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Mustafa Aldabbas, Exiljournalist aus Syrien.

© ALI GHANDTSCHI

Exiljournalist Mustafa Aldabbas: „Heute weiß ich: Syrien war nie meine Heimat“

Er floh vor dem Krieg und dem Hass auf Homosexuelle: Unser Autor über seine Suche nach einem Ort, der ihm ähnelt.

Stand:

Vor über zehn Jahren kam ich nach Deutschland – auf der Flucht vor dem zerstörerischen Krieg, der Syrien unter dem gestürzten Regime von Baschar al-Assad verwüstet hatte. Ich suchte nach einem Ort, der mir Sicherheit bieten würde, nach einem Ort, an dem ich durch das Gesetz geschützt wäre, nachdem ich die Schrecken eines Krieges erlebt hatte, der so viele Leben nahm, keine Stadt unversehrt ließ und keine Familie verschonte – zerrissen zwischen Toten, Vermissten und Vertriebenen.

Meine Flucht aus Damaskus war jedoch nicht nur eine Flucht vor dem Krieg, sondern auch vor einem tief verwurzelten Gefühl der Nichtzugehörigkeit. Wie viele andere queere Menschen floh ich vor kultureller Unterdrückung und der Kriminalisierung von Homosexualität. Ich floh aus einem Land, das uns als krank bezeichnete, als Menschen zweiter Klasse, das uns beschämt und stigmatisiert – als wären wir keine vollständigen Menschen, keine, die ein Leben in Würde verdienen.

Der Krieg teilte die Syrer:innen in zwei Lager: diejenigen, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten blieben – nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst, Not oder dem Versuch, an Resten von Macht und Sicherheit festzuhalten – und diejenigen, die „Nein“ sagten und dafür alles verloren: ihr Zuhause, ihre Familien, ihre Erinnerungen, ihr Land.

Ich war einer von Hunderttausenden, die gingen – mit dem Schmerz der Entwurzelung im Gepäck: aus der Heimat, aus den vertrauten Gesichtern und Stimmen, aus der Umgebung, in der ich fünfundzwanzig Jahre gelebt hatte. Ob ich mich Syrien je wirklich zugehörig fühlte, weiß ich nicht. Doch die Erfahrung des Verlusts, das Leben im Exil, das Wissen, dass eine Rückkehr vielleicht niemals möglich sein würde, hinterließen tiefe seelische Narben. Sie veränderten meinen Blick auf mich selbst, auf die Welt – und machten mich zu dem Menschen, der ich heute bin.

Syrien ließ mich nicht los – und ich es auch nicht.

Mustafa Aldabbas

In Deutschland begann ich, die Sprache zu lernen, und machte mir die Straßen Berlins so vertraut, als wären sie ein Teil meiner Kindheit. Ich baute mir ein kleines Zuhause auf, das mir ein Gefühl von Geborgenheit gab – vielleicht fühle ich mich diesem Zuhause sogar mehr verbunden als der Stadt selbst.

Ich knüpfte wenige, aber ehrliche Beziehungen, die mir ein Gefühl von Sicherheit gaben. Ich arbeitete in verschiedenen Berufen und legte den Journalismus für eine Weile beiseite – nicht, weil ich meine Leidenschaft verloren hatte, sondern weil jede journalistische Tätigkeit mir mein verletztes Heimatland vor Augen führte. Syrien ließ mich nicht los – und ich es auch nicht.

Im Laufe der Jahre begann ich, mich von meiner syrischen Identität zu entfremden. Ich hörte auf, arabische Musik zu hören – jedes Lied war eine Erinnerung an einen Schmerz, auch wenn es schöne Erinnerungen waren. Die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen wurde zur Last.

Damaskus wurde für mich eine neblige Stadt. Ich konnte mich nicht mehr an die Straßenzüge erinnern, nicht an die Gesichter meiner Freunde. Etwas in mir war zerbrochen. Eine Leere, die sich auf meine psychische Gesundheit auswirkte. Ich suchte nach etwas, das diese Lücke füllen könnte.

Ali Ghantschi fotografierte Mustafa Aldabbas für eine „Heimaten“-Beilage im Jahr 2018 auf einem Ruderboot.

© ALI GHANDTSCHI

In Berlin erzählte ich bei jeder neuen Begegnung automatisch von meiner Flucht aus Syrien und dem, was ich dort erlebt hatte. Doch in den letzten vier Jahren hörte ich damit auf – als wollte ich mich selbst nicht mehr an diese Zeit erinnern, die für mich inzwischen der Vergangenheit angehört.

Und ehrlich gesagt: Niemand scheint sich mehr dafür zu interessieren. Vielleicht, weil die Geschichten zu traurig sind – und niemand mehr die Kraft hat, Trauriges zu hören. Also musste ich mich anpassen, mir eine neue Erinnerung schaffen, über die ich sprechen kann, wenn ich neue Menschen kennenlerne.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine neuen Freunde mich gar nicht wirklich kennen. Ich rede nicht viel über mich selbst, und sie fragen auch nicht. Unsere Gespräche drehen sich meist um den Alltag: Wochenendpläne, Urlaubsziele, gescheiterte Beziehungen, Wohnungssuche, steigende Preise wegen des Ukrainekriegs.

In Berlin habe ich mich selbst neu entdeckt.

Mustafa Aldabbas

Deshalb hielt ich immer an meinen wenigen syrischen Freundschaften fest. Sie kennen mich wirklich. Sie wissen, wer ich war und wer ich bin. Vor ihnen muss ich nichts erklären oder rechtfertigen. Ich muss meine Angst nicht verstecken, meinen Schmerz nicht kaschieren, meine Reaktionen nicht erklären. Mit ihnen teile ich das Gefühl, dass wir Fremde sind, die aus einem verlorenen Land kamen und nun ein neues Zuhause suchen.

Ich wusste nicht mehr, wohin ich gehöre. Gehört mein Herz diesem Land, das mir Sicherheit und Schutz bot, ohne dass ich mich verstellen muss? In Berlin habe ich mich selbst neu entdeckt – meine Wünsche, meine Ängste. Ich lernte, was Liebe bedeutet, was Freundschaft ist. Ich teilte mein Leben mit Menschen, die wie ich das Gefühl hatten, nirgendwo wirklich dazuzugehören.

Ich spürte keine kulturelle Zugehörigkeit mehr. Und so stellte ich mir grundlegende Fragen: Wer bin ich? Und wo gehöre ich hin? Es war eine Identitätskrise. Doch ich fand Trost darin, dass viele in Berlin – Migrant:innen und Geflüchtete – dieses Gefühl der Verlorenheit teilten. Eine Zeit lang schnitt ich alle Verbindungen zur Vergangenheit ab – als Schutz vor dem Schmerz.

Aufgeschobene Heimat: Mustafa Aldabbas.

© ALI GHANDTSCHI

Doch die Träume von Syrien hörten nie auf. Fast jede Nacht sah ich mich als Kind im Haus meiner Familie in Damaskus, ging durch die Straßen meines Viertels. Dann kam plötzlich im Traum die Erinnerung, dass ich in Berlin lebe. Ich wusste nicht, wo mein Pass ist – Panik ergriff mich. Ich wollte zurück nach Berlin, aber ich konnte nicht. In anderen Träumen wurde ich von Sicherheitskräften verfolgt, oft verhaftet – ohne Grund. Ich wachte zitternd auf. Mein Freund Khaled beruhigte mich: „Es war nur ein Traum.“ Doch selbst ein Jahr Psychotherapie brachte keine endgültige Ruhe.

Panikattacken bei Reisen

Seit zehn Jahren fühle ich mich, als gehörte ich nirgendwohin. Ich verlor die Freude an vielem. Ich entwickelte eine diffuse Angst vor dem Reisen. Selbst das Verlassen meiner Wohnung wurde manchmal zur Herausforderung – obwohl ich wusste, dass ich in einer sicheren Stadt lebte.

In den wenigen Momenten, in denen ich reisen musste – etwa nach Großbritannien – überkamen mich Panikattacken. Ich wusste, dass es eine nicht verarbeitete Traumatisierung war: die Vertreibung aus meinem Zuhause, der Verlust meiner Freunde, das Umherziehen zwischen Dutzenden von Städten, Häusern, Ländern – bis ich schließlich in Deutschland ein Gefühl von Stabilität fand. Seitdem wurde allein der Gedanke, diesen Ort erneut verlassen zu müssen, zu einem inneren Unruheherd.

In der Nacht des Sturzes des Regimes saß ich vor dem Bildschirm. Ich konnte in jener Nacht, dem 8. Dezember, nicht schlafen. Ich verfolgte Nachrichten, schrieb Freund:innen, las Beiträge, scrollte durch Fotos. Als der offizielle Sturz verkündet wurde, fühlte ich, dass etwas in mir zerbrach – aber diesmal im positiven Sinn. Ein Bruch, der mich über Jahre begleitet hatte, löste sich. Ich war glücklich, ich weinte. Aber gleichzeitig öffnete sich eine alte Wunde.

Heute weiß ich: Syrien war nie meine Heimat.

Mustafa Aldabbas

Tausende Bilder gelangten an die Öffentlichkeit: Fotos von Inhaftierten, von Leichen in Kliniken, von Zeug:innenberichten, die zum ersten Mal gehört wurden. Sie weckten Wunden, von denen ich dachte, sie seien längst verheilt. Ich erinnerte mich an meine Zeit in syrischer Haft: Nächte in einer Militärpolizeistation, zusammen mit Hunderten junger Männer zwischen 16 und 40. Ich erinnerte mich an Hausdurchsuchungen, an Schläge, an Demütigungen, die ich mit Freund:innen erlebte – viele davon leben heute mit mir in Berlin.

Ich weinte vor Freude. Ich dachte: Endlich sind wir diesen Verbrecher los, der die Träume einer ganzen Generation zerstört hat – eine Generation, die nichts anderes wollte als Frieden und Sicherheit. Ich glaubte, der Sturz würde Hoffnung bringen – Raum für neue Erinnerungen, weniger schmerzhaft, vielleicht sogar hoffnungsvoll. Doch was danach kam, ließ die Enttäuschung zurückkehren.

Videos tauchten auf, die trans Personen zeigten, wie sie von bewaffneten Kräften in Damaskus misshandelt wurden. Berichte über ermordete queere Menschen häuften sich. Schlimmer noch war die Welle des Hasses in sozialen Medien – Kommentare, die die Täter feierten. Als ob sexuelle oder geschlechtliche Identität einem das Recht auf Leben nimmt. Es war ein Schock. Wir waren doch Teil der Revolution gewesen. Wir standen mit allen gegen die Unterdrückung. Aber wir merkten: Wenn wir unterdrückt werden, steht kaum jemand mit uns.

Dann kamen weitere Katastrophen. Die Massaker an Zivilisten an der syrischen Küste – Menschen, die nur in der „falschen“ Region lebten und sich über das Ende des Regimes freuten. Diese Gräueltaten und die Rückkehr zu konfessioneller Hetze zeigten: Das Land ist noch lange nicht geheilt. Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist lang. Sehr lang.

Leichen auf den Straßen, Allahu-Akbar-Rufe

Heute, während ich diese Zeilen schreibe, geschehen neue Massaker – diesmal in Suwaida. Ein blutiger Konflikt zwischen sunnitisch-beduinischen Stämmen und drusischen Gemeinschaften. Unerträgliche Bilder: Leichen auf Straßen, Männer, die unter „Allahu Akbar“-Rufen gezwungen werden, von Balkonen zu springen. Die Szenarien des Krieges, der vierzehn Jahre dauerte, scheinen zurück – oder haben sie uns je verlassen?

Heute weiß ich mit Sicherheit: Syrien war nie meine Heimat. Ich habe keine Sehnsucht mehr, es zu besuchen – trotz der Hoffnung, die ich in den ersten Wochen nach dem Sturz verspürte. Ich glaubte, eine Rückkehr würde mir inneren Frieden bringen, die Nachkriegstraumata lindern. Doch was geschah – und noch geschieht – entfernte mich mehr denn je von diesem Land. Von einer Kultur, die heute für mich mit Tod, Angst und Ablehnung verknüpft ist – mit der Unfähigkeit der Syrer:innen, einander jenseits ihrer Herkunft zu sehen.

Inmitten dieses Wahnsinns spüre ich stärker als je zuvor, dass ich zu Berlin gehöre. Fernab von konfessionellem Fanatismus, fernab vom Hass auf Queers, der heute seinen Höhepunkt erreicht hat. In Syrien ist nichts mehr, das mich bindet – außer meiner Familie, die weiterhin unter den Trümmern dieser endlosen Katastrophe lebt.

Sie verlor ihr Haus in Damaskus, floh in unser Dorf im Norden, dann weiter an die türkische Grenze. Dort lebten sie sieben Jahre lang. Nach dem Sturz konnten sie nicht zurück – das Haus zerstört, das Dorf unsicher. Meine Freund:innen sind entweder tot oder über die Welt verstreut. Und wer geblieben ist, will nur noch weg.

In Berlin fühle ich mich nicht mehr fremd. Aber ich vermisse die Heimat noch immer – auch wenn es sie vielleicht nie wirklich gab. Ich suche nicht mehr nach einem Ort, der wie früher ist. Ich suche nach einem Ort, der mir ähnelt. Ein Ort, an dem ich einfach ich sein kann. Ohne Angst. Ohne Masken. Und in Berlin habe ich endlich angefangen zu glauben, dass das möglich ist.

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