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Der Brandversuch im sächsischen Schmiedeberg.

© Arno Burgi/dpa

In Polizeizelle verbrannt: Warum sich Oury Jalloh nicht selbst angezündet haben kann

Vor 16 Jahren starb Oury Jalloh. Nichts spricht dafür, dass die offizielle Version seines Todes stimmt. Über einen Skandal, der andauert.

An diesem Donnerstag wird Mouctar Bah wieder vor dem Eingang des Polizeireviers in der Dessauer Wolfgangstraße stehen, wird wie jedes Jahr ein Feuerzeug auf die Treppenstufen legen. 

Einige Mitstreiter werden es ihm gleichtun, wegen der Pandemie wollen sie die Mahnwache deutlich kleiner halten als sonst. Und wie immer wird sich wohl kein Polizeibeamter vor dem Gebäude blicken lassen, sie werden aus Fenstern schauen oder hinter der gläsernen Eingangstür warten. Wie fände Mouctar Bah es, wenn ein Polizist rauskäme und sich am Gedenken für Oury Jalloh beteiligte? „Es wäre wunderbar“, sagt Bah. „Aber das wird kaum passieren.“

Vor 16 Jahren ist Oury Jalloh, Asylsuchender aus Sierra Leone, im Keller des Dessauer Polizeireviers ums Leben gekommen. Verbrannt auf einer schwer entflammbaren Matratze in einer gefliesten Arrestzelle. 

Nach offizieller Version hat sich der Mann, an Händen und Füßen gefesselt, selbst angezündet. Nur ist das, darin sind sich mittlerweile etliche Brandgutachter, Mediziner und Kriminologen einig, im Grunde nicht möglich.

Sehr gut möglich ist dagegen, dass Oury Jalloh in der Arrestzelle angezündet und ermordet wurde.

Die Ungeheuerlichkeiten sind gut dokumentiert

In der Debatte um mutmaßliche Polizeigewalt, um institutionellen Rassismus, Korpsgeist und die Notwendigkeit unabhängiger Polizeistudien sticht der Fall Jallohs schon deshalb heraus, weil seine vielen Ungeheuerlichkeiten gut dokumentiert sind. Es ist ein Fall, in dem sich Polizisten immer wieder in Widersprüche verstrickt, gelogen haben und dieser Lügen auch überführt wurden. 

Es ist ein Fall verschwundener Beweismittel und grotesker Gedächtnislücken. Einer, in dem sich Polizisten angeblich nicht mehr an Besprechungen erinnern, die nur wenige Tage zurückliegen. Einer, in dem nicht nur Dateien auf Polizeicomputern gelöscht wurden, sondern auch deren Sicherungskopien. Einer, in dessen Verlauf ein Richter feststellte, Beamte hätten „Aufklärung unmöglich gemacht“.

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Auf die Lügen und Vertuschungsversuche der Polizisten verweisen heute ausgerechnet diejenigen, die sich gegen weitere Ermittlungen aussprechen. Ihre Logik: Die Beamten würden sowieso weiter die Unwahrheit sagen. Also könne man sich das Weiterermitteln gleich sparen.

Dass der Fall nach 16 Jahren trotzdem noch diskutiert wird, ist vor allem Menschen wie Jallohs Freund Mouctar Bah zu verdanken. Am ersten Sonntag im Januar 2021 sitzt Bah in der Wohnung eines Bekannten in Berlin-Moabit, nicht weit vom S-Bahnhof Beusselstraße, und sagt, er habe die Version der Polizei nie geglaubt. Gemeinsam mit anderen sammelte er Spendengelder für eine zweite Obduktion, bei der herauskam, dass Jalloh vor dem Brand einen Nasenbeinbruch erlitt.

Bah und seine Mitstreiter waren es, die Ungereimtheiten und Logikfehler in der Polizeiversion benannten und so öffentlichen Druck erzeugten. Aktuell warten sie auf ein Urteil aus Karlsruhe. Jallohs Bruder will gerichtlich neue Ermittlungen erzwingen, der Fall liegt beim Bundesverfassungsgericht. Ein Kampf gegen so offensichtliches Unrecht über so lange Zeit kostet Kraft, sagt Mouctar Bah. Er könne einen buchstäblich krank machen.

Trauer um den Verstorbenen.
Trauer um den Verstorbenen.

© Peter Endig/dpa

Die Version der Polizei geht so: Am 7. Januar 2005 wird morgens in der Dessauer Innenstadt ein betrunkener 36-Jähriger in Gewahrsam genommen und aufs Revier gebracht, durchsucht, in den Keller geführt, dort an Händen und Beinen auf einer Matratze fixiert. Trotz Leibesvisitation hat der Mann es geschafft, ein Feuerzeug in die Zelle zu schmuggeln. Der Gefesselte reißt die Matratze auf, zieht das brennbare Innere nach außen, zündet es an. Er will so erreichen, dass Polizisten kommen und ihn losbinden. Als die Beamten den Brand bemerken und die Feuerwehr holen, ist es zu spät.

Die Selbstanzündung ist von Beginn an Prämisse aller Ermittlungen. Die Beamten des Landeskriminalamts, die am Tatort Spuren sichern sollen, sind bereits von ihr überzeugt, bevor sie überhaupt den Kellertrakt des Gebäudes betreten. Auch der Staatsanwalt ermittelt einseitig. Zwar wird ein Dienstgruppenleiter später verurteilt, weil er zugibt, dass er mindestens zwei Mal den Feueralarm ausgestellt hat. Doch niemand zieht in Betracht, Jalloh könnte getötet worden sein.

Ein Bericht, der die zentrale Frage auslässt

Enttäuscht ist Mouctar Bah auch von der Landespolitik. Zuletzt im August des vergangenen Jahres. Da wurde ein 300-seitiger Bericht vorgestellt. Statt den geforderten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten, hatten sich die koalitionstragenden Fraktionen von CDU, SPD und Grünen auf ein deutlich zahnloseres Mittel verständigt: Zwei juristische Prüfer sollten noch einmal alle vorhandenen Akten durchsehen. Bah sagt: „Reine Zeitverschwendung.“

Zwar stellten die Prüfer in ihrem Bericht etliche Rechtsbrüche der Polizisten fest. Jallohs Festnahme verlief illegal, er hätte nicht aufs Revier gebracht werden dürfen. Die Blutabnahme war ebenso rechtswidrig wie das Einsperren im Keller und seine Fixierung. Die Prüfer monierten bei den beteiligten Polizisten „eklatante Unkenntnis gesetzlicher Vorschriften“, Aussagen von Beamten seien „konstruiert und vorgeschoben“ oder „völlig unglaubhaft“.

Die entscheidende Frage aber – die der Selbstanzündung oder Fremdeinwirkung – rührten die Sonderberater nicht an. Das sei nicht ihr Auftrag. Schließlich habe das Landgericht Magdeburg bereits 2012 befunden, Jalloh habe das Feuer selbst entfacht. Eine solche Tatsache in Frage zu stellen, stehe ihnen nicht zu. Der Bericht ist „Show“, sagt Mouctar Bah. „Wer die zentrale Frage ausklammert, will nur die Debatte abwürgen.”

Außerdem haben etliche Staatsanwälte und Richter, die zur Aufklärung der Widersprüche in den Akten hätten beitragen können, den Prüfern das Gespräch verweigert.

Oury Jalloh mit seiner Tochter Jessica.
Oury Jalloh mit seiner Tochter Jessica.

© Imago

Die offizielle Version der Selbstanzündung kann schon deshalb nicht stimmen, weil Oury Jalloh im Moment, als das Feuer ausbrach, bereits bewusstlos war, möglicherweise fast tot. Davon ist der forensische Toxikologe Gerold Kauert überzeugt. Denn hätte Jalloh den Beginn des Feuers und das eigene Verbrennen bewusst miterlebt und hätte er, wie von der Polizei behauptet, tatsächlich noch über die Gegensprechanlage um Hilfe gefleht, hätte sein Körper massiv Stresshormone ausgeschüttet. Die aber fanden sich nicht. Auch typische Brandgase wie Kohlenmonoxid oder Blausäure konnten nicht im Körper nachgewiesen werden.

Dass sich ein Bewusstloser selbst nicht anzünden könne, sei doch eindeutig, sagt Gerold Kauert.

Weil Ermittler und Gerichte jahrelang auf eine Rekonstruktion des Brandes verzichteten, sammelten Mouctar Bah und seine Mitstreiter erneut Geld und beauftragten den irischen Brandgutachter Maksim Smirnou mit einer Versuchsreihe. „Mehrere deutsche Gutachter hatten sich zuvor geweigert“, sagt Bah. „Das Thema sei ihnen zu heikel.“ Smirnou baute die Polizeizelle nach, beschaffte typgleiche Matratzen und startete Brandversuche. Ergebnis: Der offizielle Hergang ist ausgeschlossen.

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Der Befund beeindruckte die Staatsanwaltschaft. Sie beschloss 2016, den Brand von eigenen Experten im sächsischen Schmiedeberg nachstellen zu lassen. Auch das hier erzeugte Brandbild war weit von dem in Dessau entfernt. Die beteiligten Wissenschaftler waren sich einig: Die Version der Dessauer Polizei kann nicht stimmen. Jalloh lebte bei Ausbruch des Feuers nicht mehr oder er starb binnen Sekunden.

Diverse Experten glauben zudem, dass ein Brand wie in Zelle 5, von dieser Intensität und Ausbreitung, nur durch den Einsatz eines Brandbeschleunigers möglich war. Das bedeutet aber, dass Oury Jalloh nicht bloß ein Feuerzeug, sondern auch ein Gefäß mit der entsprechenden Chemikalie bei seiner Festnahme bei sich gehabt haben müsste – beides so gut versteckt, dass es den Polizisten bei der Leibesvisitation nicht auffiel. Er müsste das Gefäß später geöffnet, sich die Flüssigkeit übergegossen und dann angezündet haben, während er an Händen und Beinen gefesselt war. Wer soll das glauben?

Ein Polizist sagt, Jalloh sei massiv verprügelt worden

Eine, die sich mit dem Fall wie keine zweite auseinandergesetzt hat, ist die Journalistin Margot Overath. Sie hat Prozesse besucht, mit Polizisten, Juristen und Gutachtern gesprochen, preisgekrönte Radiofeatures und eine Podcast-Reihe zum Thema veröffentlicht. Am Telefon sagt sie, es existiere kein plausibles Szenario, in dem sich Oury Jalloh selbst anzünden konnte. Wahrscheinlicher sei eine Vertuschungstat. 

Overath berichtet von einem Dessauer Polizisten, der sich an sie gewandt und erklärt habe, er sei damals zwar nicht dabei gewesen, doch er wisse, dass Oury Jalloh auf der Polizeiwache von mindestens fünf Beamten massiv verprügelt wurde. Ein halbes Jahr nach dem Gespräch wurde ein neues forensisch-radiologisches Gutachten veröffentlicht: Jalloh erlitt vor seinem Tod nicht nur einen Nasenbein-, sondern auch einen Rippenbruch sowie ein „Bruchsystem in das vordere Schädeldach“.

Der Brandversuch in Schmiedeberg.
Der Brandversuch in Schmiedeberg.

© Arno Burgi/dpa

Normalerweise dokumentieren die hinzugezogenen Beamten des Landeskriminalamts mit einer Videoaufnahme genau, wie eine Leiche am Tatort vorgefunden wird, wie Spuren gesichert werden. Im Fall Oury Jalloh nicht. Der Beamte, der die Kamera dabei hatte, behauptet vor Gericht, am fraglichen Tag habe es auf dem Revier einen Stromausfall gegeben, daher sei ausnahmsweise nicht gefilmt worden. Es gab keinen Stromausfall.

Der Brandschutt wird von Polizisten in Tüten verpackt. Diese werden erst drei Tage später dem Labor übergeben. In einer findet sich nun überraschenderweise ein zuvor angeblich übersehenes, angeschmortes Feuerzeug. Die Ermittler sagen: Das hat Jalloh benutzt. Untersuchungen ergeben, dass sich an dem Feuerzeug keine DNA-Spuren von Jalloh fanden, wohl aber eingeschmolzene Polyesterfasern, die weder zu Jallohs Kleidung, der Matratze oder sonst irgendeinem Gegenstand aus der Zelle passen.

„Wir wissen nicht, wo dieses Feuerzeug war, als es brannte, aber ganz sicher nicht in Zelle 5“, sagt Beate Böhler, die Berliner Anwältin von Jallohs Bruder, am Telefon.  Es sei „absurd und erschreckend“, wie lange an der Version der Selbstanzündung festgehalten wurde. Sie verstehe jedoch, dass Außenstehende, die sich nicht in den Fall eingearbeitet haben und keine Details kennen, daran glauben möchten: „Weil es so unvorstellbar ist, dass ein derartiges Verbrechen in Deutschland auf einem Polizeirevier geschieht.“

Die entsorgte Metallschelle und das verschwundene Fahrtenbuch

Andere Beweismittel fehlen, sind verschwunden oder wurden vernichtet. Etwa die Metallschelle, in der Jallohs rechte Hand steckte. Sie hing an einem Bügel, der an der Zellenwand befestigt war. Laut der offiziellen Version soll Jalloh mit dieser Hand die Matratze angeschmort, danach das brennbare Innere herausgezogen und angezündet haben.

Die Schelle wurde nicht gesichert, sondern vom Hausmeister entsorgt.

Auch das Fahrtenbuch der Beamten, die Jalloh festnahmen, ist verschwunden. Es wäre wichtig, um einen Widerspruch zu klären: Die zwei Beamten behaupten, Jalloh zuletzt am Morgen gesehen zu haben. Ein Kollege sagt jedoch, er habe die beiden noch gegen 11.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Jallohs Tod, im Keller in Zelle 5 gesehen. Sie hätten sich über Jalloh gebeugt.

Mouctar Bah im Januar 2021.
Mouctar Bah im Januar 2021.

© Sebastian Leber

Es gab einen Zeitpunkt, an dem sich der Fall zu wenden schien. Im April 2017, zwölf Jahre nach der Tat, formuliert Folker Bittmann, der leitende Oberstaatsanwalt, erstmals einen Mordverdacht. Er spricht auch einen konkreten Tatverdacht gegen zwei Polizeibeamte aus. Im Mai, einen Monat nach Bittmanns Äußerung, wird ihm das Verfahren entzogen und der Staatsanwaltschaft Halle übertragen. Die stellt es wenig später ein.

Auch ein mögliches Motiv hatte Folker Bittmann im Sinn. Vor Jalloh waren bereits zwei andere Menschen unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen: einer in Zelle 5, einer in unmittelbarer Nähe des Reviers, nachdem er dort entlassen wurde. Bittmann hielt es für denkbar, dass die Legende von der Selbstanzündung entworfen wurde, um keinen dritten Toten rechtfertigen zu müssen.

Im Juni finden in Sachsen-Anhalt Landtagswahlen statt. Die SPD hat angekündigt, in der nächsten Legislatur nun doch einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zustimmen zu wollen. 

Die Linke fordert dies seit Jahren.  Henriette Quade, die innenpolitische Sprecherin, sagt am Telefon, die Regierungsfraktionen hätten die aktuelle Legislatur leider ungenutzt verstreichen lassen und vor allem auf  Scheinaktivitäten und Maßnahmen gesetzt, die das Ziel hatten, einen Untersuchungsausschuss zu verhindern: „Eine solche Nebelkerze war die Einsetzung der juristischen Berater." Nun wäre es ein wichtiges Signal, noch vor der nächsten Koalitionsbildung einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu beschließen, sagt Quade. „Diese Frage darf nicht Gegenstand eines Koalitionspokers werden."

Die widersprüchliche Haltung der Grünen

Entscheidend könnte das Verhalten der Grünen sein. Deren Verhalten war in der vergangenen Legislatur besonders widersprüchlich. Ihre Landesvorsitzende hatte Ende 2017 erklärt, eine „Ermordung Oury Jallohs“ sei „immer wahrscheinlicher“. Als die Koalitionspartner keinem Untersuchungsausschuss zustimmen wollten, präsentierte die Fraktion schließlich die Berufung der juristischen Prüfer als Erfolg – die sich ja aber ausgerechnet mit der Frage der Ermordung nicht beschäftigen durften. Im Folgenden dienten die Prüfer den Grünen dann als Argument gegen einen zusätzlichen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss: „Zwei Untersuchungen parallel zu führen, die sich nicht untereinander abgrenzen, ist keine sinnvolle Herangehensweise.“

Auf Anfrage des Tagesspiegels, ob die Grünen einem Untersuchungsausschuss in der nächsten Legislaturperiode zustimmen werden, antwortet Sebastian Striegel, der rechtspolitische Sprecher, verhalten: „Die grüne Landtagsfraktion ist bereit, an der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mitzuwirken …“

Margot Overath, die Journalistin, hat Hoffnung. „Mit jedem Jahr wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahrheit doch noch herauskommt.“ Sie glaubt, dass weitere Mitwisser früher oder später reden werden.

Mouctar Bah, Jallohs Freund, sagt: „Sollte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts negativ ausfallen, gehen wir als Nächstes vor den Europäischen Gerichtshof.“ Aufgeben sei keine Option. Einerseits wegen seines verstorbenen Freundes. Andererseits wegen der vielen anderen Fälle unaufgeklärter Polizeigewalt. „Auch für die kämpfen wir.“

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