstration“. Beim Vorbereitungstreffen, sagt Jutta Wachowiak, habe es Kraft gekostet, sich auf diesen Begriff zu einigen, oder besser: den durchzukämpfen. Da seien Menschen gewesen, vermutlich von der Stasi eingeschleust, die wollten das verhindern. Die wollten nur „Demonstration“. Ohne Protest.

Extrem still war es dann, als sich der Zug samstagmorgens in Bewegung setzte. Keine Sprechchöre. Keine Gesänge. Nur Schilder und Transparente. Ein Blinder hätte nicht erahnen können, welche Menschenmassen sich da am 4. November über die Karl-Liebknecht-Straße Richtung Volkskammer schoben. 500 000 Teilnehmer, heißt es später. Andere sagen: 750 000. Oder gar eine Million. Ganz sicher war es die erste von Bürgern organisierte Großdemonstration in der Geschichte der DDR. Jedenfalls die erste, die je angemeldet und genehmigt worden war. Plus eine, derer man sich erinnern sollte, will man verstehen, was sich fünf Tage später ereignete.

„Für die Durchsetzung der Artikel 27 und 28 der Verfassung“, so hatten sie im Antrag ihr Anliegen formuliert. Also für Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Nicht konfrontativ ausgedrückt, sondern konstruktiv, sagt Jutta Wachowiak. „Kein schlechter Trick, oder?“

Die Frau, die ihn ermöglichte, sitzt jetzt, 25 Jahre später, in einem Café in der Chausseestraße in Berlin-Mitte. 73 ist sie mittlerweile, die weißen Haare des Ponys hat sie sich mit einem kleinen Kamm nach hinten gesteckt. Ihre Hände zupfen an den Rändern mehrerer Bögen Papier auf dem Tisch. Die gehören eigentlich gar nicht ihr. Da stehen die Fragen drauf, die Wachowiak heute beantworten soll.

Jahrzehntelang hat Jutta Wachowiak am Deutschen Theater gespielt, Tschechow, Shakespeare, Gorki, Goethe. Sie drehte auch Filme, war seit 1983 Mitglied in der Akademie der Künste der DDR, gehörte zur Ost-Berliner Theaterprominenz. In all der Zeit, sagt sie, habe sie niemals auch nur annähernd so viel Beifall erhalten wie am 15. Oktober 1989 im großen Saal des Deutschen Theaters, als sie ihren Vorschlag machte. Lasst uns zusammen auf die Straße gehen, am Samstag in drei Wochen. Sie hat das nicht zum Publikum gesagt, sondern zu Theatermachern aus dem ganzen Land. 800 waren gekommen, um über die Eskalationen der Vorwochen zu diskutieren, die Demonstrationen, die Polizeigewalt. Einige mussten draußen in den Gängen stehen, Lautsprecher übertrugen die Reden. Auch der Rechtsanwalt Gregor Gysi saß in den Reihen. Er wandte ein, dass es, sofern er sich nicht irre, eine Genehmigungsfrist von vier Wochen gebe. Könnte knapp werden.

Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen, Frau Wachowiak?

„War gar nicht meine“, sagt sie. Es gab einen Zettel, der wurde ihr gereicht, von der Zahnärztin Jutta Seidel, die wohnte wie sie in der Sophienstraße, sie waren befreundet. Wachowiak wurde gebeten, den Inhalt dieses Zettels auf dem Theatertreffen vorzutragen. Hat sie gemacht. Weil ich es für richtig hielt, sagt Wachowiak. Weil es doch einer machen musste. 

Egon Krenz wollte eigene Redner auf der Demo durchsetzen

Schon seit dem Sommer hatte sie Unterschriften fürs Neue Forum gesammelt, unter Kollegen am Theater, bei den Nachbarn in der Sophienstraße. Auch der Impuls zur Theaterdemo kam von den Bürgerrechtlern. Hintergedanke war, dass der Protest auf eine breitere Basis gestellt werden müsse. Dass jetzt auch mal die Kulturschaffenden dran seien. Auf der Abschlusskundgebung sollten Theaterleute und Autoren sprechen. Je näher der Tag kam, desto deutlicher zeichnete sich ab, dass der Staat versuchte, auch eigene Vertreter ans Mikro zu bekommen.

Wäre kein Problem gewesen, sagt Wachowiak heute. Wenn die Sache mit Walter Janka nicht gewesen wäre. Ehemaliger Leiter des Aufbau-Verlags, dann verurteilter Konterrevolutionär, Häftling in Hohenschönhausen, Lichtenberg und Bautzen, 1960 entlassen. Die Theaterleute hatten ihn eingeladen – aber er weigerte sich, als er hörte, dass auch Markus Wolf, erst drei Jahre zuvor als Chef des Stasi-Auslandsnachrichtendienstes abgetreten, nun als vermeintlich kritischer Schriftsteller unterwegs, Rederecht bekäme. Der oder ich, ließ Janka ausrichten.

Wieder sollte Jutta Wachowiak ran. Sieh mal, der Markus Wolf ist da, hat eine Kollegin im Deutschen Theater sie angesprochen. „Der sitzt in der Kantine. Kannst du den überreden, am 4. November nicht zu sprechen?“

Wachowiak ist tatsächlich rübergegangen zu der Bank, an der Markus Wolf saß. Und hat ihm erklärt, dass sie so gern Janka auf der Bühne hätten, dass der aber nicht käme, solange er, Wolf, auf der Rednerliste stehe. „Könnten Sie sich überwinden, nicht zu sprechen, Herr Wolf?“

Markus Wolf hat sich das ganz ruhig angehört. Und dann „Nein“ gesagt. Da ist Wachowiak wieder gegangen.

Sie habe es getan, weil sie es für das Richtige hielt, erklärt sie jetzt. Aber zugegeben, vielleicht war das naiv. Dann muss sie lachen ... Waren Sie betrunken, Frau Wachowiak?

„Nein“, sagt sie. Oder, na gut. Vielleicht seien sie alle damals besoffen gewesen in diesen Tagen, auf eine nichtalkoholische Weise.

Die KPdSU fürchtete, dass die Demonstranten zur Mauer wollten

Jutta Wachowiak heute.
Jutta Wachowiak heute.

© Fabian Schellhorn

Schiebt man Jutta Wachowiak heute in dem Café ein Foto zu, das sie 1989 auf der Demo zeigt, in der ersten Reihe hinter dem Fronttransparent, dann schaut sie hin und schweigt eine Weile.

„Ja, das bin wohl ich.“ Dieses Grinsen. Die Zigarette in der Hand. Sehr gelassen sieht sie aus. Bloß eine trügerische Momentaufnahme, Schnappschuss ohne Aussagekraft? „Von wegen, es war ganz genau diese Stimmung, so habe ich mich gefühlt. Das war diese Gewissheit um ... um unsere Überlegenheit.“ Allein schon, weil die Gegenseite Angst hatte. Zum Beispiel davor, dass die Demonstranten hinter der Volkskammer nicht wie vereinbart links abbiegen, sondern geradeaus weiterlaufen und dann einen Mauerdurchbruch wagen könnten. „Die fürchteten etwas, das keiner von uns überhaupt geplant hatte. Wir dachten: Die sind ja noch bekloppter als wir!“ Später wird herauskommen, dass am Vorabend der Demo sogar die KPdSU in Moskau darüber beriet, wie wahrscheinlich ein Mauerdurchbruch sei und ob man den verhindern solle oder müsse.

Sie sind hinter der Volkskammer links abgebogen. Und dann noch mal links. Und später erneut links. Wachowiak grinst wieder. „Wie hätten wir uns denn noch artiger verhalten können, als immer nur links langzugehen?“

Auf den Transparenten standen Forderungen, die über das offizielle Anliegen der Demo weit hinausgingen. „Freie Wahlen jetzt“ zum Beispiel. Teilnehmer spannten es an die Mauer des Staatsratsgebäudes, kein Volkspolizist schritt ein. Anderswo waren Wortspiele zu lesen, besonders viele richteten sich gegen den Staatsratsvorsitzenden, der Mitte Oktober Erich Honecker abgelöst hatte: „Wir lassen uns nicht auskrenzen“, „Reformen, aber unbekrenzt“, „Blumen statt Krenze“. Die Tagesschau wird berichten, es habe auffällig viele „originelle Slogans“ gegeben. Die Abschlusskundgebung fand vorm Haus des Reisens am Alexanderplatz statt. Auf einem Lastwagen hatten sie sich eine Bühne aus Holzlatten zusammengezimmert. Wer obendrauf am Mikrofon stand, konnte das Menschenmeer überblicken. Wobei die meisten Redner kaum in die Ferne schauten, sondern auf ihre Zettel, etliche Hände zitterten. Auch ein Kamerateam war da, das DDR-Fernsehen übertrug live. Wie sich später herausstellte, hatten Mitarbeiter der Redaktion die Entscheidung ohne Absprache mit Vorgesetzten getroffen. Es redeten: die Schauspieler Ulrich Mühe, Johanna Schall und Jan Josef Liefers, die Schriftsteller Stefan Heym und Christa Wolf, Marianne Birthler für die Initiative Frieden und Menschenrechte, Jens Reich fürs Neue Forum. Gregor Gysi forderte, jeder Haushalt solle künftig ein eigenes Telefon besitzen. Schon da brandete Applaus auf, obwohl Gysis Gedanke noch weiterging: „Und die Bemerkung ,Das möchte ich dir lieber nicht am Telefon sagen‘ soll für immer der Geschichte angehören.“

Markus Wolf verteidigte Stasi-Mitarbeiter

Laut wurde es, als Markus Wolf sagte, er wolle nicht, dass viele Stasi-Mitarbeiter, die er „aus langen Jahren kenne, nun zu Prügelknaben der Nation gemacht werden“. Kein Vergleich aber zu der Welle von Buhrufen und Pfiffen, die Günter Schabowski erntete. Der Mann, der fünf Tage später versehentlich die Mauer öffnen sollte. Rechte Hand in der Hosentasche vergraben, den Oberkörper in Kampfeshaltung nach vorn gebeugt, Mimik irgendwo zwischen grimmig und entschlossen. Er sprach von anstehenden Reformen und Aktionsprogrammen und Vertrauen, dass die SED zurückerobern wolle. Er musste gegen die Menge anbrüllen, sechs Minuten lang.

Jutta Wachowiak hat nicht mitgebuht, sagt sie, aber gefreut habe sie das schon. Sie stand vor dem Lautsprecherwagen in der Menge, musste den Kopf in den Nacken legen, um die Redner sehen zu können. Wer hörte, wie sehr die Regimetreuen abgelehnt wurden, der wusste, dass die Mauer bald fallen würde, sagt Wachowiak heute.

An dem Nachmittag im November, nachdem der letzte gesprochen hatte, sind sie zu ihr nach Hause in die Sophienstraße 21a gegangen, Jan Josef Liefers und sie. Seine Frau und das Baby warteten in ihrer Wohnung unterm Dach, mit Blick auf die Sophienkirche, also setzten sie sich dazu in die Küche und versuchten zu beschreiben, was da vorgefallen war. „Jan Josef hat noch ziemlich gezittert, der hatte sich ein bisschen übernommen.“ Aber selig fühlten sie sich.

Jutta Wachowiak auf der Demo.
Jutta Wachowiak auf der Demo.

© Drescher/Ullstein

In den Monaten danach hat sie in der Kommission mitgearbeitet, die Polizeigewalt bei Demonstrationen 1989 dokumentieren sollte. Sie war wieder gebeten worden, und vielleicht hätte sie da mal lieber nicht zusagt, das ging an die Substanz, sagt sie. Kein einziger Täter habe Reue gezeigt. Wachowiak hat auch weiter Theater gespielt, bis 2005 in der Schumannstraße, danach in Essen. Sie ärgerte sich über die Arroganz etlicher Westkollegen, die ihr vorwarfen, zu unemotional, zu „handwerklich“ zu arbeiten. „Die waren überzeugt, dass eine qualifizierte, brauchbare Kunst in einem Land wie der DDR gar nicht entstehen konnte.“ Das tat weh, da waren viele Kränkungen bei. „Sind aber alle verarbeitet“, sagt sie.

Wenn sie in diesen Tagen an einer der zig Jubiläumsveranstaltungen teilnimmt, zu denen sie geladen ist, wirkt sie aufgeräumt. Selbst wenn jemand sie verärgert. Zum Beispiel vergangenen Sonntagvormittag im Deutschen Theater, Thema der Diskussionsrunde: „Die größte Protestdemo der DDR“. Die Teilnehmerzahlen, die im Raum stehen, sind zu hoch gegriffen, sagt da der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.  Seine Rechnung geht so: Wenn man davon ausgehe, dass am Alexanderplatz und in den benachbarten Straßen 50 000 Quadratmeter Fläche für den Protest bereitstanden, und wenn man annehme, dass sich jeweils vier Demonstranten auf einem Quadratmeter quetschten, dann sei eine Zahl von 200 000 Teilnehmern realistischer. Als Historiker möchte er die Regel beweisen, dass Revolutionen immer eine Sache von Minderheiten sind. Dass die Zahl der Aufmüpfigen sogar kurz vor dem Ende der DDR noch sehr überschaubar war. 

Das will Wachowiak so nicht stehen lassen. Sie meldet sich, wie eine Schülerin, streckt einen Zeigefinger hoch, dann beide, damit der Moderator registriert, dass hier dringend was richtiggestellt gehört. Es sei ihr doch egal, wie über Zahlen spekuliert werde, sagt sie. Wichtiger sei, was Stefan Heym bei seiner Rede auf dem provisorischen Holzpodest sagte: dass sich nun ein Fenster geöffnet habe, und dass die Bürger endlich anfangen konnten, aufrecht zu gehen. Genau dieses Gefühl habe sie ergriffen, Hunderttausende hin oder her. Und das wolle sie sich auch von niemandem mehr nehmen lassen.

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