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Der türkische Filmwissenschaftler Can Sungu

© Alexander Steffens

Kultur und Migration: Vier Exilanten erzählen von ihrem Leben in Deutschland

Weltweit verlassen Menschen ihr Heimatland, meistens erzwungen, manchmal freiwillig. Wir stellen vier von ihnen vor – und beschreiben, wie sie das Kulturleben in Berlin beeinflussen

Stand:

Das Berliner Kulturleben ist auf vielfältige Weise von Exil, Flucht und Migration geprägt. Zum einen als geschichtliche Erfahrung aus der Zeit der Nazidiktatur, die etliche Kulturschaffende in die Emigration zwang. Zum anderen, weil Berlin eine Stadt war und ist, in der Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, die von Unterdrückung und Vertreibung betroffen sind, ein neues Zuhause finden.

Wir porträtieren die Köpfe hinter ausgewählten Theater-, Kunst- und Film-Highlights des kommenden Sommers, die auf verschiedene Weise das Themenfeld Exil reflektieren.


Der Filmwissenschaftler Can Sungu

Can Sungu, Kurator am Haus der Kulturen der Welt

© HKW/Hanna Wiedemann

Der Kurator Can Sungu ist 2008 als Istanbuler Filmwissenschaftler nach Berlin gekommen, um an der UdK am Institut für Kunst im Kontext zu studieren. Das Sinema Transtopia, das er zusammen mit seiner Partnerin Malve Lippmann ins Leben gerufen hat, ist eng mit den Themen Migration und Transnationalität verbunden. Die Geschichte begann 2014 mit der Gründung des Projektraums bi’bak in einem Ladenlokal an der Prinzenallee im Wedding, wo auf 40 Quadratmetern Filmvorführungen, Performances, Lesungen oder Pop-up-Ausstellungen stattfanden. Bi’bak, das ist Türkisch für „Schau mal“ oder „Schau mal rein“.

Film als soziales Ereignis

„Es war die Zeit, als viele Geflüchtete nach Berlin kamen“, erinnert sich Sungu, allein in unmittelbarer Nachbarschaft des Projektraums gab es zwei Unterkünfte für Asylsuchende, auf dem Oranienplatz errichteten Menschen aus Syrien und anderen Ländern ein Protestcamp. Einen dieser Aktivisten – einen Mann aus Ghana – beherbergten Sungu und Lippmann für einige Monate in ihrem Büro. „Er hatte die Idee, einen Film zu zeigen, Leute dazu einzuladen und auch gemeinsam zu kochen“, erzählt Sungu. So kam es zu den ersten Kinovorführungen – Film als soziales Ereignis. Eine Philosophie, die heute noch Bestand hat.

Im Zuge einer Zwischennutzung im Haus der Statistik am Alexanderplatz ab 2020 erfanden die beiden das Kinoexperiment Sinema Transtopia, den Begriff „Transtopie“ liehen sie sich vom Migrationsforscher Erol Yildiz: „Er bezeichnet Räume, in denen grenzüberschreitende Verbindungen zusammenlaufen und neu interpretiert werden“, erklärt Sungu.

Divers aufgestelltes Team

Inzwischen ist das Sinema Transtopia in einer ehemaligen Metallwerkstatt auf 350 Quadratmetern im Wedding heimisch geworden, mit gewachsener Struktur. Ein divers aufgestelltes Team kümmert sich um die Organisation des Programms und die Abläufe im Kino, das sechs bis sieben Vorstellungen pro Woche zeigt. Zu sehen sind Filme beispielsweise aus dem arabischen, lateinamerikanischen oder südostasiatischen Raum, kuratiert von wechselnden Kollektiven, meist mit Gästen und Diskussionen nach der Vorführung.

Im Berliner Haus der Kulturen der Welt ist Can Sungu Kurator

© Studio Bowie

Immer wieder gibt es Reihen mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten, im Sommer starten Sungu und Lippmann zudem ein Open-Air-Kino und gestalten ein Filmprogramm der Berlin Biennale mit. Dazu leistet das Sinema Transtopia wichtige Archivarbeit mit der Sammlung von Filmen, die sich hauptsächlich mit der Migrationsgeschichte Deutschlands beschäftigen.

Es ist ein Ort für Entdeckungen, hier laufen Filme, die in Berlin sonst niemand zeigt. Und die stets zur Diskussion einladen, wie Sungu – inzwischen auch Kurator beim HKW – betont: „Es ist uns wichtig, auch ein Raum für Diskurse zu sein“.


Das Theaterduo Lina Majdalanie und Rabih Mroué

Das libanesische Künstlerduo Lina Majdalanie und Rabih Mroué

© Christophe Berlet

1947 muss sich Bertolt Brecht in den USA vor dem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ verantworten. Zusammen mit 18 weiteren Künstlerinnen und Künstlern wird der deutsche Exilant beschuldigt, Mitglied der kommunistischen Partei zu sein.

Das libanesische Künstlerduo Lina Majdalanie und Rabih Mroué nimmt die Protokolle dieses realen Falls jetzt zum Ausgangspunkt der Inszenierung „Four Walls and a Roof“, die im Rahmen des Festivals Performing Exiles der Berliner Festspiele zu sehen sein wird. Wobei es in dieser Lecture Performance mit theatralen Elementen nicht nur um historische Rückschau geht, sondern vor allem Bezüge zur Gegenwart offengelegt werden sollen.

Für Majdalanie und Mroué hat der Brecht-Prozess „Ähnlichkeit mit der Situation von Emigrantinnen und Emigranten heute“. Viele, die ihr eigenes Land aus politischen Gründen verlassen mussten, stünden in der neuen Heimat vor Problemen, wenn sie bestimmte Meinungen verträten, glauben die beiden.

Fragen von Verortung und Herkunft

Bereits seit 12 Jahren leben Majdalanie und Mroué in Berlin. Mroué inszenierte schon 2004 in Berlin erstmals am HAU, 2013 entstand dort sein Stück „The White Sheets of Berlin“ über Etel Adnan, die Grande Dame der arabischen Kunst. Auch darin ging es um Fragen von Verortung und Herkunft. „Heimat ist dort, wo du deine Spuren hinterlässt und deine Erfahrungen machst“, so der Regisseur damals. „Für mich sind es nicht die Wurzeln, die Ahnen oder die Blutsbande, die zählen.“

Die Arbeiten des Künstlerduos – die meist auf Festivals in ganz Europa und darüber hinaus touren – zeichnen sich dabei durch stilistische Vielfalt aus. Sie vereinen oft dokumentarische Elemente und Fiktion, Videokunst und Performance, schlagen Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und sie setzen sich oft direkt oder indirekt mit dem Libanon auseinander. Wie „Hartaqāt“, ein Abend, der die Biografien von drei libanesischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Exil auch musikalisch verknüpfte.

Gefühl der Abgeschiedenheit

Für Mroué verbindet sich inzwischen mit dem Begriff Exil weniger ein Ort als vielmehr ein Gefühl der Abgeschiedenheit: „Wenn dir dort, wo du lebst, niemand zuhört, wenn es keinen echten Dialog gibt – das ist das Exil.“ Majdalanie betont: „Wir müssen nicht alle einer Meinung sein. Aber wir müssen miteinander reden.“ Genau diesen Austausch, zum Beispiel über Nahost-Themen, will „Four Walls and a Roof“ anstoßen.

Das Stück ist übrigens nur der Beginn einer längeren Brecht-Beschäftigung: Jüngst haben Mroué und Majdalanie die Bertolt Brecht-Gastprofessur der Stadt Leipzig übernommen.


Die Künstlerin Alisa Yoffe

Alisa Yoffe

© Jenia Filatova

Für Alisa Yoffe ist Exil „ein Prozess. Wie die Kunst.“ Das Thema zieht sich durch ihr Leben. Als sie 12 Jahre alt war, musste sie zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter ihr Geburtsland Usbekistan in Richtung Russland verlassen, weil sie nach dem Zerfall der Sowjetunion in ihrer Heimat als russischsprachige ausgegrenzt wurden.

Zum zweiten Mal ins Exil

Am 5. März 2022 ging Yoffe zum zweiten Mal uns Exil. Sie hatten einen offenen Brief gegen den russischen Angriffskrieg initiiert und auch an einer Protestkundgebung teilgenommen, bei der sie nur mit Glück der Verhaftung entging. Sie stand, so sagt sie es im Videotelefonat, vor der Wahl, „meinen Körper dem Regime zu überlassen“, denn nichts anderes bedeute Gefängnis in Russland. „Oder ihn für Kunst und Protest einzusetzen.“

Alisa Yoffe zählt den Künstlerinnen und Künstlern, die eingeladen wurden, an der Ausstellung „No“ teilzunehmen, die von der kritischen, unabhängigen Medienplattform Meduza kuratiert und im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien eröffnet wird. „No“ vereint zeitgenössische Kunst mit dokumentarischen Zeugnissen von Menschen, die von Zensur und Repressionen betroffen sind.

Arbeiten von 13 Künstlerinnen und Künstlern werden präsentiert, außerdem ein dokumentarisches Projekt mit Nahaufnahmen von Journalisten und Mitwirkenden von Meduza, entwickelt vom Dramatiker Mikhail Durnenkov. „No“ nimmt das Publikum mit in die Realität von Menschen, die gelernt haben, unter extremen Bedingungen zu leben und zu arbeiten.  

Digitale Skizze in Schwarzweiß

Die Arbeit, die Alisa Yoffe beiträgt, ist eine auf Leinwand übertragene digitale Skizze in Schwarzweiß, inspiriert von den Wartelinien im französischen Migrationsamt, wo die Künstlerin unter vielen anderen Menschen geduldig ausharrte.

Als Yoffe ihre künstlerische Karriere 2007 in Russland begann, herrschte dort längst ein Klima der Unfreiheit. „Themen wie Sex, Religion oder Politik waren tabu“, erzählt sie, mit staatlicher Zensur bekamen es alle zu tun, die mit einer Institution oberhalb der Größe einer Untergrund-Galerie arbeiteten.

Yoffe – die unter anderem mit ihrer feministischen Ausstellung „All Girls to the Front“ 2018 in Amsterdam die Kunstwelt auf sich aufmerksam machte – wurde zwar nie offiziell angezeigt. Aber in ihrem Studio in Moskau, wo sie die Wände bemalen und im Zweifelsfall schnell wieder übermalen konnte, kam es immer wieder zu Überraschungsbesuchen unter Vorwand von staatlichen Spitzeln.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine war dann der point of no return für sie. Yoffe floh zusammen mit ihrer Mutter nach Georgien, wo sie unter anderem in einer Unterkunft für ukrainische Geflüchtete aushalf und auch Ausstellungen organisierte. Inzwischen ist Frankreich ihre Heimat. Und fest steht für sie: „Mein weiterer Weg wird mit Russland nicht mehr zu tun haben.“

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