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Maskenmeer: Pendler am Bahnhof Shinagawa in Tokio Anfang März.

© Athit Perawongmetha/Reuters

Corona-Infektionen steigen stark: Japan droht vom Musterschüler zum Sorgenkind zu werden

Masken überall, soziale Distanz, ausgeklügelte Kontaktnachverfolgung: Japan kam gut durch die Pandemie. In der dritten Corona-Welle scheint sich das zu ändern.

Wenn Länder genannt werden, die mit der Pandemie vorbildlich umgehen, ist Japan immer dabei. Doch jetzt rollt die dritte Coronavirus-Welle durch den ostasiatischen Inselstaat. Die Regierung vermeldet Höchststände bei der Zahl der Neuinfektionen. Japans Regierungschef Yoshihide Suga rief bereits am 19. November die „höchste Alarmstufe“ aus, Gesundheitsminister Tamura Norihisa sagte am Dienstag, die stark steigende Zahl der schweren Krankheitsverläufe zeige, „dass wir vor einer Krise stehen“, wie der japanische Sender NHK online berichtete.

Aus dem Corona-Musterschüler könnte also ein Risikopatient werden, wenn in den nächsten drei Wochen keine Trendwende gelingt. Bisher war Japan relativ glimpflich durch die Pandemie gekommen – und das, obwohl es mit seinen 126 Millionen Einwohnern weltweit das Land mit dem höchsten Durchschnittsalter ist. Fast 27 Prozent der Japaner sind älter als 65 Jahre, zudem ist die Bevölkerungsdichte anderthalb Mal so groß wie in Deutschland. Im Vergleich zu Europa muten die Fallzahlen nach wie vor niedrig an. Aktuell kommen aber täglich zwischen 2000 und 2500 neue Fälle hinzu.

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Den Höchststand gab es bisher am vergangenen Samstag mit 2684.Insgesamt wurden bisher rund 151.000 bestätigte Fälle registriert, wobei vergleichsweise sehr wenig getestet wird. Das Statistikportal Worldometer verzeichnet für Japan seit Beginn der Pandemie 3,54 Millionen Tests. Zum Vergleich: In Deutschland gab es bisher 27,85 Millionen Untersuchungen auf das Coronavirus.

Mehr als 2100 Japaner starben bisher an Covid-19

Mehr als 2100 Japaner starben seit Beginn der Krise in Verbindung mit einer Covid-19-Erkrankung. Und nun ist die Sorge groß, dass diese Zahlen deutlich steigen. Japan verfügt zwar über viele Krankenhausbetten, hat aber nur kleine Intensivstationen und zu wenig für die Arbeit dort ausgebildetes Personal. Offiziellen Angaben zufolge gibt es beispielsweise in der Hauptstadtregion Tokio, wo rund 18 Millionen Menschen leben, derzeit rund 150 Intensivbetten für Covid-19-Patienten, vergangene Woche waren 36 Prozent davon bereits belegt.

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Japan hatte auf die Coronavirus-Krise mit moderat anmutenden Auflagen reagiert. Das Land profitierte wie beispielsweise Neuseeland und Australien von seiner Insellage, machte im Frühjahr die Grenzen dicht. Auch jetzt sind die Einreisebestimmungen noch streng, auch bei einem negativen Test sind 14 Tage Quarantäne vorgeschrieben. Einen scharfen Lockdown gab es allerdings nie.

Das hat zwei Gründe. Einerseits versuchte die Regierung die Wirtschaft des Landes so gut wie möglich am Laufen zu halten. Anderseits hatten die Verantwortlichen in Tokio auch keine andere Wahl, als auf das Verantwortungsbewusstsein der Bürger zu setzen: Die japanische Regierung verfügt nicht über die rechtlichen Grundlagen, um Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen zu verhängen und mit Bußgeldern zu ahnden.

„In Japan gibt es ein großes Kollektivbewusstsein“

Dennoch funktionierte die Strategie – in den beiden ersten Wellen. Für den aus Berlin stammenden David Meerwein liegt der Grund auf der Hand: „Hier in Japan gibt es ein großes Kollektivbewusstsein. Es wird mehr an die Gemeinschaft gedacht, die Individualität steht nicht so im Vordergrund wie in Deutschland. Die Menschen halten die Regeln ein. Da spielt sicher auch der soziale Druck eine Rolle. Niemand möchte negativ auffallen.“

Der gebürtige Berliner David Meerwein lebt seit dreieinhalb Jahren in Osaka.
Der gebürtige Berliner David Meerwein lebt seit dreieinhalb Jahren in Osaka.

© Privat

Dies gelte zum Beispiel auch bei der Maskenfrage. „Man trägt eine Maske bereits, wenn es eine Erkältungswelle gibt. Sei es, um sich selbst zu schützen oder andere“, sagt Meerwein im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Eine Pflicht, einen Mund-Nasenschutz zu tragen, gibt es auch jetzt nicht.

Küsschen rechts, Küsschen links? Undenkbar!

Meerwein lebt seit rund dreieinhalb Jahren in Osaka, das gemeinsam mit Kyoto und Kobe eine Metropolregion mit rund 18 Millionen Einwohnern bildet. Er pendelt täglich rund 30 Minuten mit dem Zug und sagt: „Ich sehe nur ganz selten jemanden ohne Maske, da fühlt man sich schon sicherer.“ Seit Mitte Oktober können die Japaner Masken übrigens auch an Getränkeautomaten kaufen.

Generell habe Japan bisher von seinen Traditionen profitiert, sagt Meerwein. „In dieser Kultur wird Distanz gewahrt. Küsschen rechts und links zur Begrüßung sind undenkbar. In meiner Generation gibt es allenfalls unter Freunden eine Umarmung zu Begrüßung. Und Hände schütteln nur Japaner, die mal im westlichen Ausland gelebt haben“, sagt Meerwein.

Nach ein paar Gläsern werden auch Japaner anhänglicher

Allerdings müsse man eine wichtige Unterscheidung machen. „Wenn Japaner trinken, werden auch sie sehr laut, sprechen viel und kommen gerne auch Fremden nahe.“ So seien als Hotspots der ersten Welle im Frühjahr vor allem die in Japan beliebten Hostess-Bars ausgemacht worden. „Das hat nichts mit Sex zu tun“, erklärt Meerwein. In diesen Bars werden attraktive Frauen dafür bezahlt, sich mit Männern zu betrinken.“ Die Hemmungen fallen, Abstand und Masken werden vergessen.

Andererseits sei das Hygieneverhalten zumindest in Restaurants sehr gut. „Es wird immer die Temperatur der Gäste gemessen, wie übrigens auch an meiner Schule. Anschließend werden ihnen die Hände desinfiziert. Entweder von einem Roboter oder vom Personal.“

Trotz dieser Corona-Auflagen sagt David Meerwein: „Mein Leben hat sich in der Pandemie hier nicht grundsätzlich geändert. Wir können uns mit Freunden treffen und auch ausgehen. Ich bin zwar vorsichtiger, habe aber nicht das Gefühl, dass ich eingeschränkt bin.“

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Im April waren vor allem noch ältere Menschen vom Coronavirus betroffen, in der zweiten Welle im Juli/August stieg die Zahl der Neuinfektionen besonders bei den unter 30-Jährigen an; als Infektionsherde galten Bars in den Vergnügungsvierteln. Jetzt gibt es zunehmend auch Fälle in den Altersgruppen um die 50 und 60 Jahre, das Virus verbreitet sich zudem auch immer häufiger in Familien.

Gastronomie in Tokio soll nun um 22 Uhr schließen

Wie schon im Frühjahr reagiert die Regierung auf die dritte Welle mit vor allem nicht bindenden Maßnahmen. So wurden in Tokio Kneipen und andere Etablissements, die Alkohol verkaufen, sowie die beliebten Karaoke-Bars gebeten, 20 Tage lang schon um 22 Uhr zu schließen. Tokio will Betreibern, die dauerhaft mitmachen, umgerechnet mehr als 3200 Euro zahlen.

Die Menschen wurden zudem aufgefordert, nicht unnötig die Wohnung zu verlassen und wieder im Homeoffice zu arbeiten. Nach dem Ende des im Frühjahr erklärten Notstands waren seit Juni immer mehr Angestellte in die Büros zurückgekehrt. Untersagt sind Versammlungen von mehr als 100 Personen. In Osaka und Sapporo gelten ähnliche Maßnahmen.

Backward Tracing klappt offenbar nicht mehr

Als vorbildlich galt Japan bisher auch in der Kontaktverfolgung, dem Tracing. Klar war in der Pandemie bald: Die meisten Ansteckungen mit dem Coronavirus erfolgen in Clustern, durch Superspreader. Das zeigte sich schon früh mit Fällen aus Chorproben, aus Pflegeheimen oder von Familienfeiern. Das krasseste Beispiel stammt aus Südkorea: Eine Frau, inzwischen bekannt als „Patientin 31“, besucht nach einer Chinareise vier Gottesdienste der Shincheonji-Sekte. Heute weiß man: Sie infiziert in diesen Gebetsräumen mehr als 40 Sektenmitglieder und löst eine Kettenreaktion aus. Mehr als 4000 Infizierte lassen sich allein auf die Sekte zurückführen, wie unter anderem die ARD online berichtete.

Die Rolle von Clustern und Superspreadern bei der Verbreitung von Sars-CoV-2 beeinflusst auch das Contact-Tracing. Heute wird vor allem „vorwärts“ und „seitwärts“ getestet: Von einem bestätigten Fall werden ab Zeitpunkt der Infektion oder ein paar Tage davor alle bekannten Kontakte eruiert und gegebenenfalls getestet.

An vielen Schulen wird die Temperatur gemessen. An anderen muss täglich eine Bestätigung der Eltern vorliegen.
An vielen Schulen wird die Temperatur gemessen. An anderen muss täglich eine Bestätigung der Eltern vorliegen.

© Kyodo/dpa

Experten halten ein sogenanntes „Backward“ oder rückwärtiges Tracing für effektiver. Damit ist gemeint, diejenige Person zu eruieren, die die Infizierte Person angesteckt hat. Weil sehr wenige Menschen sehr viele andere infizieren können, ist dabei die Chance groß, einen Superspreader zu finden. „Der Mensch, der dich angesteckt hat, hat wahrscheinlich auch noch andere Menschen infiziert“, sagt Antoine Flahault, Direktor des Institute of Global Health an der Universität Genf und Mitglied der Schweizer Covid-19-Taskforce, dem Schweizer „Tagesanzeiger“.

Bisher war die Kontaktverfolgung ein Geheimrezept

Einer Studie des britischen Epidemiologen Adam Kucharski zufolge könnte man mit Backward Tracing zwei- bis dreimal so viele Infektionen feststellen wie mit dem herkömmlichen Tracing – weil dabei die Chance eben groß ist, einen Superspreader zu finden. Für Flahault ist daher klar: „Die Priorität beim Contact-Tracing sollte ganz klar beim Rückwärts-Tracing liegen.“

Schon früh habe man erkannt, dass sich das Virus ungleichmäßig ausbreite, zitierte das Magazin „The Atlantic“ auch den japanischen Professor und Covid-19-Taskforce-Mitglied Hitoshi Oshitani. Bereits im Februar habe man begonnen, sich darauf zu fokussieren, einzelne Cluster mit intensivem Backward Tracing zu zerschlagen.

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Allerdings hat die Methode offenbar Grenzen, wie sich jetzt zu zeigen scheint. Rudolf Hauri, Kantonsarzt in Zug und Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz, sagte dem „Tagesanzeiger“: „Die Idee ist schon gut.“ Das Backward Tracing funktioniere aber nur, wenn die Fallzahlen tief seien. „Dann kann man schnell Herde identifizieren und isolieren.“ Mit rasch steigenden Fallzahlen sei das aber kaum mehr möglich, weil es schlicht zu viele neue Herde gebe.

Genau dies ist offenbar nun auch in Japan der Fall. Gesundheitsexperten im Land warnen, dass die Verfolgung von Clustern nicht mehr funktioniere. Wie die „Neue Zürcher Zeitung“ schreibt, war bereits in der letzten Novemberwoche bei mehr als der Hälfte der Neuinfektionen der Ansteckungsherd nicht mehr nachzuvollziehen.

Subventionsprogramm für Reisen wird zum Bumerang

Die dritte Welle streut nun also mehr als die beiden ersten – und die Regierung hat selbst ihren Teil dazu beigetragen, dass die Fallzahlen so ansteigen. Im Bestreben, die Wirtschaft weiter anzukurbeln, legte sie millionenschwere Subventionsprogramme für Reisen („Go To Travel“) und Restaurantbesuche („Go To Eat“) auf, um die Japaner zum Geld ausgeben zu bewegen.

Die Olympischen Ringe wurden am Dienstag wieder in Tokio installiert.
Die Olympischen Ringe wurden am Dienstag wieder in Tokio installiert.

© Imago Images/Kyodo News

Dies funktionierte eine Weile, die Couponprogramme kamen gut an, trotzdem blieb die Zahl der Neuinfektionen niedrig. Nun aber weisen neben den Metropolen beliebte Reiseziele wie Hokkaido im Norden und Okinawa im Süden mit die höchsten Inzidenzwerte, also Neuinfektionen pro Einwohner, auf. Tokio hat das Programm nun vorerst eingestellt, andere Regionen wollen nachziehen, wenn die Fallzahlen weiter steigen.

Japans Wirtschaft läuft zwar nach schweren Einbrüchen wegen der Pandemie wieder auf Hochtouren. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der vor Deutschland drittgrößten Volkswirtschaft der Welt zog im dritten Quartal – auf das Jahr hochgerechnet – um 21,4 Prozent an, wie die Regierung in Tokio Mitte November bekanntgab. Es ist das erste Mal nach drei Quartalen, dass Japans Wirtschaft wieder wächst, nachdem die Wirtschaftsmacht zuvor in eine schwere Rezession gerutscht war.

Olympische Spiele sollen 2021 stattfinden

Viele Ökonomen in Japan rechnen zwar damit, dass sich die Wirtschaft im vierten Quartal weiter erholt, allerdings viel langsamer als im dritten Quartal. Und sollte sich das Infektionsgeschehen weiter verschärfen, würde dies auch Japans Wirtschaft wieder hart treffen.

Und für die Wirtschaft wären auch die Olympischen Spiele ein wichtiger Faktor. Sie waren in diesem Jahr wegen der Pandemie verschoben worden, sollen 2021 aber auf jeden Fall stattfinden. Und dafür setzte Japan nun ein Zeichen: Die auf einem Floß schwimmenden gigantischen Olympischen Ringe in Tokio wurden nach Wartunsgarbeiten wieder in der Bucht der japanischen Hauptstadt installiert. Die frisch angemalten Ringe wurden am Dienstag im Schlepptau wieder an ihren Standort im Odaiba Marine Park gezogen, wo sie bis zum Ende der Spiele im nächsten August vor dem Hintergrund der imposanten Rainbow Brücke und Tokios Wolkenkratzern zu sehen sein werden. Nach Angaben der Stadtverwaltung sollen die Ringe jeden Abend angeleuchtet werden.

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