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Auch wegen „Explosion antisemitischer Vorfälle“: Jüdische Studierendenvertreterin will Deutschland verlassen
Laut einem Bericht haben antisemitische Vorfälle an deutschen Universitäten 2023 um 650 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Berlin sei ein Hotspot, erklärt Hanna Veiler.
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Protestcamps, Hochschulbesetzungen, tätliche Angriffe und Vorträge von Forschenden, denen Antisemitismus vorgeworfen wird. Seit nunmehr 17 Monaten, seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, sind deutsche Universitäten Zentren des propalästinensischen Protests. Immer wieder kommt es dabei zu antisemitischen Aussagen.
Jüdische Studierende berichten, sich seitdem an deutschen Hochschulen nicht mehr sicher zu fühlen. Die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) und das American Jewish Comittee Berlin (AJC) haben das Erleben jüdischer Studenten und Dozenten nun in einem Bericht festgehalten.
Dieser bezieht sich unter anderem auf Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Laut Rias haben antisemitische Vorfälle, die sich 2023 an Hochschulen ereigneten, im Vergleich zum Vorjahr um 650 Prozent zugenommen. Seien es 2022 noch 23 Vorfälle gewesen, habe man im Jahr 2023 151 Delikte verzeichnet.
Die massive Zunahme antisemitischer Vorfälle an Universitäten steht demnach auch in keinem Verhältnis zu der Steigerung, die Rias gesamtgesellschaftlich dokumentiert hat. Wurden 2022 etwas mehr als 2600 Vorfälle notiert, waren es im Folgejahr knapp 4800.
Die Steigerung geht vor allem darauf zurück, dass es ein Plus von 2000 Fällen gegeben hat, in denen verletzendes antisemitisches Verhalten gemeldet wurde. Darunter fallen laut JSUD-Präsidentin Hanna Veiler unter anderem ein allgemein fehlendes Sicherheitsgefühl von Juden, Vertrauensbrüche und Isolation in sozialen Beziehungen.

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Viele jüdische Studierende hätten ihre Universitäten in den Wochen nach der Terrorattacke aus Angst gemieden. Veiler spricht angesichts der Zahlen von einer „Explosion antisemitischer Vorfälle“.
Für Veiler, die seit dem 7. Oktober 2023 zu einer lauten Stimme und Repräsentantin vieler junger Jüdinnen und Juden geworden ist, war das ein Grund für ihre Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Diese gab Veiler am Mittwoch gegenüber der „Jüdischen Allgemeinen Zeitung“ bekannt.
Dass jeder fünfte Wahlberechtigte bei der Bundeswahl die AfD gewählt habe, sei nur der „letzte Tropfen“ gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. „Ich brauche Abstand zu all dem, was gerade in diesem Land passiert“, sagt Veiler. Das Amt als JSUD-Präsidentin gibt sie mit Ablauf ihrer Amtszeit kommende Woche ab.
Veiler sieht Hamas-Botschaft in Deutschland fruchten
Aus der Vielzahl der als antisemitisch verstandenen Protestaktionen propalästinensischer Aktivisten im Hochschulkontext hebt Veiler den tätlichen Angriff gegen Lahav Shapira, einen jüdischen Studenten der Freien Universität Berlin, hervor. Shapira wurde fernab des Campus in Berlin von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen.
Der Angriff habe ausgedrückt: „Jüdinnen und Juden sowie alle, die solidarisch mit dem Staat Israel sind, sollen sich nirgends sicher fühlen dürfen.“ Genau das sei auch die Intention der Terrorattacke des Hamas am 7. Oktober gewesen.
In Berlin erkennt Veiler einen „Hotspot“ des Antisemitismus an deutschen Hochschulen, warnt aber davor, die Verhältnisse an anderen Hochschulen zu bagatellisieren. „Die Situation in kleineren Universitätsstädten ist prekär, da sie nicht im selben Maße wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen in den Großstädten auf Unterstützungsangebote zurückgreifen können“, sagt Veiler.
Jüdinnen und Juden sowie alle, die solidarisch mit dem Staat Israel sind, sollen sich nirgends sicher fühlen dürfen.
Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland
Zu Wort kommen in dem Bericht auch jüdische Dozierende und Studierende aus dem gesamten Bundesgebiet. Das „Netzwerk jüdischer Hochschullehrender“ verweist darauf, dass Aktivisten immer wieder die Stimmen von Juden, die sich kritisch über die Situation in Israel und Gaza äußern, als Rechtfertigung für antisemitische Haltungen instrumentalisieren würden.
Veiler merkt an, dass Juden sich seit dem 7. Oktober unabhängig von politischer Gesinnung und Anlass immer wieder für die Politik der israelischen Regierung rechtfertigen müssten. Dahinter verberge sich die „Aufforderung zur Entschuldigung“, die Veiler entschieden zurückweist.
„Dass sich Jüdinnen und Juden nach dem für sie tödlichsten Tag in der Geschichte seit dem Holocaust entschuldigen sollen, macht die andauernde Täter:innen-Opfer-Umkehr deutlich, der Jüdinnen und Juden im universitären Raum ausgesetzt sind“, sagt Veiler.
Hartes Vorgehen gegen Aktivisten gefordert
Ihren Bericht schließen der JSUD und das AJC mit 16 Forderungen ab, die sich vor allem an die Hochschulleitungen richten. Diese müssten im Falle von Besetzungen von ihrem Hausrecht Gebrauch machen, die Besetzungen sofort polizeilich auflösen lassen und Hausverbote gegen die Aktivisten aussprechen.
Damit das geschehen könne, müsse die Polizei die Personalien der Aktivisten aufnehmen, sagt Remko Leemhuis, der Direktor des AJC. Dass die meisten von ihnen nicht Studierende seien, hält er für eine unbelastbare Behauptung der Universitätsleitungen, um sich gegen Kritik zu schützen.
Sorgen, dass eine Normalisierung von Polizei-Präsenz auf dem Campus schleichend die Wissenschaftsfreiheit bedrohen könne, hält Reemhuis für abwegig: „Wenn die Polizei auf dem Campus Strafverfolgung betreibt, mischt sie sich nicht in wissenschaftliche Diskussionen ein.“
Von den Universitätsleitungen erwarten der JSUD und das AJC außerdem, Studierende, die wegen einer antisemitischen Straftat verurteilt worden sind, zu exmatrikulieren, sowie ihre Kooperationen mit israelischen Hochschulen auszubauen.
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