zum Hauptinhalt
Foto-Bildstrecke zur „NS-Betriebs-Gesundheitsführung“ von 1939.

© Sammlung Ulrich Prehn

Wenn das System erkrankt: Ausstellung zum schleichenden Horror in der Medizin unter den Nazis

Eine neue Ausstellung im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zeigt das Verhältnis von Arzt und Patient im Nationalsozialismus. Dabei rücken auch die menschlichen Schicksale in den Fokus.

Stand:

Die Nationalsozialisten hatten es eilig. Kaum hatten sie Ende Januar 1933 die Macht ergriffen, wurde schon ab März desselben Jahres an einer neuen Reichsärzteordnung gearbeitet. Das Ziel: Alle deutschen Mediziner im Geiste des Nationalsozialismus zu disziplinieren und damit auch die Schweigepflicht einzuschränken, falls dies „das gesunde Volksempfinden“ nahelege.

Die Reichsärzteordnung trat am Dezember 1935 in Kraft, ein Gesetz mit weitreichenden Folgen. Die Folgen dieser Gleichschaltung im Gesundheitsbereich während der NS-Diktatur beleuchtet die Ausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ im Erdgeschoss der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Berlin-Tiergarten.

Die nötigen Nachforschungen dafür stellte das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin an.

Die KBV wurde zwar erst nach dem Krieg, nämlich 1955, gegründet. Ihre Vorgängerorganisation, die Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD), wurde 1933 eingerichtet und unterstand dem Reichsarbeitsministerium.

Den Ärzten galt damals wie heute der hippokratische Eid als ethischer Grundsatz in der Medizin: Nämlich ihre Arbeit in den Dienst des Kranken und der Menschlichkeit zustellen. In einer brutalen Diktatur wie dem NS-Regime ein schwieriges Unterfangen. Vielleicht deshalb hat sich die Ärzteschaft lange mit der Aufarbeitung dieses Themas schwergetan. Ziel der „Gesundheitsführung“ unter den Nazis war eben nicht das Wohl des einzelnen Patienten, sondern das Wohl der „Volksgesundheit“.

Eindringlich schildert die Ausstellung die Fälle von „Auslese“ und Zwangssterilisation, denen bis 1939 allein in Deutschland 300.000 Menschen und während des Krieges in den besetzten Gebieten etwa 40.000 Menschen zum Opfer fielen. Ein mit bewusst hässlich verzerrten Gesichtern gestaltetes Propagandaplakat mit dem Titel „Minderwertiges Erbgut dringt in ein Dorf ein“, sollte der Bevölkerung vermitteln, welche Teile der Gesellschaft als biologisch unerwünscht galten.

Individuelle Geschichten

Erkennbar rückt die Ausstellung die individuellen menschlichen Schicksale in den Fokus. Fallbeispiele zeigen, wie sich unter der Politik der „Gesundheitsführung“ die Handlungsspielräume vor allem jüdischer Ärzte und Patienten veränderten. Geplant war von Beginn die Trennung jüdischer und nichtjüdischer Patientinnen und Patienten. Aber ein zu schneller Schritt hätte die Versorgungslage der Bevölkerung gefährdet, also geschah dies stufenweise bis 1938.

Titelblatt der Sondernummer „Arzt und Volk“ der Illustrirte Zeitung vom Februar 1933. Der Titel weist die Richtung, die die Medizin daraufhin einschlagen sollte.

© Sammlung Ulrich Prehn

Von dem Zeitpunkt an litt die jüdische Bevölkerung unter Unterversorgung. Einige jüdische Ärzte durften degradiert als „Krankenbehandler“ zunächst weiter jüdische Patienten versorgen, wie Dr. Adolph Calmann, Leiter einer Frauenklinik in Hamburg-Rotherbaum. Ab 1937 mussten dann alle Angestellten im öffentlichen Dienst, dazu gehörten auch die Kassenärztliche Vereinigungen, einen Treueeid auf den „Führer“ schwören.

Kritik am System war nicht erlaubt. Das erfuhr auch Gerda Disselkamp, Sekretärin der KVD-Landesstelle Düsseldorf. Als sie Mitleid mit den jüdischen Ärzten zeigte, wurde ihr fristlos wegen „politisch-weltanschaulicher Unzuverlässigkeit“ gekündigt. Die faktenreiche Ausstellung thematisiert solche Fälle der Solidarität, aber vor allem die Rolle der Ärzte in den Konzentrations- und Gefangenenlagern sowie den Lazaretten und bei Menschenversuchen.

Ärztezentrale in Berlin geplant

Dort, wo heute das Hauptgebäude der Technischen Universität Berlin an der Straße des 17. Juni steht, sollte das monumentale „Haus der deutschen Ärzte“ gebaut werden. Dafür wurde die Klinik des jüdischen Psychiaters Karl Edel nach erzwungenem Verkauf abgerissen. Wegen des Krieges wurde das Bauvorhaben nicht realisiert. Einer Klage der Erben auf Entschädigung von 1951 wurde erst 1960 stattgegeben.

Was nach 1945 passierte, ist ebenfalls Gegenstand der Schau: Verurteilte Straftäter der NS-Regimes wurden oft nach wenigen Jahren in der Bundesrepublik begnadigt und kamen schnell wieder in Amt und Würden. Die Ärzteschaft hat wesentlich zur Mordmaschinerie des NS-Staates beigetragen, die ohne sie so nicht funktioniert hätte. Mit der sehenswerten Ausstellung schlägt der Dachverband ein Kapitel seiner Geschichte auf, das zu lange zu wenig beachtet wurde.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })