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Valeriia Semeniuk, Exiljournalistin aus der Ukraine.

© ALI GHANDTSCHI

Tagesspiegel-Reporterin Valeriia Semeniuk : „Meine Tochter und ich sind ewige Wanderer“

Aus der Ukraine nach Berlin und wieder zurück? Wie unsere Autorin versucht, mit der Ungewissheit zu leben.

Stand:

Vor zehn Jahren fing ich gerade an, Deutsch zu lernen, und versuchte auch, mit einem Wörterbuch die Nachrichten zu übersetzen. „Wir schaffen das“ habe ich mir für immer eingeprägt. Und zwar nicht nur, weil der Satz die Schlagzeilen beherrschte. Mich beeindruckte die Entschlossenheit Deutschlands, sich dieser großen Herausforderung zu stellen – besonders im Gegensatz zum stillen Abwarten vieler anderer Länder.

Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich sieben Jahre später die hitzigen Debatten über die deutsche Migrationspolitik von innen heraus miterleben würde. Noch weniger hätte ich mir vorstellen können, dass ich selbst, gemeinsam mit über einer Million meiner Landsleute, vor dem verheerenden Krieg nach Deutschland fliehen müsste.

Unser Neuanfang hier verlief ganz anders als bei den früheren Flüchtlingswellen – denn es gab für uns kein langwieriges Asylverfahren. Das verschaffte uns zwar einen Vorsprung, aber zugleich verlangte es innere Kräfte und Eigeninitiative. Ohne klaren Fahrplan mussten wir vieles selbst regeln – von der Wohnungssuche über die Anmeldung im Kindergarten bis hin zu den Sprachkursen. Wir standen schon ab sechs Uhr vor dem Sozialamt Schlange, um rechtzeitig vor 13 Uhr eingelassen zu werden.

Manchmal denke ich, dass gerade die bürokratische Routine uns davor bewahrt hat, den Verstand zu verlieren. Nächtelang saßen wir an unseren Handys, und das, was wir dort sahen, glich einem Horrorfilm. Doch es war kein Film, sondern die bedrückende Chronik des Krieges in unserer Heimat. Das unfassbare Leid ließ uns wie gelähmt und verloren zurück. Und trotzdem musste man sich mit aller Willenskraft vom Sofa aufraffen, um die nötigen Behördengänge zu erledigen.

In den langen Warteschlangen vor den Ämtern kamen wir ins Gespräch – nicht mit Namen, sondern mit Städten: „Charkiw“, „Mariupol“, „Butscha“. Manchmal reichte allein dieser eine Ortsname, und wir fielen uns wortlos in die Arme – Fremde, die plötzlich keine Fremden mehr waren. So habe ich meine erste Freundin in Berlin kennengelernt. Sie kam aus Butscha.

Ein Weg zwischen zwei Welten

Ich kam aus Vorsel – einem kleinen Ort in der Nähe von Butscha in der Region Kyjiw. Vorsel wurde auch schwer beschossen und später von russischen Truppen besetzt. Ursprünglich lebte meine Familie in Kyjiw, aber sie flüchtete am ersten Kriegstag ins Sommerhaus – dort schien es sicherer zu sein. Doch schon am Abend wurde uns klar, dass das keine gute Entscheidung war: Russische Fallschirmjäger landeten auf dem Flugplatz nur wenige Kilometer entfernt. Am nächsten Tag kamen dann auch noch russische Panzer aus dem Norden dazu.

Ich lief zu den Nachbarn, um sie zu warnen: „Ich habe ein ungutes Gefühl, wir müssen evakuieren.“ Doch sie hatten Angst, wegzufahren – um uns herum waren bereits Schüsse und Explosionen zu hören. Trotzdem wagten wir es. Später versuchte ich, sie anzurufen, aber es gab keinen Empfang. In diesem Moment betete ich, dass eine russische Granate lieber in mein Haus fliegen sollte – es war immerhin leer. Später stellte sich heraus, dass die Nachbarn fast zwei Wochen im Keller verbrachten und fast verhungerten.

Mein Mann blieb in der Ukraine – wie viele Freunde und Kollegen auch. Einige gingen an die Front, als Soldaten oder Kriegsberichterstatter. Ich richtete unser provisorisches Zuhause in Charlottenburg ein, doch das Gefühl der Schuld, weil ich geflohen war, ließ mich nicht los. Psychologen nennen das das Schuldgefühl der Überlebenden. Anfangs hatten viele von uns genau diesen Schuldkomplex.

Im Sommer 2022 wagte ich eine Reise nach Kyjiw – mit meiner damals neunjährigen Tochter. Das sorgte bei meinen neuen Berliner Bekannten für Verwunderung. Wir standen uns nicht so nahe, dass sie mich direkt fragen konnten, warum ich in den Krieg „in den Urlaub“ fahre. Aber ja, das ist eine berechtigte Frage.

Zu diesem Zeitpunkt aber waren die russischen Truppen aus der Umgebung von Kiew vertrieben, und die Frontlinie lag hunderte Kilometer entfernt. Diejenigen, die geblieben waren, hatten sich vom Schock erholt und versuchten, sich in der neuen Realität zurechtzufinden – zwischen heulenden Sirenen und Momenten der Stille.

Letztlich ist das Risiko, in einer Stadt mit drei Millionen Einwohnern von einer russischen Rakete getroffen zu werden, nicht so groß. Dieses Risiko nehme ich in Kauf, um die Verbindung zu meiner Heimat zu spüren. Hier hatte ich mehr Glück als viele Geflüchtete, die nur ein Ticket in eine Richtung hatten – aus besetzten Gebieten der Ukraine, aus Syrien oder dem Irak.

Fährt in den Schulferien in die Ukraine: Valeriia Semeniuk.

© ALI GHANDTSCHI

Seitdem leben meine Tochter und ich zwischen zwei Welten. Wir freuen uns sehnsüchtig auf die Schulferien, um in einen überfüllten Bus „Berlin-Kyjiw“ zu steigen, und nach ein oder zwei Wochen fahren wir zurück. Ich nenne uns „ewige Wanderer“.

Warum bleiben wir eigentlich nicht einfach in der Ukraine? Weil niemand weiß, wohin sich die Frontlinie morgen verlagern wird – und welche unberechenbaren Pläne Putin als Nächstes verfolgt. Meine größte Angst ist, noch einmal die Flucht ins Ungewisse erleben zu müssen – inmitten einer Menschenmenge, die die Züge Richtung Westen stürmen. Und dann wieder ganz von vorne anfangen zu müssen – in einem fremden Land.

Vom Zwischenstopp zum Zuhause

Hier in Berlin haben wir zumindest eine Zuflucht gefunden – vielleicht sogar mehr. Als ich noch dabei war, mich einzurichten, fiel mir bei Woolworth zwischen billigen Dekoartikeln ein Schild mit der Aufschrift ‚Zu Hause‘ ins Auge – und ich brach in einen Weinkrampf aus. Damals hatte ich das Gefühl, mein Zuhause für immer verloren zu haben.

Doch ungefähr ein Jahr später sagte ich meiner Tochter zum ersten Mal: „Los, wir gehen nach Hause!“ Der Satz entfuhr mir völlig unerwartet und überraschte mich selbst. Nach und nach lernte ich, ihn ohne Schuldgefühle auszusprechen. Berlin ist wirklich ein zweites Zuhause geworden.

Am Anfang dachten wir alle, dass wir nur für kurze Zeit hierbleiben würden. Wir verzichteten auf unnötige Käufe – nichts, was man später als nutzlosen Kram mitschleppen müsste. Alles Vertraute und Gewohnte blieb zuhause.

Nur für wenige war die Auswanderung ein Sprungbrett in ein besseres Leben, für die Mehrheit hingegen ein erzwungener Schritt zurück. Die durchschnittliche ukrainische Geflüchtete ist eine Frau mit Hochschulabschluss, selbstständig und in ihrer Heimat bereits etabliert – Managerin, Ärztin, Unternehmerin oder Buchhalterin. Sie wünschte sich, zurückzukehren, sobald der Krieg vorbei ist.

Wir können nicht auf Dauer im Modus des ,Nur-vorübergehend’ leben

Valeriia Semeniuk, Journalistin

Doch der Krieg dauerte an. Und irgendwann wurde uns klar, dass wir im Modus des „Nur-vorübergehend“ nicht mehr weiterleben konnten. Heute geben laut Umfragen 65 Prozent der ukrainischen Geflüchteten zu, dass sie auch nach dem Krieg in Deutschland bleiben wollen.

Vieles, was uns früher unbequem oder fremd erschien, empfinden wir inzwischen als Vorteil. Wir haben am eigenen Leib erfahren, dass die Mühlen der deutschen Bürokratie langsam, aber zuverlässig mahlen. Und selbst wenn wir untereinander Ukrainisch sprechen, schleichen sich immer wieder deutsche Wörter in unsere Gespräche ein – ‚Termin‘, ‚Antrag‘, ‚Bescheid‘.

Jemand gründete eine ukrainische Samstagsschule, jemand anders einen Diskussionsclub. Ukrainische Kunstgruppen, Freiwilligeninitiativen und gemeinnützige Organisationen entstanden. Mittlerweile fühlen wir uns zunehmend als Teil der multikulturellen Gemeinschaft vor Ort.

Zwischen Herausforderung und Hoffnung

Unbestreitbar verdankt man das auch den fast schon „gewächshausartigen“ Bedingungen, unter denen wir hier aufgenommen wurden. Drei Jahre nach Kriegsbeginn bleibt Deutschland das einzige EU-Land, das ukrainischen Geflüchteten nach wie vor umfassende Sozialleistungen gewährt.

Ich glaube, dass sich das deutsche Integrationsmodell langfristig bewähren wird.

Valeriia Semeniuk, Journalistin aus der Ukraine

Diese Hilfsbereitschaft hat jedoch auch ihre Schattenseiten. Die Integration ukrainischer Geflüchteter in den Arbeitsmarkt gestaltet sich deutlich langsamer als etwa in Polen, das ebenfalls über eine Million Menschen aufgenommen hat. Dort sind bereits 69 Prozent der erwerbsfähigen Ukrainer berufstätig – fast so viele wie unter den Polen selbst.

In Deutschland liegt die Erwerbsquote hingegen bislang bei unter 35 Prozent. Die Kritiker der deutschen Migrationspolitik empfinden dies wohl als Ausnutzung staatlicher Großzügigkeit. In sozialen Netzwerken bin ich auf Unmut und Gereiztheit seitens deutscher Steuerzahler gestoßen.

Diese Gefühle sind nachvollziehbar. Ich glaube dennoch, dass sich das deutsche Integrationsmodell langfristig bewähren wird – gerade weil es die Würde jedes Einzelnen respektiert. Nur wer nicht von Anfang an das Gefühl hat, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, wird mit vollem Herzen Teil der Gesellschaft. Wer sich sicher fühlen darf, kann nach vorne schauen. Erst dann entsteht der Raum, um eine neue Sprache zu lernen und die eigenen Fähigkeiten einzubringen.

Ich kenne sehr viele Ukrainer, die sich nach Arbeit sehnen, um nicht zur sozialen Belastung zu werden, sondern ihren Beitrag selbst leisten möchten. Ganz zu schweigen davon, dass die Beschäftigungsquoten mit jedem Monat – wenn auch langsam – doch stetig steigen.

Für manche wird Deutschland nicht nur ein zweites Zuhause, sondern auch eine zweite Heimat. Meine Freundin aus Butscha hat inzwischen ihre Qualifikation als Physiotherapeutin anerkennen lassen und sucht nun eine feste Stelle. Erstmals seit Kriegsbeginn spürt sie, dass sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen kann. Sie hat sich entschieden, in Berlin zu bleiben – weil sie sich hier eine Zukunft vorstellen kann.

Eine andere Freundin von mir möchte zurückkehren, sobald der Krieg vorbei ist – denn hier hat sie ihren Platz nicht gefunden: Die Pflege ihres schwerkranken Kindes lässt ihr weder Zeit noch Kraft für alles, was darüber hinausgeht. „Ich werde Deutschland ohne Wehmut verlassen, aber mit großer Dankbarkeit für die menschliche Unterstützung“, sagt sie.

Ich selbst stehe noch zwischen diesen Welten – hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Rückkehr und dem Wunsch, hier in Berlin Fuß zu fassen. Wohin mein Weg mich führen wird, weiß ich noch nicht. Ich lerne, mit dieser Ungewissheit zu leben und sie anzunehmen.

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