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Ein Hinweisschild für den Umgang bei Beerdigungen steht in einem Bestattungsinstitut vor mehreren Särgen. Der Hinweis informiert, dass Trauernde sich aufgrund des Coronavirus' nicht die Hände zu schütteln oder umarmen sollen.

© Rolf Vennenbernd/dpa

Neue Daten zu Coronavirus-Toten: Etwa 97 Prozent der an Covid-19 Verstorbenen hatten Vorerkrankungen

Viele der 8000 Covid-19-Patienten, die in Deutschland starben, litten an Vorerkrankungen. Doch an welchen, wird bislang nicht erfasst, beklagen Epidemiologen.

Bislang kommen die USA und ihr Umgang mit der Covid-19-Krise als Vorbild kaum infrage. Doch in einem Punkt hinkt Deutschland den Amerikanern hinterher, meint Stefan Willich: Informationen über Patienten, die dem Sars-CoV-2-Virus erlegen sind.

Dem Leiter des Charité-Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie geht es vor allem um Vorerkrankungen, aber auch soziodemografische Daten, etwa den Sozialstatus der Verstorbenen. In Deutschland seien „vernünftige Analysen zu Vorerkrankungen nicht zu bekommen“. Das sei anders in Skandinavien – und in den USA.

„Epidemiologisch sind das besonders wichtige Daten, weil sie auch Schlüsse darüber zulassen, welche Bevölkerungsgruppen aufgrund sozialer und medizinischer Faktoren besonders gefährdet sind und daher auch für bestmögliche Prävention in den Blick genommen werden müssen.“

So habe sich etwa in den USA gezeigt, dass vor allem US-Bürger afroamerikanischer Herkunft – und damit eine überwiegend strukturell benachteiligte Gruppe in der US-Bevölkerung – ein erhöhtes Risiko haben, an Covid-19 zu versterben.

Willich zufolge seien in Deutschland vergleichbare Erhebungen derzeit kaum möglich. „Das ist ein großes Defizit, das Sozialmediziner und Epidemiologen traurig macht.“

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Knapp 8000 Menschen, bei denen Covid-19 diagnostiziert wurde, starben bis zum Wochenende in Deutschland. Die Datenerfassung des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu Erkrankungszahlen, R-Faktoren und den Todesraten in den einzelnen Altersstufen gilt als international vorbildlich, und es sind Daten, mit denen auch Willich arbeitet.

Sie zeigten, rechnet Willich vor, dass 55 Prozent der Covid-19-Toten Männer gewesen seien, 64 Prozent über 80, 32 Prozent zwischen 60 und 80 und vier Prozent – das entspricht etwa 320 Menschen – unter 60 Jahre alt. Bei den unter 50-Jährigen liegt die Todesrate bei eins zu tausend.

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Mit welchen Grund- und Begleiterkrankungen die Menschen starben, dafür braucht es aber tiefergehende Recherchen, die meist in eine Sackgasse führen – wenn auch nicht immer. Bei den Toten, über die Informationen vorliegen, zeigt sich, dass sie meist – zu etwa 97 Prozent – vorerkrankt waren, nimmt man Zahlen aus dem Südwesten der Republik als Maßstab.

Ergebnisse "nicht belastbar"

Gemäß Infektionsschutzgesetz übermitteln die Gesundheitsämter Daten zu Covid-19-Erkrankungen und auch den Todesfällen mit Altersangaben an die Landesbehörden, von dort werden sie zentral an das RKI übermittelt. „Daten zu Vorerkrankungen werden derzeit nicht systematisch an das RKI übermittelt“, erklärt eine Sprecherin. Eine erste Analyse ist im Epidemiologischen Bulletin vom 23. April zu finden.

Demnach seien die vorläufigen Ergebnisse „noch nicht belastbar“, da nur wenig Daten vorlägen. Vor allem nicht zu den jüngeren Verstorbenen: Denn dem RKI wurden laut der Analyse nur die Risikofaktoren der über 60 Jahre alten Verstorbenen übermittelt, und das auch nur bei weniger als der Hälfte. Zu den vom RKI aufgeführten Risikofaktoren zählen Diabetes, Immundefekte, Bluthochdruck, Leber-, Herz-Kreislauf-, Nieren-, Lungen-, Krebs- und neurologische Erkrankungen.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Allerdings sind dies eben nur jene Erkrankungen, von denen die Forschung ausgeht, dass sie Covid-19-Verläufe erschweren. Der Umkehrschluss ist damit erst einmal nicht möglich: Aus den Sterbedaten nämlich ableiten zu können, welche individuellen, bisher unbekannten Faktoren einen schweren Verlauf oder eben den Tod begünstigen. Daraus wiederum ließen sich unter Umständen auch medizinische Maßnahmen für bestimmte Patienten ableiten.

Auch und besonders mit Blick auf die seltenen, aber eben vorhandenen Todesfälle bei unter 60-Jährigen könnte dies demnächst akut relevant werden. Denn sie sind es, die in den kommenden Wochen wieder in Kitas, Schulen und an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, also wieder verstärkt Infektionsrisiken ausgesetzt sein werden – Risikogruppen besser zu definieren, wäre hier aus epidemiologischer Sicht unverzichtbar.

Die geringe Todeszahl bei den Jüngeren spräche dabei erst recht für eine genauere Erfassung. Schließlich bestünde bei den offenbar sehr seltenen Fällen eine gute Chance, jeden einzelnen Fall in der Tiefe auf soziodemografische und medizinische Merkmale zu untersuchen.

Meldesystem unausgereift, Erfassung lückenhaft

Auch an anderer Stelle fragt man vergeblich nach Daten über die bisher Verstorbenen. Der Verband der Lungenärzte winkt ab, die Bundesärztekammer verweist auf die Deutsche Gesellschaft für Pathologie, diese wiederum an das beim Aachener Universitätsklinikum angesiedelte Covid-19-Register.

Dieses wurde gerade aufgebaut, weil „unklar“ sei, wie es in einem Schreiben an die deutschen Pathologen heißt, „welche prädisponierenden, klinisch nicht manifesten pathologischen Veränderungen bzw. Grunderkrankungen, z. B. des Lungengewebes, für schwere Verläufe verantwortlich sein könnten“. Beim Register selbst heißt es dann auf Anfrage, dass bislang noch keine Daten vorlägen.

Pläne für eine erweiterte Analyse von Todesfällen gibt es indes bei der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die seit April im DIVI-Intensivregister alle in Deutschland für Covid-19-Patienten verfügbaren Intensivbetten erfasst. Auf der „Wunschliste“ stünden „soziodemographische Daten wie Geschlecht, Alter und Vorerkrankungen der Patienten“, so eine Sprecherin.

Allerdings würde dies „natürlich auch die Meldung der Daten in die Länge ziehen“. Das Vorhaben müsse warten, bis die DIVI-Eingabemaske ausgereift und das Meldesystem etabliert sei.

Auf Anfrage des Tagesspiegel „Background Gesundheit“, welche Risikofaktoren bei den bislang erfassten Covid-19-Toten bekannt sind, antworteten 13 Landesbehörden. In den meisten Fällen wurde auf die Verpflichtungen des Infektionsschutzgesetzes hingewiesen: Dieses wurde wegen der Pandemie Ende März das erste Mal angepasst, eine zweite Änderung geht nun in die Gesetzgebung.

Um den Paragrafen 11, auf den die Länder sich beziehen, geht es in beiden Gesetzen allerdings nicht. Dieser schreibt unter anderem die Übermittlung von Alter, Geschlecht und möglichen Infektionswegen vor, aber nicht den Vermerk von Vorerkrankungen, Risikofaktoren oder soziodemografische Daten.

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Mehr als die gesetzlich vorgeschriebenen Angaben können die meisten Ministerien und Gesundheitsbehörden auf Anfrage dann auch nicht zur Verfügung stellen. In Bayern, Brandenburg und dem Saarland wird erklärt, dass keinerlei Daten zu Vorerkrankungen der Verstorbenen vorlägen. In Niedersachsen wird „nicht routinemäßig ausgewertet“, zudem seien die wenigen Angaben „nur bedingt aussagekräftig“.

Aus Nordrhein-Westfalen wird von „nicht vollständigen Informationen“ berichtet, die eine Analyse ebenfalls erschwerten. Sachsens Sozialministerium weiß immerhin, dass bei 42 der 190 Todesfälle im Land Vorerkrankungen angegeben worden seien. Die Berliner Gesundheits-Senatsverwaltung verweist auf eine RKI-Website, die allerdings auch keine Angaben zu Vorerkrankungen bereithält. Und aus Rheinland-Pfalz werden Begleiterkrankungen von Covid-19-Patienten übermittelt.

Deutschlandkarte der Todesfälle durch Covid-19

Etwas ergiebiger sind die Antworten aus dem Norden der Republik. In Mecklenburg-Vorpommern, das in den zurückliegenden Wochen wegen Corona eine Einreisesperre verhängte und sich nun auf die Sommersaison vorbereitet, berichtet das Gesundheitsministerium von bislang 20 Todesfällen. Die Toten seien zwischen 57 und 93 Jahre alt gewesen, „wobei in allen Fällen Vorerkrankungen bestanden“. Die meisten Verstorbenen hätten unter chronischen Herzerkrankungen gelitten. „Als weitere Risikofaktoren wurden Immundefizienz, onkologische und neuromuskuläre/neurologische Erkrankungen sowie chronische Lungenerkrankungen und Diabetes angegeben.“

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In Schleswig-Holstein sagt ein Sprecher des Sozialministeriums, dass zwar derzeit keine Daten zu Vorerkrankungen vorlägen, sich dies aber bald ändern solle: Das Land finanziere Obduktionen am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, das Projekt laufe gerade an. „Daraus sollen auch Erkenntnisse zu den zukünftigen Behandlungen gewonnen werden.“ Auch der Nachbar Hamburg setzt seit Längerem auf Obduktionen von Covid-19-Toten, um mehr über Risikofaktoren zu erfahren.

Umfangreiche Angaben kommen schließlich aber aus dem Südwesten. In Baden-Württemberg, in dem jeder fünfte bisherige Corona-Tote lebte, habe das Alter der Opfer zwischen 18 und 106 Jahren gelegen, im Schnitt bei 82 Jahren, erklärt eine Sprecherin des Regierungspräsidiums in Stuttgart. Bei zwei Drittel der 1618 Verstorbenen seien Angaben zu Risikofaktoren erhoben worden.

76 Prozent von ihnen hätten an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, 45 Prozent an einer neurologischen Krankheit gelitten, jeder Dritte an Diabetes, jeder Fünfte an einer chronischen Lungen- oder einer Nierenerkrankung, zwölf Prozent an Krebs und knapp vier Prozent an einer Lebererkrankung – letzteres allerdings liegt unter dem Anteil der Leberkranken an der Gesamtbevölkerung.

"Strukturell überfordert"

Und auch das zeigen die Daten: Von jenen zwei Dritteln der 1618 Covid-19-Toten, bei denen im Totenschein Risikofaktoren erfasst wurden, wiesen die allermeisten Vorerkrankungen auf, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie bei einer Corona-Erkrankung die Sterbewahrscheinlichkeit erhöhen. Nur bei der 2,7 Prozent der erfassten Vorerkrankungen sei dies nicht der Fall gewesen. Der Schluss, dass damit 97 Prozent aller Sars-CoV-2-Toten in Baden-Württemberg vorkrankt waren, ist aber mit Vorsicht zu genießen. Denn niemand weiß, ob und, wenn ja, welche Vorerkrankungen jene knapp 600 Fälle aufwiesen, bei denen das Feld für Risikofaktoren im Totenschein nicht ausgefüllt wurde.

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Der Charité-Epidemiologe Willich vermutet, „dass die Gesundheitsämter“ mit der Übertragung von Risikofaktoren und Vorerkrankungen aus den Totenscheinen „strukturell gerade einfach überfordert sind“. Er betont, dass nicht zwingend die komplette Erhebung der Daten von Covid-19-Toten nötig sei, sondern man durchaus zunächst mit Stichproben aus den Kliniken arbeiten könnte.

„Aber selbst die sind in Deutschland erstaunlich schwer zu bekommen“, sagt er. „Viele Krankenhäuser sind darauf mit ihren Datenerfassungssystemen einfach nicht eingestellt“, sodass diese Daten „oft nicht verfügbar“ seien.

Die letzten Wochen hätten gezeigt, so Willich, dass Deutschlands Kliniken „eine exzellente Akutmedizin bieten, aber völlig unzureichend digitalisiert sind“. Sein Institut bemühe sich daher gerade um Daten zu Vorerkrankungen und demografischen Daten aus internationalen Kliniken. So lange müsse man sich epidemiologisch auf Erfahrungen etwa aus Italien und China stützen.

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