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Vision null Neuerkrankungen: Wie kann Krebs besiegt werden?
Krebs ist ein persönliches Schicksal und eine volkswirtschaftliche Herausforderung. Im Gastbeitrag erläutert Onkologe Christof von Kalle, was medizinisch und politisch möglich wäre.
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Es gibt wenige Nachrichten, die uns so bewegen, wie die, dass jemand aus unserem persönlichen Umfeld an Krebs erkrankt ist. Das haut einen regelrecht um, das können wir nicht glauben, nicht wahrhaben. Denn wir wollen einfach nicht, dass liebe Freunde, Partner, oder gar unsere Kinder dieser Krankheit zum Opfer fallen.
Unsere eigene Verwundbarkeit
Krebs empfinden wir als heimtückisch, als furchtbar, als eine Krankheit, die wir unbedingt vermeiden wollen. Gleichzeitig legt eine Krebserkrankung auch die größten Befürchtungen unserer eigenen Verwundbarkeit bloß. Und daher leidet jeder von uns mit uns verbundenen Menschen, die an Krebs erkranken, und oftmals viel zu früh versterben. Muss das sein?
Ein kurzer Blick auf die Zahlen zeigt, dass jedes Jahr rund eine halbe Million Menschen an Krebs erkranken, von denen die Hälfte verstirbt. Das ist so viel, als wenn jedes Jahr alle Menschen des Berliner Bezirks Spandau sterben würden. Oder alle Bürger der Stadt Aachen, oder alle Freiburger.
Von anderen Lebensbereichen lernen
Eine medizinische und menschliche Katastrophe, die mit unendlich viel Leid in den betroffenen Familien verbunden ist. Und es ist auch eine enorme volkswirtschaftliche Herausforderung, da die Behandlung und weitere Versorgung von Krebspatienten hohe direkte und indirekte Kosten verursacht.
Ist dieses Schicksal unausweichlich? Wo sollten wir anpacken, um dem Krebs endlich die rote Karte zu zeigen? Hier lohnt sich ein Blick in unsere anderen Lebenswelten, denn auch anderswo lauern tödliche Gefahren. Aber überall dort agieren wir anders als in der Medizin. Wir haben als Gesellschaft beschlossen, dass in vielen anderen Lebensbereichen jeder einzelne vermeidbare Todesfall einer zu viel ist.
Auch müssen wir Vorbeugung und Früherkennung als sinnvolle Investition und nicht als Kosten verstehen.
Christof von Kalle, Onkologe
Etwa im Straßenverkehr. Hier hatten wir die traurige Situation, dass wir in Deutschland Ende der 1970er-Jahre fast 30.000 Verkehrstote pro Jahr verzeichnen mussten, mit stark steigender Tendenz, ähnlich dramatisch wie in anderen europäischen Ländern. Angesichts der immer weiter zunehmenden Zahlen setzte sich jedoch in allen Teilen der Gesellschaft der klare Wille durch, dass jeder Verkehrstote einer zu viel ist und wir daher eine „Vision Zero“ in der Verkehrssicherheit anstreben müssen.
Die Verkehrsminister und Stakeholder der europäischen Länder erarbeiteten daher ein umfangreiches Maßnahmenpaket für aktive und passive Sicherheit im Straßenverkehr. Die Prämisse dabei: selbst unter widrigen Bedingungen, und trotz menschlicher Fehlbarkeit, muss es möglich sein, auch schwere Verkehrsunfälle zu überleben.
Heute, nach fünf Jahrzehnten und vielen großen und kleinen Maßnahmen, ist es für uns selbstverständlich geworden, dass wir uns im Auto anschnallen, dass wir uns ein Auto mit Airbags, ABS und vielen elektronischen Helferlein kaufen, wir gefährliche Kreuzungen zum Kreisverkehr umbauen und viele Dinge mehr. Viel Geld in wird dabei in Vorbeugung investiert, denn wir wissen genau, wie effizient sich solche Investitionen in eine bessere Zukunft ethisch-menschlich, aber auch wirtschaftlich auszahlen.
Das Ergebnis: Die Zahl der Verkehrstoten ist von knapp 30.000 auf unter 3000 pro Jahr gesunken, pro zurückgelegtem Kilometer auf ein Dreißigstel oder weniger. Europa ist übrigens Weltmeister in dieser Disziplin.
Noch bessere Ergebnisse haben wir im Luftverkehr und bei der Arbeitssicherheit erzielt. Hier ist oft die Vision Zero mit null Todesfällen für einige Bereiche bereits erfreuliche Realität. All diese Systeme haben übrigens noch etwas gemeinsam, das sie so erfolgreich macht: Jeder einzelne Teilnehmer im System macht mit, und alle tragen die Verantwortung gemeinsam.
Studie belegt Erfolg von Prävention
Wenn wir jetzt den Traum von null vermeidbaren Todefällen, also ein Vision Zero Konzept auf die Krebsmedizin übertragen möchten, dann heißt das konkret, dass wir auch hier „jeden Stein herumdrehen“ müssen, und diese Erkrankung nicht mit einem Schulterzucken als Schicksal abtun. Auch müssen wir Vorbeugung und Früherkennung als sinnvolle Investition und nicht als Kosten verstehen.
Es wird auch darauf ankommen, dass die Politik jetzt die richtigen Weichen stellt.
Christof von Kalle, Onkologe
Angefangen bei risikoadaptierten, niederschwelligen Präventions- und Vorsorgekonzepten, über modernste Präventionsdiagnostik, bis zu neuesten Forschungs- und Datenverarbeitungssystemen, um mit einem lernenden Gesundheitssystem den Besonderheiten der jeweiligen Krebserkrankung möglichst früh auf die Spur zu kommen, und um gleichzeitig die Voraussetzungen für innovative, maßgeschneiderte Therapiekonzepte zu schaffen.
Dass hier noch sehr viel Potenzial besteht, zeigen die aktuellen Zahlen des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg, nach denen alleine durch konsequente Prävention rund die Hälfte aller auftretenden Krebsfälle bereits mit dem Stand des aktuellen Wissens zu vermeiden wäre.
Viel Sport, nicht rauchen, wenig Alkohol
Was sollten wir deshalb jetzt tun? Erstens müssen wir das Thema Gesundheit auf Priorität eins unserer persönlichen Agenda setzen, da sich Gesundheit nicht an unseren Hausarzt delegieren lässt. Also ganz konsequent: gesundes Essen, regelmäßig Sport, nicht rauchen, Alkohol nur in Maßen.
Angebote konsequent nutzen
Zweitens müssen wir genauso konsequent Vorsorgeangebote nutzen, die von den Krankenkassen angeboten werden – angefangen vom Brustkrebsscreening, über Prostata-Krebsfrüherkennung bis Vorsorgetest für Darmkrebs, auch in Abhängigkeit von Veranlagungen und Lebensalter.
Drittens sollten wir darauf achten, dass auch unsere Kinder und Enkel gesunde Ernährung, Bewegung und Vorsorgemöglichkeiten wahrnehmen. Dazu zählt besonders auch die Impfung gegen HPV-induzierte Krebserkrankungen. Wir müssen die Verantwortung für unsere Kinder ernst nehmen und verhindern, dass eine Generation heranwächst, die gegebenenfalls eine kürzere Lebenserwartung hat, als wir selbst!
Es wird auch darauf ankommen, dass die Politik jetzt die richtigen Weichen stellt. Vor allem müssen wir alle gemeinsam die Digitalisierung der Medizin mit Hochdruck weiterentwickeln. Der bisherige Daten-Blindflug ist in keiner Weise länger zu verantworten. So einen Zustand würden wir bei unserer Bank oder bei anderen, geschäftlichen Vorgängen niemals akzeptieren. Also warum beim Arzt oder im Krankenhaus?
Denn nur wenn der behandelnde Arzt alle Daten seines Patienten zeitnah, vollständig und strukturiert vor sich hat, kann er die richtige Diagnose stellen und die optimale Therapie einleiten. Dies gilt im besonderen Maße für Krebserkrankungen, da für die unterschiedlichen Mutationen und biologischen Eigenschaften der jeweiligen Krebserkrankung oft maßgeschneiderte Therapiekonzepte notwendig sind.
In diesem Sinne sind Daten für viele Krebspatienten überlebenswichtig geworden. Die Digitalisierung wird somit zum Generalschlüssel für eine innovative Krebsmedizin, die den einzelnen Patienten in den Mittelpunkt aller Überlegungen und Aktivitäten stellt und ihn auf Augenhöhe bei allen wichtigen Entscheidungen einbezieht.
Deshalb ist eine Vision Zero für Krebs der reale Weg zu dem Ziel, dass niemand mehr unnötigerweise an Krebs sterben muss. Wir sollten ihn angehen. Jetzt.
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