zum Hauptinhalt
Jetztschreibenwir: Feier zur Tagesspiegel-Sonderausgabe 2016.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Wie Sprache Heimat schafft : Exiljournalisten erzählen von Flucht und Ankommen

Seit fast zehn Jahren arbeitet der Tagesspiegel mit Autoren zusammen, die ihr Herkunftsland verlassen mussten. Warum ihre Stimmen so wichtig sind.

Stand:

Schaffen wir das? Die Aufgabe war, verglichen mit jener, auf die sich Angela Merkels berühmter Ausspruch bezog, klein. Aber eine Herausforderung war es doch: Schaffen wir es, eine ganze Tagesspiegel-Ausgabe mit Texten geflüchteter Journalisten zu füllen?

Vor genau zehn Jahren sagte Merkel bei einer Pressekonferenz ihre drei wirkmächtigen, umstrittenen Wörter. Ein knappes Jahr später begann der Tagesspiegel, tausende Wörter, Sätze, Gedanken zu sammeln – Wörter von Menschen, die mit ihrer Heimat auch ihre Sprache verloren hatten.

Denn für Journalisten ist die Sprache – verstanden als die Fähigkeit, sich in dem Land, in dem man lebt, verständlich zu machen und Gehör zu finden – die Basis ihres Berufs und ihres Selbstverständnisses. Ihnen wollte der Tagesspiegel mit der Sonderausgabe vom 15. Oktober 2016 unter dem Titel #jetztschreibenwir eine Stimme geben – und gleichzeitig den Leserinnen und Lesern eine Chance, die Innensicht von geflüchteten Menschen kennenzulernen.

Gemeinschaftswerk: Exiljournalisten im Tagesspiegel-Newsroom, 2016.

© Thilo Rückeis TSP

Die Autoren erzählten von Protest, Widerstand, Gefängnis, Folter in ihren Herkunftsländern; aber sie hielten auch befremdliche Eindrücke hierzulande fest: Bilal Al Dumani aus Syrien beschrieb sein Erstaunen darüber, dass es in Berlin so viele Obdachlose gibt. Abdolrahman Omaren wunderte sich über das Verhältnis von Deutschen zu Hunden.

Seit diesem Auftakt, der viele begeisterte Leserreaktionen auslöste und mit dem European Newspaper Award ausgezeichnet wurde, sind zahlreiche Sonderseiten und Beilagen mit Texten von Exiljournalisten erschienen. Darunter im Juni 2018 eine Beilage mit dem Titel „Heimaten“. Auch damals haben wir Journalisten gefragt, was das für sie bedeutet: Heimat, im Singular und im Plural. Wie denken sie über ihr Herkunftsland? Ist Deutschland zu einer neuen, einer zweiten Heimat geworden?

Sieben Jahre später stellen wir diese Fragen erneut. Drei Autoren der aktuellen Heimaten-Beilage waren schon bei der Sonderausgabe 2016 und der Heimaten-Beilage 2018 dabei: Khaled Al Aboud und Mustafa Aldabbas aus Syrien sowie Ahmad Wali Temori aus Afghanistan.

Hend Taher, Islamwissenschaftlerin und Journalistin, schrieb 2018 über ihre Auffassung von Heimaten.

© Ali Ghandtschi/ALI GHANDTSCHI

Auch Maryam Mardani aus dem Iran hat an verschiedenen Exiljournalisten-Projekten des Tagesspiegels teilgenommen, sie lebt schon seit 2011 in Deutschland und ist wie Khaled Al Aboud im Redaktionsteam von „Amal, Berlin!“, einer Nachrichtenplattform mit Texten auf Arabisch, Farsi und Ukrainisch, die sich an die jeweiligen Communities wenden.

Zwei Texte schildern die Perspektive von Autorinnen, die noch nicht so lange in Deutschland sind: Valeriia Semeniuk aus der Ukraine und Mahtab Qolizadeh aus dem Iran.

Die Journalistinnen und Journalisten, die an der Sonderausgabe von 2016 mitwirkten, kamen aus acht Ländern: Syrien, Afghanistan, Iran, Pakistan, Somalia, Tschad, Aserbaidschan, Ägypten. Seitdem hat sich die Liste der Herkunftsländer unserer Autoren leider erweitert. Es ist eine Liste der Schande, denn in all diesen Ländern ist die Pressefreiheit mindestens eingeschränkt und werden Oppositionelle verfolgt: Libyen. Bahrain. Jemen. Nigeria. Sudan. Ruanda. Uganda. Russland. Belarus.

Dass auch eine ukrainische Autorin einmal als „Exiljournalistin“ im Tagesspiegel schreiben würde, konnte sich 2016 niemand vorstellen, auch Valeriia Semeniuk nicht. Aber auch sie hat ihr Land höchst unfreiwillig verlassen – und spiegelt in ihrem Text die widersprüchlichen Gefühle vieler Ukrainerinnen dazu.

Die Projekte der letzten Jahre mit Exiljournalisten waren häufig verbunden mit Workshops und öffentlichen Veranstaltungen, und sie wären ohne die Unterstützung von Stiftungen nicht möglich gewesen. Die aktuelle Beilage wird ermöglicht durch die Robert Bosch Stiftung, andere Projekte fanden in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung und der Körber-Stiftung statt, die sich unter anderem mit ihrem „Exile Media Forum“ für Exiljournalisten engagiert.

In Workshops wurden die Texte diskutiert.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Denn eins ist klar: Gerade weil Sprache ihr Arbeitsmaterial ist, haben es Exiljournalisten schwer, in der Medienwelt eines fremden Landes Fuß zu fassen. Einzelnen gelingt es, eine feste Stelle in einem Medium zu bekommen – etwa Muhamad Abdi, Video-Redakteur beim Tagesspiegel – oder regelmäßig als Pauschalistin oder Freier Beiträge zu liefern. Andere Kollegen arbeiten für Exilmedien, wieder andere haben den Job gewechselt.

Bei der Plattform „Amal, Berlin!“, die inzwischen auch in Hamburg und Frankfurt vertreten ist, arbeiten geflüchtete Journalisten, andere Institutionen bieten punktuelle Hilfe, Stipendien, Mentoring oder Praktika an: etwa die Neuen deutschen Medienmacher, ein Zusammenschluss von Journalisten mit Migrationshintergrund, der JX-Fund for Journalism in Exile, das European Centre for Press and Media Freedom, Reporter ohne Grenzen oder die taz-Panterstiftung.

Doch das reicht nicht aus. Die Sicht von Exiljournalisten auf das, was in ihren Herkunftsländern und in Deutschland passiert, ist besonders erhellend: Denn sie sprechen nicht nur für sich, sondern auch für viele ihrer Landsleute, und sie tun es auf eine Weise, die zu Empathie einlädt.

Geflüchtete Journalisten bei einer „Diwan“-Veranstaltung im Tagesspiegel-Haus.

© Kai-Uwe Heinrich TSP

Es ist etwas anderes, ob ein geflüchteter Mensch radebrechend in ein Mikrofon spricht, von deutschen Journalisten mit einem kurzen O-Ton in einem Text wiedergegeben wird – oder ob ein Autor, eine Autorin ihre Gedanken in eigenen, sorgfältig gewählten Worten entwickeln kann, die dann in den Köpfen der Lesenden nachklingen.

Berliner Stillleben: Objekte erzählen Geschichten

In der Heimaten-Beilage kommen aber auch Menschen zu Wort, die keinen journalistischen Hintergrund haben. Maria Savushkina und Dzmitry Brushko, beide aus Belarus, lassen in ihrer Serie „Berliner Stillleben“ Menschen ihre Geschichten über verlorene und neu gefundene Heimaten mithilfe von Objekten erzählen.

Die Texte der Exiljournalisten sollen nicht die Frage beantworten, über die in diesem Sommer viel diskutiert wird: ob „wir“ es geschafft haben. Sie sollen zum Lesen anregen und Verständnis wecken für Erfahrungen, die die meisten Menschen in Deutschland zum Glück nie machen mussten.

Und wenn „Heimat“, wie es der Philosoph Karl Jaspers gesagt hat, ein Ort ist, an dem man versteht und verstanden wird, sollen und können die Texte vielleicht auch das: Heimaten schaffen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })