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Am Charité Comprehensive Cancer Center wird nur noch bei der Hälte aller Patienten eine Chemotherapie eingesetzt. Sie bleibt dennoch eine wichtige Säule der Behandlung.

© Getty Images/Jon Vallejo

Schonendere Behandlung: Warum Chemotherapie einen Teil ihres Schreckens verloren hat

Viele haben große Angst vor einer Tumorbehandlung. Doch Haarausfall und Übelkeit treten immer seltener auf. Wie konnten diese Fortschritte erzielt werden?

Von Claudia Füßler

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Als Paul Ehrlich zum ersten Mal den Begriff Chemotherapie in den Mund nahm, dachte er dabei nicht an Krebs. Der deutsche Mediziner prüfte, welche Wirkungen natürliche Stoffe gegen Bakterien oder Pilze hatten und versuchte, diese synthetisch weiterzuentwickeln. Mit diesen Medikamenten wollte er Infektionserreger bekämpfen und gleichzeitig gesunde Zellen in Ruhe lassen. Diese Methode wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts für die Krebstherapie übernommen, Ehrlich gilt daher als Begründer der modernen Chemotherapie.

Seit den 1940er-, 1950er-Jahren werden chemische Substanzen eingesetzt, um bösartige Tumoren zu behandeln. Sie heißen Chemotherapeutika oder Zytostatika. Das Prinzip: Sie stören den Teilungszyklus der Krebszellen und schädigen ihr Erbgut. Da sich auch gesunde Zellen teilen und vermehren, werden auch diese von Chemotherapeutika angegriffen. Allerdings teilen sich die Zellen in einem Tumor meist viel schneller und häufiger als normale Körperzellen, sodass sie von einem dem Wirkstoff massiver geschädigt werden.

Die richtige Dosis

„Die große Herausforderung besteht darin, die exakt richtige Dosis zu finden“, sagt Ulrich Keilholz, Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center (CCCC) in Berlin. Diese Dosis müsse einerseits hoch genug sein, um den Tumor zu vernichten, andererseits den Schaden an gesunden Zellen so gering wie möglich halten. „Das ist eine Gratwanderung, bei der man durchaus an die Toxizitätsgrenze gehen muss, sonst ist die Wirkung auf den Tumor nur begrenzt“, sagt Keilholz.

Ulrich Keilholz ist Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center.

© Peitz_Wiebke

Eine Chemotherapie kann in Form von Tabletten, Spritzen oder Infusionen gegeben werden. Im Gegensatz zu Operation und Strahlentherapie, die gezielt lokal wirken, verteilen sich Chemotherapeutika im ganzen Körper und können so beispielsweise auch Mikrometastasen zerstören, die man in einem MRT oder CT noch gar nicht sieht.

Weil Chemotherapie auf alle Körperzellen wirkt, können Patienten entsprechend auch überall ihre Effekte spüren: Schleimhäute trocknen aus und entzünden sich, Störungen im Verdauungstrakt führen zu Übelkeit, Erbrechen und Durchfall, die Zahl der weißen Blutkörperchen geht zurück und das Infektionsrisiko steigt, Haare fallen aus, Gedächtnis und Konzentration sind beeinträchtigt und der ganze Körper ist erschöpft.

Exakt die passende Menge an Wirkstoff

Vor zehn, zwanzig Jahren noch waren dies klassische Symptome einer Chemotherapie. Doch inzwischen hat sich einiges getan. „Zwar gibt es keine essenziellen Neuerungen bei den Wirkstoffen, die eingesetzt werden, doch wir können damit besser umgehen“, sagt Keilholz. Zum einen sind die Dosierungen durch zahlreiche Studien mehr und mehr angepasst worden, sodass heute jeder Patient, jede Patientin exakt die Menge an Wirkstoff bekommt, die für Gewicht, Körperoberfläche und den Status der Erkrankung passend ist.

Dabei müssen die Medizinerinnen und Mediziner jedoch im Blick haben, dass Tumoren sich schnell anpassen können. „Es gibt zwar immer wieder Überlegungen, mit einer geringeren Dosis einzusteigen und die je nach Verträglichkeit zu erhöhen, doch damit riskiert man, dass der Tumor sich dran gewöhnt und resistent wird gegen den Wirkstoff“, erklärt Keilholz.

Daher sei es sinnvoller, direkt mit einer hohen, gerade noch verträglichen Dosis einzusteigen. Manche Medikamente können beispielsweise direkt binnen einer Stunde über eine Infusion gegeben werden, andere sind nur dann gut verträglich, wenn sie über einen Zeitraum von 48 Stunden nach und nach in den Körper gegeben werden.

Auch die Dosisverteilung wird basierend auf den gemachten Erfahrungen mit dem Wirkstoff und den individuellen Voraussetzungen des Patienten angepasst: Zum Beispiel längerfristig eine wöchentliche und niedriger dosierte Gabe oder eine hochdosierte für den Zeitraum von drei Wochen. „Da hat man inzwischen wirklich viel Erfahrung“, sagt Keilholz, „vor allem in den zertifizierten Krebszentren. Wenn man die Möglichkeit hat als Krebspatient, sollte man sich dort behandeln lassen.“

Übelkeit war bei Chemotherapie ein großes Problem, das haben wir heute kaum noch.

Ulrich Keilholz, Charité Comprehensive Cancer Center (CCCC) i

Ein anderer Grund, weshalb die Chemotherapie einen Teil ihres Schreckens verloren hat, sind die reduzierten Nebenwirkungen. Weil man sehr gut weiß, welche wann eintreten, werden direkt mit dem Chemotherapeutikum Mittel gegeben, die beispielsweise gegen Übelkeit oder Entzündungen wirken. „Gerade die Übelkeit war ein großes Problem, das haben wir heute kaum noch“, sagt Keilholz.

Zielgerichtete Therapie

Bei weniger als der Hälfte aller Krebspatienten setzt man am CCCC noch eine Chemotherapie ein. Möglich wurde das vor allem durch moderne Medikamente, die eine zielgerichtete Tumortherapie erlauben. „Viele verwechseln das mit der Chemotherapie, doch das ist ein Unterschied“, sagt Keilholz, „denn diese Medikamente wirken sehr spezifisch nur auf die Krebszellen. Diese haben wir vorher molekularbiologisch analysiert, so dass wir den Tumor attackieren, aber nicht die gesunden Zellen.“

Jeder Krebspatient soll die bestmögliche Therapie mit möglichst wenigen Nebenwirkungen bekommen – das ist der Ansatz, den Medizinerinnen und Mediziner verfolgen. „Dazu gehört, sich zum einen die Tumorbiologie genau anzuschauen, also die molekulare Zusammensetzung und die Veränderungen des Tumors, aber auch die bisher schon erfolgten Therapien“, sagt Monika Engelhardt, Oberärztin an der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Freiburg, „und dann gemeinsam im interdisziplinären Team zu schauen, was es für einen guten Behandlungserfolg braucht.“ 

Ziel sei somit, eine Tumortherapie so anzuwenden, dass diese gut vom Patienten vertragen wird. Engelhardt hat gemeinsam mit anderen Expertinnen und Experten ein sogenanntes Chemotherapiesicherheitssystem entwickelt. Es ist Ergebnis jahrzehntelanger Erfahrungen der Freiburger Fachleute mit Chemo-/Tumortherapien und kann inzwischen auch in anderen Kliniken in Deutschland, Österreich und der Schweiz angewandt werden.

Monika Engelhardt, Oberärztin an der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Freiburg

© Uniklinikum Freiburg

„Man bestellt mit diesem System für einen Patienten eine Tumortherapie mit dafür notwendigen Patienten-Parametern und vermeidet damit Chemotherapiebestellfehler. Zudem erhält man einen Behandlungsplan, inklusive notwendiger Begleitmedikation, damit die Therapie sicher beim Patienten ankommt und gut toleriert wird“, erklärt Engelhardt. Auf diese Weise können auch Kliniken mit weniger Expertise in der Krebstherapie ihre Patienten nach dem neuesten Stand der Forschung behandeln.

„Dass wir bei einem Patienten nur noch Chemotherapie einsetzen, gibt es heutzutage deutlich weniger.

Monika Engelhardt, Oberärztin an der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Freiburg

„Dass wir bei einem Patienten nur noch Chemotherapie einsetzen, gibt es heutzutage deutlich weniger“, sagt Engelhardt. Dennoch erlebt sie immer wieder, wie sehr sich Betroffene noch vor einer Chemo- und Tumortherapie fürchten: „Das ist ein Schreckgespenst, da kann ich manchmal mit Engelszungen reden und erklären, dass wir fortgeschrittener arbeiten können, die Haare nicht immer zwingend ausfallen und die Therapien besser verträglich sind.“

An die Antikörper angedockt

In manchen Fällen ist eine chemotherapeutische Behandlung aber durchaus angebracht, zum Beispiel, wenn man weiß, dass die Substanz gut und schnell wirken wird. Sehr gute Erfahrungen habe man unter anderem mit sogenannten Antibody-drug conjugates (ADC) gemacht, bei der die chemotherapeutische Substanz an Antikörper angedockt ist und damit konkreter eingesetzt und wirken kann als bei dem klassischen „Rundumschlag“ im gesamten Körper.

Ein Fernziel, sagt Monika Engelhardt, sei die ausnahmslos zielgerichtete Therapie von Krebserkrankungen, die Heilung möglichst vieler Tumorerkrankungen oder deren so gute Stabilisierung, dass ein Leben damit gut möglich ist. Allerdings ist das noch nicht für alle Tumorerkrankungen erreicht. Denn dafür müsste man nicht nur jeden einzelnen Tumor molekularbiologisch untersuchen, was mit hohen Kosten und Aufwand verbunden ist, sondern Medizinerinnen und Mediziner müssten auch jede Tumorerkrankung noch besser verstehen.

„Lungenkrebs ist nicht gleich Lungenkrebs“, sagt Engelhardt, „und das gilt für jede Krebsart. Wir finden in den Tumoren ganz unterschiedliche Veränderungen im Genom, unter anderem für sogenannte Treibermutationen, und zwar nicht eine pro Tumor, sondern viele verschiedene.“

Auch Metastasen können bei ein und derselben Krebsart molekularbiologisch unterschiedlich sein, auch hierfür muss die Therapie angepasst werden. Hinzu kommt, dass sich jeder Tumor im Laufe der Zeit verändert, ein Medikament, das anfangs gewirkt hat, hat dann in einer späteren Phase der Erkrankung keinen Effekt mehr. „Und zu guter Letzt wissen wir inzwischen auch, dass die Mikroumgebung, die den Tumor schützend umgibt, einen entscheidenden Anteil daran hat, ob eine Therapie funktioniert oder nicht“, sagt Engelhardt.

All diese Faktoren bewirken, dass es noch dauern wird, bis eine zielgerichtete Therapie für jeden Patienten und jede Tumorart in jedem Krankheitsstadium zur Verfügung stehen wird. Bis dahin bleibt die Chemotherapie ein wichtiger Pfeiler in der Onkologie.

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