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Mahnmal an den jüdischen Friedhof mit einigen Grabsteinen, einem Davidstern und einer Menora als Symbole.

© René Wildangel

Folgen der deutschen Besatzungszeit 1941-1944: Erbaut auf toten Seelen

Die Aristoteles-Universität von Thessaloniki steht auf einem jüdischen Friedhof, den deutsche Besatzer planierten. Mit der Erinnerungsarbeit tut sich die Uni schwer.

Wer hier zugelassen wird, hat nach seinem Abschluss vergleichsweise gute Jobchancen: Die Aristoteles-Universität in Thessaloniki ist die zweitgrößte Universität des Landes und gehört zu den angesehensten in Griechenland. Im Herzen der Stadt gelegen, ist das ein attraktiver Standort in erster Linie für griechische Studierende, englischsprachige Programme sind noch eher Mangelware.

Die Referenz des in Nordgriechenland omnipräsenten Namensgebers Aristoteles, Lehrer des makedonischen Nationalhelden Alexander des Großen, weckt Vorstellungen antiker Schönheit. Aber aus der Anfangszeit der 1926 gegründeten Universität existiert nur noch das alte Hauptgebäude. Der Rest sind mal mehr, mal weniger hässliche Betonklötze. Umgeben ist der Campus von spärlichen Grünflächen und notorisch unzureichenden Parkplätzen.

Wer hier spaziert, ahnt noch lange nicht, auf welchem Grund er sich befindet. Denn die dunkle Geschichte, die sich förmlich unter den Füßen der Studierenden verbirgt, muss man schon kennen, viele Zeugnisse sind nicht erhalten: Der gesamte Campus befindet sich an der Stelle, wo sich einst ein der wohl größte jüdische Friedhof Europas befand. Zwischen Ende 1942 und 1945 wurde er vollständig eingeebnet. In diesen Jahren war Nordgriechenland von der deutschen Wehrmacht besetzt, die hier (und später auch in anderen Teilen Griechenlands) grausame Massaker an der Zivilbevölkerung verübte.

Die Deutschen veranlassten zunächst die Ghettoisierung, dann die Deportation und Ermordung nahezu der gesamten jüdischen Bevölkerung – organisiert vom nationalsozialistischen „Sicherheitsdienst“.

Thessaloniki galt als das "Jerusalem des Balkans"

Über Jahrhunderte war Thessaloniki eine stark jüdisch geprägte Stadt, Anfang des 20. Jahrhunderts verfügte das „Jerusalem des Balkans“ sogar über eine jüdische Bevölkerungsmehrheit. Als 1912 die junge griechische Nation die Stadt, die damals noch zum bereits zerfallenden osmanischen Reich gehört, zurückeroberte, lebten dort ungefähr 40 000 Griechen, 46 000 Muslime und 61 000 Juden. Entsprechend groß war der im 15. Jahrhundert errichtete zentrale Friedhof der überwiegend sephardischen (aus Spanien abstammenden) jüdischen Gemeinde.

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Heute erinnert fast nichts mehr an diese Geschichte. Erst im Jahr 2014 wurde nach langer Anstrengung eine kleine Gedenkstätte eingeweiht; eine im Boden versinkende Menorah, ein schräg stehender Davidstern, einige symbolische Grabsteine und ein paar Gedenkstelen.

Hauptgebäude der Universität Thessaloniki.
Im Hauptgebäude der Aristoteles-Universität gibt es eine Daueraustellung zur Unigeschichte - ohne Erwähnung des Friedhofs.

© René Wildangel

In mehreren Sprachen steht geschrieben: „Mit den 50 000 Juden aus Thessaloniki, die in Auschwitz-Birkenau vernichtet wurden, wollten die Nazis alle Spuren jüdischer Präsenz in der Stadt auslöschen. Zu diesem Zweck begann die Zerstörung des Jüdischen Friedhofes, eines heiligen Ortes der Erinnerung mit über 300 000 Gräbern, der sich einst von der Egnatia Straße bis zum Viertel der 40 Ekklisies (40 Kirchen) inklusive des heutigen Campus’ der Universität erstreckte.“ Andere Quellen geben die Zahl der Gräber sogar mit einer halben Million an.

„Das Interesse seitens der Universität an diesem Thema ist schwankend“, sagt Giorgos Antoniou, Professor an der Aristoteles-Universität und spezialisiert auf jüdische Geschichte und den Holocaust. Er hat zu den Hintergründen recherchiert und auch mit Studierenden versucht, auf dem Gelände Spuren zu sammeln und zu erhalten. „Viel Aufmerksamkeit gibt es leider meist nur dann, wenn es zu Schändungen des Mahnmals kommt“, sagt er.

"Das wusste ich gar nicht, dass hier mal ein Friedhof war"

Blitzumfrage auf dem Campus: Eine Biologiestudentin kennt die Geschichte nicht. Zugegebenermaßen fachfremd. Bei den Historikern sieht es naturbedingt etwas anders aus. Aber auch ein Philosophiestudent sagt: „Das wusste ich gar nicht, dass hier mal ein Friedhof war.“ Einige haben davon gehört, kennen aber keinerlei Details zu der Geschichte.

[Lesen Sie auch den Bericht von René Wildangel über die Buchmesse von Thessaloniki: Abstiegsängste der Mittelschicht - und ein verdrängter Krieg]

Ein Medizinprofessor dagegen referiert detailliert die historischen Hintergründe. Das Thema ist ihm wichtig. „Eine unglaubliche Ungerechtigkeit.“ Es müsste noch viel mehr gemacht werden, um das zu erforschen. Er verweist auf die Rolle der „griechischen Kollaborateure“, die Gräber geplündert und Grabsteine abgerissen hätten.

Vom griechischen Anteil an der Zerstörung ist offiziell fast nie die Rede. Zwar ist die Geschichte des Abrisses des Jüdischen Friedhofes untrennbar mit der brutalen deutschen Besatzung und ihrer antisemitischen Politik verbunden. Aber Planungen, den jüdischen Friedhof zu enteignen und abzureißen, gab es schon vorher, und die Umsetzung wurde von der griechischen Stadtverwaltung betrieben.

Ein Großbrand 1917 bot die Chance zum radikalen Stadtumbau

Einst vor den Toren der alten Stadtmauer gelegen, befand sich der Friedhof zur Jahrhundertwende längst im Zentrum der Stadt. Entsprechend wurde er den Stadtplanern in der wachsenden Metropole zunehmend ein Dorn im Auge. Spätestens als 1917 ein Großbrand weite Teile von Thessaloniki und insbesondere die jüdischen Viertel in Hafennähe zerstörte, gab es die Chance zu einer radikalen Neugestaltung der Stadt.

Moderne Hochhäuser neben mehrstöckigen Altbauten an einem langgezogenen Platz, im Hintergrund der Eingang zu einem historischen Kirchengelände.
Im modernen Stadtzentrum von Thessaloniki, mit Blick in Richtung der Kirche Hagia Sophia.

© imago images/imagebroker

In der neuen griechischen Nationalerzählung, in der das Christentum ebenso zentral war wie die Rückbesinnung auf die griechische Antike, hatte Thessalonikis multiethnische Vergangenheit keinen Platz mehr. Das galt für die jüdische ebenso wie für die islamische Geschichte, die mit dem Untergang des Osmanischen Reiches und der Vertreibung der Muslime weitgehend endete.

Der Abriss des Friedhofes ist auch ein Zeugnis griechischer Kollaboration – und der Gleichgültigkeit gegenüber den Schicksalen der jüdischen Mitbürger in Thessaloniki auch nach dem Krieg, als die Plünderungen von Grabsteinen weitergingen. Entschädigt wurde die jüdische Gemeinde, die heute nur noch aus rund 1500 Mitgliedern besteht, für die Zerstörung und Entweihung ihres Friedhofes nie.

Steine des jüdischen Friedhofs sind über die ganze Stadt verteilt

Wie kann es eigentlich sein, dass von den unzähligen Grabsteinen, von hunderttausenden Zeugnissen jüdischen Lebens und jüdischer Kultur so gut wie nichts übrigblieb? Die unzähligen Steine seien über die ganze Stadt verteilt, sagt Giorgis Antoniou. Sie wurden nach dem Abriss als Baumaterial verwendet.

„Manchmal bekommen wir Anrufe von außerhalb Thessalonikis, zum Beispiel von der Ferienhalbinsel Chalkidiki, dass wieder ein Stein gefunden wurde.“ Auch im griechischen Nationaltheater in der Stadt sind Grabsteine verbaut, der Innenhof des wichtigsten orthodoxen Heiligtums in der Stadt, der Kirche des Stadtheiligen St. Dimitrios, ist mit ihnen gepflastert.

Im Foyer des Hauptgebäudes der Universität befindet sich eine kleine Ausstellung, die anlässlich des 90-jährigen Jubiläums der Eröffnung der Uni aufgebaut wurde. Vom jüdischen Friedhof ist hier keine Rede. Absicht? „Das Aufrechterhalten der Erinnerung ist extrem wichtig für unsere Universität“, sagt Rektor Nikolaos Papaioannou auf Anfrage. Man werde auch in Zukunft Veranstaltungen und Programme fördern, welche die jüdische Geschichte des Ortes beleuchten.

Bei der Einweihung des Mahnmals wurde vom Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Thessaloniki, David Saltiel, der Gedenkort als wichtiger Fortschritt gewürdigt, aber auch Anstrengungen eingefordert, „zu untersuchen, zu dokumentieren und der Öffentlichkeit unmissverständlich darzulegen, wer verantwortlich für die Zerstörung war und wer sie durchgeführt hat“. Viel passiert ist nicht seitdem, es gibt bei noch großen Nachholbedarf. Für die angesehene Aristoteles-Universität wäre es eine Chance, dies selbst in die Hand zu nehmen.

René Wildangel

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