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Straßenhund in Indonesien

© Getty Images

Der Mythos vom unglücklichen Straßenhund: Adoption von Streunern schadet oft mehr als sie nützt

Sich einen Straßenhund anzuschaffen, ist zum Trend geworden. Doch bei weitem nicht jedes dieser Tiere ist eine bedürftige Seele – und auf dem Vermittlermarkt tummeln sich viele Kriminelle.

Von Annett Stein

Stand:

„Das ist ein geretteter Straßenhund“, heißt es in Deutschland immer öfter, wenn Hundebesitzer ihre Vierbeiner vorstellen. Etwa ein Viertel der rund 10,5 Millionen Hunde in Deutschland sollen inzwischen aus dem Ausland importiert sein – eine realistische Schätzung, wie Lea Schmitz vom Deutschen Tierschutzbund annimmt.

Ein Glück für die armen Hundeseelen, mag man meinen. Doch für so manchen Vierbeiner bedeutet die vermeintliche Rettung Experten zufolge belastenden Wohnungsknast statt lebenslang genossener Freiheit – oder endet gar im Tierheim. Zudem haben Kriminelle den lukrativen Vermittlermarkt für sich entdeckt: Vermeintlich hilfsbedürftige Hunde werden extra dafür produziert.

Vermeintliche Rettung kann dauerhaften Stress bedeuten

Eine, die über die Jahre sehr viele Straßenhunde intensiv beobachtet hat, ist die Hundetrainerin Sarah Fink. „Ich erlebe Straßenhunde häufig als sehr glücklich“, schreibt sie im Buch „Die geheime Welt der Straßenhunde“.

„Ich bin immer sehr zurückhaltend, was das Mitnehmen von Hunden angeht“, lautet ihr Résumé. Dabei fließe auch ihre Erfahrung mit tausenden Kunden im Hundetraining ein.

Manchen Hunden sei anzumerken, dass sie die Gefangenschaft – „und nichts anderes ist es für manche Hunde, die seit Generationen frei leben“ – sehr stresst. „Viele Hunde haben zwar nicht unbedingt ein komfortables Leben als Straßenhunde, sind aber unfassbar frustriert und unglücklich, wenn man sie einsperrt und als Haustiere halten möchte.“

Hinzu komme, dass viele vermeintliche Straßenhunde etwa in Griechenland, Bulgarien und der Türkei anders als vielfach angenommen sehr wohl feste Bezugspersonen hätten, die sich um sie kümmern. Deutlich häufiger als ernsthaft abgemagerte Hunde seien zu dicke Straßenhunde.

Es sei dort schlichtweg üblich, dass Hunde allein spazieren gehen. „In vielen Ländern ist das sogar deutlich öfter die Norm als Menschen, die mit ihren Hunden gemeinsam spazieren gehen.“

Sarah Fink hat in mehreren Ländern Straßenhunde mit Senderhalsbändern versehen, um mehr über ihren Tagesablauf zu erfahren. Das Projekt stieß immer wieder auf das gleiche Problem: Der für den Sender auserkorene Straßenhund hatte mindestens eine feste Bezugsperson.

Es habe fast keinen Hund gegeben, um den sich tatsächlich niemand kümmerte – umgekehrt aber Menschen, die auf die Versuche, einem Hund das Senderhalsband umzulegen, misstrauisch reagierten. „Weil sie oft die Erfahrung gemacht haben, dass Touristen ihre Hunde stehlen beziehungsweise ‚retten‘, in der Annahme, es seien Straßenhunde.“

Scheinbar bedürftige Welpen sind beliebte Importware.

© IMAGO/Lubo Ivanko

Auch Tierschutzorganisationen hätten kaum die Zeit, Hunde sicherheitshalber tagelang zu beobachten, um nicht den Moment zu verpassen, in dem das Tier seine Bezugsperson besucht. Immer stärker stellte sich Fink die Frage: „Wie viele ‚gerettete Straßenhunde‘ sind eigentlich nur frei lebende Besitzerhunde?“ Wie viele wurden den Menschen, die sie liebten und versorgten, unwissentlich weggenommen?

Bei einem echten Straßenhund wiederum kann sich eine fehlende Prägung und Sozialisierung als nicht zu behebendes Problem erweisen, wie Schmitz erklärt. „Für eine gute Sozialisierung auf den Menschen ist entscheidend, dass ein Hund insbesondere in den ersten Lebenswochen positiven Umgang mit Menschen hat.“

Hunde, die nicht mit dem geregelten Leben in einer Menschenwohnung im dicht besiedelten Deutschland sozialisiert wurden, können Experten zufolge schwere Verhaltensprobleme entwickeln.

Typische Folge fehlender Sozialisierung und Gewöhnung an die Gegebenheiten in Deutschland sind Schmitz zufolge Angsthunde, die sich kaum anfassen lassen, schnappen und panisch an der Leine ziehen – was Käufer oft irrtümlich als Hinweis auf erlittene Quälerei werten.

Abtrainieren lässt sich das nur mühsam oder gar nicht. Am Ende landet mancher einst frei lebende Hund in einem deutschen Tierheim. „Es gibt Hunde, die besser dran sind, wenn man sie kastriert, in ihrer Heimat wieder freilässt und für die frei lebenden Tiere Futterstellen etabliert“, betont Schmitz.

Tierheim statt freies Leben

Zumal Tierheime hierzulande ohnehin überfüllt sind. Abgegeben würden Hunde inzwischen nicht mehr wie früher vor allem in den sommerlichen Urlaubsmonaten, sondern das ganze Jahr über, erklärt Schmitz. Der Anteil schwer vermittelbarer Hunde sei in den vergangenen Jahren immer größer geworden.

Die nur als Zwischenstation gedachten Tierheime würden immer mehr zu Verwahrstationen. Dafür seien sie nicht gebaut, zudem seien die nicht vermittelbaren Dauergäste eine extreme finanzielle Belastung. 

Womöglich mehrere Hunderttausend Importhunde jährlich

Nach Daten des Trade Control and Expert Systems (TRACES) der EU wurden zwischen 2019 und 2022 allein aus Rumänien, Spanien und Ungarn pro Jahr durchschnittlich fast 72.000 Hunde legal nach Deutschland importiert, wie es vom Tierschutzbund heißt.

Hinzu kommt eine immense Zahl illegal gehandelter Hunde – Schätzungen zufolge womöglich mehrere Hunderttausend jährlich. Nur selten werden Fälle aufgedeckt, etwa bei stichprobenartigen polizeilichen Transportkontrollen auf Autobahnen.

Straßenhund in Sri Lanka – viele Streuner haben einen Menschen, der sich um sie kümmert.

© imago/Schöning

„Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der illegal gehandelten Tiere aus dem Ausland über das Internet angeboten wurde“, erläutert der Tierschutzbund. Zuweilen würden von Kriminellen auch unter schlimmen Umständen produzierte Welpen als vermeintliche Tierschutzhunde verkauft, sagt Schmitz.

In sozialen Medien werde zudem oft mit emotionalem Druck gearbeitet. Angeblicher Tierschutz sei ein lukratives Geschäft, warnt auch Tiertrainerin Sarah Fink. „Mit Mitleid macht man viel Geld, und je schlimmere Bilder man zeigt, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt man.“

Hunde schleppen für Menschen gefährliche Erreger ein

Häufigstes Herkunftsland für illegal gehandelte Hunde ist dem Deutschen Tierschutzbund zufolge seit Jahren Rumänien, auch aus Ungarn und Bulgarien kommen viele Tiere. Die Gesundheit illegal gehandelter Hunde ist größtenteils desolat, wie der Tierschutzbund in einem Bericht erläutert.

„Das ist mehr als ein Tierschutzproblem – unter den Krankheitserregern, welche die Tiere mitbringen, befinden sich auch solche, die auf den Menschen übertragbar sind, darunter verschiedene Endo- und Ektoparasiten sowie virale und bakterielle Erreger.“

Giardien zum Beispiel, die blutige Durchfälle verursachen, können auch Menschen befallen – und nicht nur für Halter besteht ein Risiko, sondern auch für spielende Kinder auf Wiesen, auf denen Hunde ihr Geschäft erledigen.

Für Menschen sind auch Leptospirose und Leishmaniose gefährlich. Mit dem ebenfalls auf den Menschen übertragbaren Herzwurm Dirofilaria immitis sind in Süd- und Südosteuropa regional mehr als die Hälfte der Hunde infiziert.

„Die Ansteckungsrate für Krankheiten ist in den Vermehrerstationen mit vielen Hunden auf engem Raum sehr hoch“, erklärt Schmitz. Zudem würden Impfpapiere gefälscht – für Käufer sei das kaum erkennbar. Wichtig sei, Hunde aus dem Auslandstierschutz vor dem Import auf gängige Krankheiten zu untersuchen, neben Tollwut auch gegen andere Infektionskrankheiten zu impfen und gegen Parasiten zu behandeln.

Illegale Praxis: Als Flugpate einen Hund mitnehmen

Vielfach machen bei illegalen Transporten Menschen mit, die eigentlich helfen wollen: als sogenannte Flugpaten. Per Flugzeug transportierte Hunde werden dabei auf die Tickets gutwilliger Touristen gebucht. Rechtlich handelt es sich aber um einen gewerblichen, anzumeldenden Transport, weil der Hund für einen neuen Besitzer bestimmt ist.

„Tierschutzvereine, die mit solchen Flugpatenschaften arbeiten, sind unseriös“, warnt Schmitz. Vorsicht geboten sei auch bei Vereinen, die Hunde direkt vermitteln, ohne Tierheim oder Pflegestelle als Zwischenstation. „Wenn irgendetwas nicht klappt, ist dann meist keine Rückgabe möglich.“

Nicht jeder Straßenhund ist unglücklich.

© IMAGO/C. Kaiser

Misstrauisch sollte Käufer auch machen, wenn ein vermeintlicher Tierschutzverein vor allem Welpen anbietet. Und: Ein seriöser Tierschutzverein bringe nie nur Tiere aus dem Land, sondern engagiere sich auch vor Ort, etwa mit Kastrationsprojekten.

Fink lobt den Tierschutzverein Bansko Street Dogs in Bulgarien, der Hunde nicht einfach ins Ausland vermittle, sondern zuerst Pflegestellen in Bulgarien suche und teste, wie sich die Tiere in einer Wohnung verhalten. Schmitz nennt als Positiv-Beispiel den deutschen Tierschutzverein Tierhilfe Hoffnung, der das Tierheim Smeura in Rumänien betreibt – das größte Tierheim der Welt.

Tausende Hunde werden dort auf dem Gelände einer ehemaligen Fuchsfarm beherbergt. Weil kastrierte Straßenhunde in Rumänien per Gesetz nicht wieder freigelassen werden dürfen, arbeitet die Tierhilfe Hoffnung mit Partnervereinen in Deutschland zusammen, die Tiere übernehmen.

Rumänien sei ein Spezialfall, „weil es von der politischen Seite her dort gewünscht wird, dass es Tötungsstationen und Hundefänger gibt“, erklärt Fink. Eine Menge Menschen verdiene dort mit Hunden Geld – nicht zuletzt zahlreiche vermeintliche „Tierschutzvereine“. 

Generell seien Kastrationsprojekte der wichtigste Baustein im Tierschutz und das Einzige, was pauschal Sinn mache, betont Fink. Nur wirklich haushundetaugliche Hunde sollten vermittelt werden – im Vorfeld zu entscheiden, ob ein Hund sein neues Zuhause als Rettung oder Freiheitsberaubung empfindet, sei allerdings schwer. Für die Einschätzung braucht es Pflegestellen vor Ort – was allein schon die Zahl vermittelter Hunde stark begrenzen würde.

„Ich finde, dass es definitiv Sinn macht, Hunde zu adoptieren, statt vom Züchter zu kaufen“, meint Fink. „Wichtig ist nur, sehr gut darauf zu achten, woher man die Hunde adoptiert und was man damit fördert.“ (dpa)

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