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Der Bettenturm am Charité-Campus in Berlin-Mitte.

© mauritius images / SZ Photo Creative / snapshot/Future Image/C.Hardt

Exklusiv

„Wieso sind Impfkampagnen je nach Bundesland anders?“: Charité-Vorstand fordert Gremium für Lehren aus der Pandemie

Gesundheitswesen, Wirtschaft, Staat in der Coronakrise - was hat sich bewährt, was nicht? Charité-Chef Heyo Kroemer will in der Not abgestimmtes Vorgehen.

Um Deutschland angesichts der Coronakrise besser auf Notlagen vorzubereiten, solle ein nationales Fachgremium systematisch Lehren aus der Pandemie ziehen. Das fordert die Führung der Berliner Charité. Die Vorschläge eines solchen Kreises könnten Grundlage für Maßnahmen sein, die künftig im Krisenfall zu ergreifen wären.

„Als Gesellschaft sollten wir nach der Coronakrise auf Bundesebene einen Kreis von Experten damit beauftragen, branchenübergreifend Lehren zu ziehen“, sagte Charité-Vorstandschef Heyo Kroemer dem Tagesspiegel. „Gemeinsam wäre zu klären, was anders laufen müsste. Welche Abläufe, welche Befugnisse, welche Vorräte haben sich bewährt, was fehlte? Dem entsprechenden Gremium sollten Fachleute aus Wirtschaft, Politik und Gesundheitswesen angehören.“

Vor einem Jahr war der erste Corona-Fall in Berlin nachgewiesen worden. Experten der Charité haben nicht nur Berlins Senat, sondern auch die Bundesregierung im Kampf gegen die Pandemie beraten. Kroemer, der Pharmakologe ist und zuvor die Hochschulmedizin Göttingen führte, trat dabei mit Charité-Topvirologe Christian Drosten auf.

„Die Charité wird gestärkt aus der Pandemie hervorgehen, sie hat in der Krise gut funktioniert“, sagte Kroemer. Die Kooperation mit anderen Krankenhäusern und auch mit der Politik habe sich verbessert.

Die Charité ist Berlins einziges Level-I-Krankenhaus. Damit ist gemeint, in der landeseigenen Hochschulklinik werden die schwersten Covid-19-Fälle der Hauptstadtregion behandelt. Derzeit liegen 90 Corona-Patienten auf Charité-Intensivstationen, zur Jahreswende waren es 160.

Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der landeseigenen Charité Berlin.
Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der landeseigenen Charité Berlin.

© picture alliance/dpa-pool

Angesichts der Pandemieerfahrung bräuchten aber alle Krankenhäuser mehr Vorsorge, sagte Kroemer: „Eine Lehre ist sicher, dass das Gesundheitswesen besser auf Krisen, auf Notlagen vorbereitet sein sollte. Die Krankenhäuser brauchen Reserven, also Kapazitäten für Großereignisse wie Epidemien.“

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Generell plädiert der Charité-Chef für einheitlicheres Vorgehen: „Warum nutzen in diesem Land nicht alle Gesundheitsämter die gleiche Software, obwohl der Austausch dann einfacher wäre? Wieso sind die Abläufe der Impfkampagnen in jedem Bundesland anders? Und sollte es in Notlagen nicht Mechanismen geben, die zwischen den Bundesländern die Abstimmungen erleichtern?“

Europas größte Universitätsklinik – drei Campusse, 3000 Betten, 19.000 Mitarbeiter – wird von Senatschef Michael Müller (SPD) und der Bundesregierung unterstützt. Mit der Charité im Zentrum soll Berlin zur internationalen Medizinmetropole avancieren.

Trotz gelegentlicher Proteste gegen die Corona-Maßnahmen hält Kroemer die Reaktionen in der Bevölkerung für maßvoll. „Seit einem Jahr hören die Leute aus Politik und Öffentlichkeit, dass die Lage schlecht ist. Seit einem Jahr geht es darum, harte Maßnahmen, meist in Form massiver Einschränkungen durchzusetzen“, sagte Kroemer. „Angesichts dessen reagieren die allermeisten Bundesbürger besonnen.“

„Ab April wird sich die Lage wegen mehr Impfdosen entspannen“

Inwiefern Deutschland eine dritte Welle droht, wie stark sich nun also die ansteckenderen Virusmutationen verbreiten, hänge davon ab, wie zügig in Deutschland geimpft wird. Mindestens noch den März durch gehe es um eine Kontrolle des Infektionsgeschehens, sagte Kroemer: „Ab April wird sich die Lage zumindest entspannen. Dann wird es deutlich mehr Impfdosen geben.“

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Erst vor acht Wochen, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle, war Martin Kreis als für die Krankenversorgung verantwortlich in den Vorstand berufen worden. Die Charité arbeitete zur Jahreswende wegen der vielen Covid-19-Patienten im Notmodus. Seit einigen Wochen ist vom „reduzierten Betrieb“ die Rede. „Grundsätzlich sind zwei Drittel der Behandlungen, die wir an der Charité üblicherweise durchführen, allenfalls für ein paar Tage verschiebbar“, sagte Kreis. „Wann wir wieder im Normalbetrieb arbeiten, ist derzeit nicht absehbar.“

Das Bettenhochhaus der Berliner Charité nahe dem Bundeskanzleramt.
Das Bettenhochhaus der Berliner Charité nahe dem Bundeskanzleramt.

© picture alliance/dpa

Auch Kreis, der zuvor das Zentrum für chirurgische Medizin am Charité-Campus „Benjamin Franklin“ in Steglitz leitete, fordert, bestimmte Geräte und Räume vorzuhalten: „Das kostet Geld. Deshalb wird sich die Finanzierung der Kliniken ändern müssen, denn bislang vergüten die Krankenkassen zwar konkrete Behandlungen – nicht aber, was ein gut ausgestattetes Gesundheitswesen darüber hinaus braucht.“

Im März sind 10.000 Charité-Mitarbeiter geimpft

Krankenhäuser erhalten nur für einige, meist planbare Behandlungen ausreichend Geld. Diese Eingriffe fielen in der Pandemie oft weg. Ärzte vieler Kliniken berichten, dass auch die Kassenpauschale für Covid-19-Fälle nicht ausreiche. Circa 1000 Euro würden im Schnitt pro Tag für einen Beatmungspatienten gezahlt, was oft zu wenig für den tatsächlichen Aufwand sei.

„Man kann sagen, im Schnitt wird die Behandlung von Covid-19-Patienten nicht auskömmlich vergütet“, sagte Kreis. Die eigens für Covid-19-Kranke eingerichteten Zusatzplätze möchte Kreis aber erhalten. „Wir haben am Campus Mitte 70 neue Intensivplätze aufgebaut. Die bleiben, schon wegen der Gefahr einer dritten Welle.“

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Kreis sorgt sich derzeit um die Skepsis vieler Berliner vor einem Termin in einer Klinik. Patienten würden Arztbesuche vermeiden, was zu größeren Schäden führen könne: „Unsere Ärzte berichten, dass sich viele Patienten mit akuten Leiden zu spät bei ihnen gemeldet haben. Offenbar spielte dabei Angst eine Rolle, sich im Krankenhaus mit dem Coronavirus anzustecken.“

Dabei sei die Wahrscheinlichkeit, sich in der Charité zu infizieren, derzeit wohl geringer als außerhalb der Klinik, sagte Kreis. „Das Personal auf vielen Stationen, auch in den Rettungsstellen, ist geimpft. Und ab 5. März dürften etwa alle 10.000 Kolleginnen und Kollegen, die an der Charité in patientennahen Bereichen arbeiten, eine Impfung erhalten haben. Wir rufen die Berliner dazu auf, mit einem Leiden lieber früher als später zum Arzt zu gehen.“

Helfen Gastro- und Reisebranche im Pflegenotstand?

Alle Kliniken suchen Pflegekräfte. In der Pandemie ist der Mangel größer geworden, womöglich deutet sich in der Krise aber auch Hilfe an. An der Charité arbeiten seit Herbst 2020 mehr als 50 Flugbegleiterinnen, da viele Airlines ihr Geschäft reduzieren mussten. Womöglich wird sich Personal aus Branchen, die in der Coronakrise besonders litten, in der Pflege ausbilden lassen.

„Die Beschäftigten aus Tourismus und Gastronomie haben Erfahrung darin, mit Menschen zu arbeiten“, sagte Kreis. „Im Idealfall beginnen sie eine Ausbildung in der Pflege. Fest steht aber, dass die Bedingungen in der Pflege verbessert werden müssen – es braucht insgesamt mehr Personal und entschlossenere Digitalisierung, schon um die Mitarbeiter vom immensen Papierkram zu befreien.“

Die Coronakrise verändert das Gesundheitswesen. Ab Herbst, wenn der Bundestag und das Abgeordnetenhaus gewählt werden, folgen weitere Weichenstellungen. Charité-Chef Kroemer gibt sich optimistisch: „In der Pandemie hat jeder gesehen, welche Bedeutung die Medizinforschung hat. Über alle Parteien hinweg genießt die Charité große Wertschätzung – wir erwarten nicht, dass sich das nach der Wahl im September ändern wird.“

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