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Zoff in der Schienenindustrie: Alstom möchte wie Stadler längere Arbeitszeiten
Seit Jahren streiten Arbeitnehmervertreter und das Management über die Sanierung der deutschen Alstom-Standorte. Inzwischen gibt es 2000 Klagen bei Arbeitsgerichten.
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Mit großer Genugtuung werden die 700 Beschäftigten des Görlitzer Alstom-Werks Ende des Monats auf ihre Gehaltsabrechnung schauen. Zum ersten Mal seit drei Jahren bekommen sie Urlaubsgeld.
Damit haben die Sachsen eine Sonderstellung unter den deutschen Alstom-Werken, die unter einen sogenannten Zukunftstarifvertrag fallen. Aufgrund des 2023 abgeschlossenen Vertrags verzichtete die Belegschaft auf das Urlaubsgeld – aber die Zukunft ist so unsicher wie eh und je.
Rund 2000 Alstom-Mitarbeitende aus den Werken in Bautzen und Hennigsdorf, Kassel und Siegen haben inzwischen vor den Arbeitsgerichten Klagen eingereicht, um den Arbeitgeber zur Zahlung des Urlaubsgeldes zu verpflichten.
Die IG Metall stellt sich auf einen zähen Konflikt ein, der erst vom Bundesarbeitsgericht gelöst werden könnte. Das Unternehmen wiederum versucht so günstig wie möglich aus der verfahrenen Lage zu kommen. Es geht um rund 100 Millionen Euro.
Nur die Arbeitnehmer hielten sich an die Verpflichtung
Alstom hatte Anfang 2023 mit der IG Metall den Zukunftstarifvertrag abgeschlossen, um die defizitäre deutsche Tochter in die Spur zu bringen: Die Beschäftigten verzichteten auf Geld, das Unternehmen verpflichtete sich im Gegenzug zu Investitionen und garantierte die Arbeitsplätze.
Aber nur die Arbeitnehmer hielten sich an die Verpflichtung: im vergangenen Herbst kündigte Alstom die Schließung von Görlitz an. Damit war die Zahlung des Urlaubsgeldes zumindest für 2025 in Görlitz unvermeidlich.
Die Beschäftigten an den anderen Standorten, darunter das brandenburgische Hennigsdorf mit 2000 Mitarbeiten und Bautzen mit gut 1000 Beschäftigten, bekommen das dritte Jahr in Folge kein Urlaubsgeld überwiesen. Entsprechend ist die Stimmung in den Belegschaften.
Alstom-Deutschlandchef Tim Dawidowsky, seit Oktober im Amt, bemüht sich nun um eine außergerichtliche Lösung. Wenn fast ein Viertel der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber klagt, muss sich der Chef Sorgen machen um die Motivation seiner Leute.

© IMAGO/Matthias Wehnert
Die französische Alstom hatte 2021 die kanadische Bombardier Transportation mit einem Dutzend Standorte und gut 9000 Mitarbeitenden in Deutschland übernommen. Das Kalkül von Konzernchef Henri Poupart-Lafarge: Wer auf dem größten europäischen Markt produziert, der hat gute Chancen, in Deutschland Ausschreibungen für U- oder S-Bahnen, Regionalzüge oder Digitalisierungsprojekte zu gewinnen.
Vier Jahre zuvor, 2017, hatte Poupart-Lafarge mit Siemens-Chef Joe Kaeser die Zusammenlegung der Zugsparten der Konzerne vereinbart und das unter anderem mit der Bündelung der Kräfte gegenüber dem Weltmarktführer CRRC aus China begründet. Doch die EU-Kommission untersagte aus kartellrechtlichen Gründen das Projekt, und der Franzose sah sich nach einer Alternative um: Bombardier.
Die Kanadier hatten 1998 die Hinterlassenschaft des Kombinats Schienenfahrzeugbau der DDR gekauft sowie die Zugsparte von Daimler (Adtranz) übernommen. Es folgten unglückliche Jahre; Managementfehler, Qualitätsdefizite, Investitionslücken und ständige Sanierungsprogramme beschädigten die Bombardier-Standorte. Bis heute.
Alstom-Chef wird ausgewechselt
Der in Paris ansässige Alstom-Chef Poupart-Lafarge hatte den Zustand der neuen deutschen Tochter offenbar falsch eingeschätzt und zog personelle Konsequenzen. Im Herbst vergangenen Jahres ersetzte er Müslüm Yakisan als Präsident der deutschsprachigen Länder durch den Siemens-Energy-Manager Tim Dawidowsky.
Inzwischen sind auch die Tage des Konzernchefs selbst gezählt: Am 16. Mai teilte Alstom mit, es werde ein Nachfolger für den seit 2016 amtierenden CEO Poupart-Lafarge gesucht.
Drei Jahre nach der Übernahme von Bombardier hat Alstom 2024 in Deutschland ein Minus von rund 200 Millionen Euro eingefahren. In diesem Jahr peilt das Management um Dawidowsky eine schwarze Null an.
Es gibt durchaus positive Entwicklungen. Im Februar feierte man gemeinsam mit Bundeskanzler und sächsischem Ministerpräsident die Übertragung des Görlitzer Werks auf den Panzerhersteller KNDS, der rund 400 der 700 Alstom-Beschäftigten übernimmt. Ein Problem weniger.
Werk in Hennigsdorf muss umgebaut werden
Ein paar Kilometer weiter, in Bautzen, entsteht eine neue Fertigungslinie, auch weil jüngst ein Auftrag für 35 Regionalzüge aus Bulgarien den Standort auslastet. Die Bautzener bauen neben Regionalzügen unter anderem Straßenbahnen für Dresden, Magdeburg und Göteborg sowie S-Bahnen für das Rheinland.

© Bernd Settnik/dpa/picture alliance
Die Zukunft von Bautzen ist sicher, doch in Hennigsdorf im Norden Berlins läuft die Fertigung Ende nächsten Jahres aus. Der Standort soll sich künftig auf Wartung und Service konzentrieren, für die digitale Schiene könnten die Züge in Hennigsdorf ausgerüstet werden. Dazu muss das Werk umgebaut werden. Das kostet Geld.
Dawidowsky weiß das und bringt das Thema ein in die Verhandlungen mit den Arbeitnehmern. Alle zwei Wochen sind bis in den September hinein Spitzengespräche vereinbart zwischen Dawidowsky und Personalchef Peter Björn Offtermatt sowie Gesamtbetriebsratschef Stefan Lühr und dem IG-Metall-Juristen Jochen Homburg.
Spätestens im Oktober möchten das Quartett einen Vergleich abschließen, der die arbeitsgerichtlichen Klagen obsolet macht und eine teilweise Zahlung des Urlaubsgeldes beinhaltet – irgendwo zwischen 50 und 100 Millionen Euro liegt der Kompromissbetrag.
Wenn das geklärt ist, könnten sich die Arbeitnehmervertreter auf einen neuen Vertrag einlassen, den Dawidowsky mit Hinweis auf den Wettbewerber Stadler anstrebt. Das Schweizer Unternehmen baut in Berlin-Pankow mit 2000 Beschäftigten U- und S-Bahnen.
Ähnlich wie Alstom hatte auch Stadler zuletzt einen Verlust von rund 200 Millionen Euro erwirtschaftet und deshalb mit Stellenabbau in Pankow gedroht. Die IG Metall ließ sich auf eine befristete Arbeitszeiterhöhung von 38 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich ein.
Alles in allem beträgt der Sanierungsbeitrag der Stadler-Belegschaft rund 26 Millionen Euro, dafür gibt es keinen Arbeitsplatzabbau, und von 2031 an wendet das Unternehmen den Flächentarif an, wozu auch die 35-Stunden-Woche gehört.
Ähnliches ist bei Alstom denkbar, also eine befristete Erhöhung der Arbeitszeit. Dabei bewegt sich die IG Metall auf dünnem Eis: Wenn die Belegschaften von Stadler und Alstom länger arbeiten, könnte der dritte große Schienenfahrzeughersteller hierzulande eine Wettbewerbsverzerrung beklagen und gleichfalls Entgegenkommen der Gewerkschaft fordern: Siemens Mobility.
Aktuell gibt es dazu keine Veranlassung. Der Auftragseingang von Siemens Mobility erhöhte sich zuletzt um 22 Prozent, der Quartalsgewinn stieg sogar um 23 Prozent auf 291 Millionen Euro und die Marge auf gut neun Prozent. Alstom und Stadler sind davon weit entfernt.
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