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Die 60 Jahre alte Waris Abdi sitzt mit ihrem zweijährigen Enkel Mohamed im Sahal Macalin Stabilization Centre in Baidoa in Südwestsomalia.

© Foto: dpa/Eva-Maria Krafczyk

Unicef-Chefin Catherine Russell: „Die Babys sind zu schwach, um zu schreien“

Klimakrise, Konflikte und Corona: Unicef-Chefin Catherine Russell über hungernde Kinder, die Pandemie als Armutstreiber und Probleme mit Impfkampagnen.

Frau Russell, stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie wären ein elfjähriges Mädchen in Afghanistan oder in Somalia. Wie sieht Ihr Alltag aus?
In beiden Ländern ist das Aufwachsen für Kinder besonders hart. Somalia zum Beispiel kämpft gegen eine verheerende Dürre. Viele Kinder und Mütter sind unter- und mangelernährt. Die Not erhöht das Konfliktpotenzial.

Inwiefern?
Weil die Menschen wegen der Dürre ihre Gemeinden und Dörfer verlassen und um knappe Ressourcen wie Wasser und Land konkurrieren.

Wie ist die Situation in Afghanistan?
Das Leben dort ist für Mädchen eine riesige Herausforderung. Besonders jetzt, wo sie nicht einmal mehr die weiterführende Schule besuchen können. Der öffentliche Raum schließt sich für Mädchen und Frauen. Gleichzeitig befindet sich das Land nicht mehr im Krieg, und wir erreichen mehr Kinder. Immerhin.

Sie waren vor Kurzem nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Äthiopien. Was ist Ihnen besonders nahe gegangen?
Die Lage der schwer mangelernährten Kinder auf den Gesundheitsstationen ist besonders erschütternd. Die Babys sind sogar zu schwach, um zu schreien oder zu weinen. In den Kliniken ist es still. Doch es gibt auch hoffnungsvolle Momente.

Nämlich?
In Afghanistan unterstützt Unicef Bildungseinrichtungen in den Gemeinden. Die Mädchen und Jungen freuen sich, dass sie in ihren Dörfern in den Unterricht gehen können. Auch wenn dies kein echter Ersatz für staatliche Grundschulen oder weiterführende Schulen ist. Die Eltern unterstützen diese lokalen Einrichtungen. Sie wissen, dass gerade die Mädchen ohne Bildung keine Zukunft haben werden.

In armen Ländern ist es auch schlecht um die Gesundheit von Kindern bestellt. Woran liegt das?
Armut ist sicherlich einer der Hauptgründe. Allein die Coronavirus-Pandemie hat weltweit weitere 100 Millionen Kinder in die Armut getrieben.

25
Millionen Kinder erhielten 2021 keine Impfung gegen lebensbedrohliche Krankheiten.

Und Millionen gehen wegen Corona nicht mehr zur Schule...
Es gibt Krisen, die es Kindern erschweren, weiter zu lernen und gesund zu bleiben. Covid gehört sicherlich dazu. Die Pandemie hat beispielsweise dazu beigetragen, dass Kinder vielerorts keine Routineimpfungen erhalten haben.

Weltweit bekommen 25 Millionen Kinder keinen Impfschutz gegen Tetanus, Masern, Röteln oder Diphterie. Ist die Pandemie dafür der alleinige Grund?
Nein. Trotz vieler Fortschritte gab es auch vor Covid schon viele Kinder, die wir mit unseren Impfkampagnen nicht erreichen konnten. Etwa weil sie in schwer zugänglichen Gebieten leben. Unicef bemüht sich seit Jahrzehnten darum, dass Kinder geimpft werden. Wegen Corona gab es leider Rückschritte. Bei Polio sind wir nah dran, die Krankheit auszurotten. Auch wenn jetzt neue Fälle registriert wurden.

In Afghanistan schließt sich öffentliche Raum für Mädchen und Frauen.

Catherine Russell, Unicef-Chefin

In Afghanistan hat es Unicef zumindest geschafft, drei Millionen Kinder gegen Polio impfen zu lassen – trotz der Taliban. Wie hat Ihre Organisation das erreicht?
Zunächst einmal: Wir werden Kinderlähmung nicht besiegen können, wenn wir Kinder nicht überall auf der Welt impfen. Das kann für die Impfteams mitunter auch sehr gefährlich sein. Denn sie stoßen mancherorts auf Widerstand und Misstrauen – für mich sind sie Helden.

Afghanische Mädchen an weiterführenden Schulen, wie hier in Masar-i-Scharif, lassen die Taliban nicht mehr zu.
Afghanische Mädchen an weiterführenden Schulen, wie hier in Masar-i-Scharif, lassen die Taliban nicht mehr zu.

© Foto: dpa/XinHua/Kawa Basharat

Welche Zugeständnisse muss man einem Regime wie dem der Taliban machen, damit Impfteams ihre Arbeit machen können?
Unicef ist weltweit tätig. Und wir arbeiten in der Regel mit den Gemeinden vor Ort sehr eng zusammen. Wir sind überparteilich, politisch neutral. Unsere Aufgabe ist es immer, Kindern zu helfen. Deshalb wird Unicef vertraut.

Fast 830 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Was ist aus dem Ziel der Vereinten Nationen geworden, den Hunger bis 2030 zu besiegen?
Es gibt Rückschläge bei allen nachhaltigen Entwicklungszielen Covid hat viele Fortschritte zunichte gemacht. Jetzt kommt noch die Ernährungskrise hinzu. Das ist zum Teil auf den Ukraine-Krieg zurückzuführen. Hinzu kommt die immense Inflation. Die Kosten für therapeutische Zusatznahrung sind um 16 Prozent gestiegen. In dieser Situation ist es sehr wichtig, einen Staat wie Deutschland als großzügigen Unterstützer an unserer Seite zu wissen.

Auch reiche Staaten wie Deutschland sind wirtschaftlich angeschlagen. Wie stellen Sie sicher, dass die Unterstützung nicht abreißt?
Jedes Land hat seine Herausforderungen. Aber in einer globalisierten Welt sind alle miteinander verbunden – man kann sein Land nicht abschotten. Wenn wir Polio überall ausrotten, dann sind alle Kinder sicherer. Wenn wir den Hunger in den Griff bekommen, trägt das vielerorts zu Stabilität bei. Staaten, in denen Kinder eine Ausbildung erhalten, sind zumeist weniger auf ausländische Hilfe angewiesen.

Umgeben von Fluten: Kinder in der südwestlichen pakistanischen Provinz Belutschistan auf Bettgestellen.
Umgeben von Fluten: Kinder in der südwestlichen pakistanischen Provinz Belutschistan auf Bettgestellen.

© Foto: dpa/Zahid Hussain

Der Klimawandel gehört weltweit zu den schwersten Krisen. Vor allem arme Länder sind betroffen. Wie kann ihnen geholfen werden?
Keine Frage, die Klimakrise hat schon heute verheerende Folgen. Auch wenn Unicef keine Klimaorganisation ist, versuchen wir, auf jede erdenkliche Art und Weise zu helfen. Zum Beispiel, indem tiefe Brunnen gebaut werden, damit die Gemeinden versorgt und nicht auf Wassertransporte per Lkw angewiesen sind. Wenn neue Schulen entstehen, werden zur Stromversorgung Solaranlagen installiert.

Unicef hat vor Kurzem „Bildungsalarm“ geschlagen. Was bedeutet das?
Vor Covid konnten schätzungsweise 50 Prozent der Zehnjährigen nicht mal einen einfachen Satz lesen und verstehen. Auch beim Rechnen gab es große Defizite. Nun sind es 70 Prozent der Zehnjährigen, die solche Grundfertigkeiten nicht beherrschen! Wir müssen die Kinder wieder in die Schule zurückbringen und dafür sorgen, dass sie lernen.

Funktioniert das?
Ja, aber wenn sie zurückkehren, besteht die Gefahr, dass sie die Schule wieder abbrechen. Deshalb braucht es beispielsweise Aufholprogramm.

Experten sprechen von einer Lernkrise. Ernüchternd, oder?
Wir können keine Welt akzeptieren, in der Kinder ohne Bildung aufwachsen. Sie müssen lesen, schreiben und rechnen können, damit sie im Leben weiterkommen. Sonst hat das katastrophale Folgen für die ganze Welt.

Das dürfte allen klar sein. Aber was muss konkret geschehen?
In diesen unruhigen Zeiten ist es wichtig, die Kinder und ihre Rechte zu stärken und die Regierungen zu überzeugen, gerade jetzt in Bildung und Schutz der ärmsten Mädchen und Jungen investieren. Für die Unterstützung aus Deutschland sind wir sehr dankbar!

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