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Fassungslos. Nach der Attacke kommen Gemeindemitglieder zum Notre Dame von Nizza. Viele kannten den getöteten Küster persönlich.

© Valery Hache/dpa

Frankreich, die versehrte Nation: Wie islamistischen Terror bekämpfen, ohne dabei das Land zu spalten?

Das Attentat von Nizza reißt Wunden auf in einem ohnehin schwer verunsicherten Land. Rechtspopulisten nutzen es zur Stimmungsmache.

Neutralisiert. So heißt das in der Polizeisprache, wenn ein Attentäter unter Kontrolle gebracht wurde. Eine Sprache, die nicht dafür geschaffen ist, zu beschreiben, was in Frankreich an diesem Donnerstag vor sich gegangen ist, immer wieder vor sich geht, seit Jahren.

In Nizza hat die Polizei den Attentäter angeschossen. Neutralisiert ist damit gar nichts. Die Welle der Gewalt und des Hasses, die Frankreich erfasst, ist ungebrochen und ihre Ausläufer sind bis nach Deutschland zu spüren.

Es ist 9 Uhr morgens am Donnerstag vor dem Notre Dame von Nizza. Vor den Toren der ältesten römisch-katholischen Kirche der Stadt, das zeigen Fotos, lehnt ein blaues Fahrrad am Geländer, das später niemand mehr abholen wird, weil im Inneren die Hölle losbricht und draußen die höchste Terrorwarnstufe für ein ganzes Land ausgerufen wird.

Kurz nach Beginn der Messe, so berichtet die Polizei, beginnt das Massaker. Der Täter geht auf die Gläubigen los, drei Menschen sterben, mindestens sechs weitere werden verletzt. Den Küster und eine Frau tötet er in der Kirche. Eine weitere Frau verletzt der Täter mit einem Messer schwer, sie kann in eine Bar auf der anderen Straßenseite flüchten, wo sie ihren Verletzungen erliegt.

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Während der Tat soll der Mann „Allahu akbar“ gerufen haben. Er soll, so sagt es Nizzas Bürgermeister Christian Estrosi, weiter „Allahu akbar“ gerufen haben, als die Polizei ihn schon niedergeschossen hatte. Und er habe auch dann nicht aufgehört, als die Sanitäter bereits begonnen hatten, ihn zu sedieren. Später werden Ermittler sagen, bei dem Mann handle es sich um einen Flüchtling aus Tunesien, der über Lampedusa nach Europa kam und seit Oktober in Frankreich lebte.

Alte Wunden, noch nicht vernarbt

Das Attentat von Nizza reißt Wunden auf in einem von der Pandemie ohnehin schwer verunsicherten Land. Alte Wunden und solche, die so frisch sind, dass sie nicht einmal Zeit hatten zu vernarben.

Erst vor knapp zwei Wochen wurde der Geschichtslehrer Samuel Paty in einem Pariser Vorort auf der Straße von einem 18-jährigen Islamisten enthauptet. Sein angebliches Vergehen: Er hatte die Mohammed-Karikaturen des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Unterricht gezeigt, um über Meinungsfreiheit zu diskutieren.

Viel spricht dafür, dass der Mordanschlag von Nizza eine Nachahmertat ist. Die wiederum weitere Nachahmer motivierte, ebenfalls zuzuschlagen. Im Zentrum von Lyon wird ein mit einem Messer bewaffneter Mann festgenommen. In Dschidda in Saudi-Arabien wird ein Wachmann vor dem französischen Konsulat mit einem Messer angegriffen.

Am gleichen Tag attackiert ein Attentäter Passanten in der südfranzösischen Stadt Avignon. Anders als zuvor berichtet könnte es sich dabei um einen rechtsextremen Täter handeln. Wie mehrere Medien übereinstimmend berichten, trug er eine Jacke der Identitären. Er wird von der Polizei erschossen.

Vor der komplett abgesperrten Basilika in Nizza versammeln sich derweil Bürger und Gemeindemitglieder, weinen vor den Kameras der Fernsehteams. Nicht einmal einen Kilometer entfernt von dem Ort, an dem 2016 ein Attentäter am Nationalfeiertag einen Lkw in die Menschenmenge steuerte und 86 Menschen tötete, viele weitere verletzte.

Die Tat im Notre Dame erinnert in ihrer Grausamkeit zudem an einen Angriff in einer Kirche in Saint-Etienne-du-Rouvray in der Normandie im Juli 2016, mit dem sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“ brüstete. Damals schnitt ein Attentäter dem 80-jährigen Geistlichen Jacques Hamel im Gotteshaus die Kehle durch.

Die Aufrufe klingen hohl

François Hollande war seinerzeit noch Staatspräsident. Damals forderten Politiker, Frankreich dürfe sich von den Fundamentalisten nicht in einen Bürgerkrieg hineinziehen lassen. Ähnliche Aufrufe sind auch jetzt wieder zu hören. Doch sie klingen hohl.

Denn die Antwort auf die wichtigste Frage blieb bisher von allen politisch Verantwortlichen unbeantwortet: Wie kann das Land den Kampf gegen den Islamismus gewinnen, ohne sich dabei selbst zu spalten? Wie die Nation – Muslime und Nicht-Muslime – zusammenhalten?

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Eine Frage, die sich noch nach jedem Anschlag gestellt hat, bei dem Dschihadisten die Täter waren. In den vergangenen fünf Jahren starben bei islamistischen Anschlägen in Frankreich mehr als 200 Menschen. „Charlie Hebdo“, Bataclan, Nizza. Chiffren für einen Bürgerkrieg, den alle vermeiden wollen. Der vielleicht längst im Gange ist.

Patrouillierende Soldaten gehören zum Straßenbild

Das Land hat gelernt, mit der permanenten Terrorbedrohung umzugehen. Patrouillierende Soldaten gehören in den Innenstädten inzwischen zum Straßenbild. Allerdings sagte David-Olivier Reverdy von der Polizeigewerkschaft „Alliance Police nationale“ am Donnerstag in einem Interview mit dem Fernsehsender BFM-TV auch, dass es kaum möglich sei, permanent Polizisten vor sämtlichen Kirchen Frankreichs zu postieren.

Präsident Emmanuel Macron, der sich am Donnerstag in Nizza vor Ort einen Eindruck verschaffte, steht nun vor der unmöglichen Aufgabe, den richtigen Ton zu treffen. Beim Staatsakt für den enthaupteten Lehrer Samuel Paty hatte er dafür plädiert, die Meinungsfreiheit hochzuhalten und auch künftig religionskritische Karikaturen zu zeigen. Ein Standpunkt, eine Botschaft auch an sein Land, hinter die er angesichts des neuen Anschlags nicht zurückfallen kann und wohl auch nicht will. Gleichzeitig dürfte er bemüht sein, kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen.

Tatort. Präsident Macron besucht das Notre Dame in Nizza.
Tatort. Präsident Macron besucht das Notre Dame in Nizza.

© dpa

Am Donnerstag kündet Macron als erste Maßnahme an, den Schutz für Kirchen und Schulen zu verstärken. Der schon laufende inländische Anti-Terror- Einsatz des Militärs solle von 3000 auf 7000 Soldaten aufgestockt werden.

Politisch ist der Druck längst extrem hoch. Derzeit läuft in Paris der Prozess gegen die mutmaßlichen Unterstützer der Attentäter von „Charlie Hebdo“. Und der Karikaturenstreit hatte sich am vergangenen Wochenende zur diplomatischen Krise zwischen Paris und Ankara ausgewachsen. Paris hatte den Botschafter zurückgerufen, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gehöhnt hatte, Macron solle sich auf seinen Geisteszustand hin untersuchen lassen.

Der Streit von Macron und Erdogan hat Folgen

In muslimisch geprägten Ländern überall auf der Welt gab es anschließend Boykottaufrufe gegen französische Produkte. Daraufhin hieß es im Elysée-Palast, dem Amtssitz Macrons, dass eine weitere Zuspitzung des Streits vermieden werden müsse.

In Deutschland blicken die Sicherheitsbehörden bereits mit Sorge auf den Streit zwischen Macron und Erdogan. Einige halten den türkischen Staatschef für mitverantwortlich. Der heize mit seiner Hetze gegen Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nicht nur junge, emotionalisierte Türken weiter auf, sondern junge Muslime generell, heißt es. „Erdogan läuft mit dem Feuerzeug über die Tankstelle“, hatte vor wenigen Tagen ein hochrangiger Sicherheitsexperte dem Tagesspiegel gesagt. Die Hemmschwelle für Angriffe werde „durch Erdogans Sprüche heruntergedreht“.

Der Bürgermeister sagt: "Genug ist genug"

In Frankreich fordern nun vor allem Vertreter der rechten Seite des politischen Spektrums einen härteren Kurs im Kampf gegen den Islamismus. Dabei hatte der Staatschef mit der Berufung seines neuen Innenministers Gérald Darmanin, eines Vertrauten des früheren Staatschefs Nicolas Sarkozy, im vergangenen Juli ohnehin schon einen Rechtsschwenk markiert.

Doch das hinderte am Donnerstag Christian Estrosi, den Bürgermeister von Nizza, nicht, zu erklären: „Genug ist genug.“ Nach den Worten des konservativen Politikers von der Partei „Les Républicains“ sei der Zeitpunkt gekommen, „um den Islam-Faschismus auf unserem Territorium auszulöschen“.

Polizisten sichern die Umgebung der Kirche.
Polizisten sichern die Umgebung der Kirche.

© Reuters

Zu ähnlich kriegerischen Worten griff auch die Vorsitzende des rechtsextremen „Rassemblement National“, Marine Le Pen. Zum ersten Mal seit der Besatzung durch die Nazis sei Frankreich kein freies Land mehr, sagte sie. „Unser Land ist im Krieg, wir sind im Krieg.“

Die islamistische Gewalt wird, davon sind deutsche Sicherheitsbehörden überzeugt, nun auch in Deutschland wieder zu einer großen Bedrohung: „Auch wenn es eine Zeit lang in Deutschland ruhig war, blieb die islamistische Terrorgefahr immer hoch“, sagt ein Experte. Das habe sich gerade auch beim Attentat in Dresden gezeigt. Dort hatte am 4. Oktober der Syrer Abdullah Al H. H. einen Touristen erstochen und einen weiteren verletzt.

Schweigeminute am Pariser Platz

619 Islamisten stuft die Polizei hierzulande als potenzielle Terroristen ein. Weitere 500 Islamisten gelten als „relevante Personen“, also potenzielle Unterstützer von Gewalttätern. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht sogar von 2000 gefährlichen Personen aus. Der Nachrichtendienst kommt auf eine höhere Zahl als die Polizei, weil er nicht nur Straftäter im Blick hat, sondern Personen in einem extremistischen Spektrum insgesamt.

Auch in Deutschland nutzen Rechtspopulisten den Anschlag in Frankreich, um gegen Muslime und Einwanderer generell Stimmung zu machen. Und wie in Frankreich hat die Politik keine Antwort auf die Frage gefunden, wie beides zusammengeht: die Gefahr zu bekämpfen und das Land darüber nicht zu spalten. Erst kürzlich hatte der SPD-Vize Kevin Kühnert in einem Gastbeitrag gefordert, die Antwort darauf nicht den Rechtsextremisten zu überlassen. Auf dem Pariser Platz wurde am Donnerstagabend zu einer spontanen Schweigeminute aufgerufen.

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