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Die Kulturkneipe „Bajszel“ in Neukölln hat sich öffentlich gegen Antisemitismus positioniert und war mehrfach das Ziel von Angriffen.

© dpa/Soeren Stache

Update

Auch mehr Attacken auf Kinder: Doppelt so viele antisemitische Vorfälle wie im Vorjahr in Berlin registriert

Angriffe, Drohungen, Sachbeschädigungen: Die Recherchestelle Antisemitismus (RIAS) meldet für 2024 einen neuen Höchststand antisemitischer Übergriffe und Straftaten in Berlin. Was jetzt gefordert ist.

Stand:

Im vergangenen Jahr ist ein neuer Höchstwert antisemitischer Vorfälle in Berlin registriert worden: Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hat 2024 insgesamt 2521 Fälle dokumentiert. Das geht aus dem Jahresbericht vor, den die Organisation am Dienstag vorstellte.

„Das Dunkelfeld ist vermutlich enorm“, sagte Sigmount Königsberg, der Antisemitismusbeauftragte der jüdischen Gemeinde, bei der Vorstellung. „Wir müssen davon ausgehen, dass es in der Realität mindestens doppelt so viele Fälle gegeben hat.“

Königsberg betonte, dass die Räume, in den Jüd:innen sich sicher fühlen, in Berlin immer kleiner würden. Dies liege auch an fehlender Solidarität von Seiten der Stadtgesellschaft. „Es gibt Jüdinnen und Juden, die sich trotz der Bomben in Israel sicherer fühlen als in Berlin“, sagte er.

Nicht nur die Zahl der Vorfälle würde zunehmen, sagte auch Alexander Rasnumy von der Beratungsstelle OFEK. Insbesondere seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, habe sich die Zahl der Beratungsgespräche versechsfacht. Viele Jüd:innen würden von zunehmenden Aggressionen berichten, auch von sozialer Isolierung.

Bereits für 2023 hatte RIAS bei insgesamt 1270 Vorfällen von einem „neuen Höchststand seit Beginn der Dokumentation“ gesprochen. Insbesondere nach dem 7. Oktober 2023 sei es demnach zu einem „sprunghaften Anstieg“ antisemitischer Anfeindungen und Übergriffe auch in Berlin gekommen. Im vergangenen Jahr habe sich die Zahl dann nahezu verdoppelt.

Auch vor dem 7. Oktober 2023 habe Antisemitismus den Alltag von Jüd:innen in Berlin geprägt, heißt es im aktuellen Bericht. Mittlerweile würden Jüd:innen überall in ihrem Alltag – auf der Straße, in der Universität, in Kneipen oder öffentlichen Verkehrsmitteln – attackiert und bedroht. Dadurch schränke sich ihr Leben spürbar ein.

Insbesondere habe auch die Gewalt gegen Jüd:innen spürbar zugenommen: RIAS dokumentierte 2024 zwei Fälle extremer Gewalt, darunter den Angriff auf den deutsch-israelischen Studenten Lahav Shapira. In 53 weiteren Fällen seien Jüd:innen körperlich attackiert worden. „Betroffene wurden von Unbekannten geschlagen, getreten, angerempelt oder angespuckt“, heißt es in dem Bericht.

Auch jüdische und israelische Kinder würden vermehrt attackiert: In insgesamt 45 Fällen seien sie auf der Schule, der Straße oder auf dem Sportplatz angefeindet worden, in zehn Fällen auch körperlich angegriffen.

Alexander Rasumny warf den Bildungseinrichtungen vor, dass diese auf antisemitische Vorfälle oft nicht angemessen reagieren oder diese gar nicht als solche erkennen würden. „Kinder werden für den Nahostkonflikt verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen“, sagte er. Das Sicherheitsbedürfnis der Eltern werde von Schulen wiederum meist bagatellisiert.

Aufsehen hatte etwa ein Fußballspiel einer Jugendmannschaft des jüdischen Vereins Makkabi Berlin im November 2024 erregt: Im Nachgang seien die 13-jährigen Spieler beleidigt, bespuckt und mit Messern und Stöckern verfolgt worden, schilderte ein Vater dem Tagesspiegel.

Zudem zählt der RIAS-Bericht 99 Fälle gezielter Sachbeschädigungen auf. Es seien etwa Stolpersteine, Gedenktafeln und andere Mahnmale für Opfer des Holocausts zerkratzt, mit Parolen beschmiert oder zerstört worden. Auch Tafeln, die an die von der Hamas entführten israelischen Geiseln erinnern, seien betroffen gewesen.

Dazu seien antisemitische Hassbotschaften, Vernichtungsfantasien und die vielfache Leugnung des Holocausts im Internet gekommen, aber auch auf Schmierereien und Flyern im öffentlichen Straßenraum. Auch auf Demonstrationen würden immer wieder antisemitische Drohungen geäußert.

Die meisten Übergriffe ordnet RIAS antiisraelischen Aktivist:innen zu, einen geringeren Anteil Rechtsextremisten. Zugenommen hätten insbesondere Vorfälle, die sich auf den Nahost-Konflikt beziehen. Die meisten antisemitischen Vorfälle dokumentierte die Registerstelle in Mitte (371), Friedrichshain-Kreuzberg (255) und Neukölln (224).

„Die Zahlen zeigen, was Jüdinnen und Juden in Berlin längst wissen: Aggressiver Antisemitismus gehört in einigen Vierteln in Berlin zur Kultur“, teilte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, zu den vorgestellten Zahlen mit. „Wir dürfen antisemitische Vorfälle nicht mehr bagatellisieren und einfach so hinnehmen: Ich weiß, dass die Sicherheitsbehörden ihr Bestes tun; davon wird auch in Zukunft leider noch mehr gefordert sein.“

Man müsse die Köpfe der Menschen erreichen, sagte Schuster weiter, und „deutlich machen, dass es keine Erklärung für Judenhass geben kann“. Gerade an Hochschulen und Schulen müsse stärker sensibilisiert und aufgeklärt werden.

Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) bezeichnete den Jahresbericht als „erschütternd“. „Uns muss alarmieren, wie sehr Jüdinnen und Juden in unserer Stadt unter Druck stehen“, sagte sie. Daher sei ein entschlossenes Handeln jetzt dringender denn je nötig. „Rassismus, Antisemitismus, Hass gegen queere Menschen und jede weitere Form von Menschenfeindlichkeit haben in Berlin keinen Platz!“, so Kiziltepe weiter.

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