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Berlin hat sich in den vergangenen 20 Jahren rasant verändert - unser Autor blickt zurück.

© Getty Images/iStockphoto

Eine Bilanz: Das alte Berlin vermisst keiner

20 Jahre beim Tagesspiegel, als Lokalchef und Gründer der „Gemeinsamen Sache“. Ein Blick zurück und nach vorn - von Diepgen, Landowsky und Wowereit bis zum BER.

Die Geschichte einer Stadt verläuft nicht in geraden Linien. Da ergeht es Berlin nicht anders als normalen Menschen, in deren Leben sich die Phasen der Leichtigkeit abwechseln mit zähen Zeiten, in denen sich Probleme ballen und das Glück sich abgewendet hat. Erfolg ist kein Naturgesetz und Glück haben ersetzt keine vorausschauende Politik. Chancen bieten sich nicht ewig; es gibt Fenster der Gelegenheiten, die sich auch wieder schließen.

Das wird einem Betrachter deutlich, wenn man vor dem Torso des Anhalter Bahnhofs sitzt, gleich neben dem Verlagshaus des Tagesspiegels. Eine Leerstelle, vom Krieg geschlagen. Die wachsende Stadt, so kann mit Blick auf die Großbaustelle nebenan sehen, fasst bald auch diese Leerstelle ein. Ob die hochpreisigen Wohnungen, die entstehen, wirklich ein Symbol für den geraden Weg in eine glänzende Zukunft Berlins sind, daran kann man durchaus zweifeln.

Im Sommer 1998, als ich beim Tagesspiegel begann, war man dagegen froh über jeden Zuzügler nach Berlin. Es wollte bloß niemand kommen. Im Gegenteil. Bitter stießen einem die optimistischen Prognosen auf, die wenige Jahre zuvor Berlin als Frucht des Mauerfalls eine Boomphase unglaublichen Ausmaßes vorhergesagt hatten.

Statt Wachstum gab es Depression. Die Industrie in beiden Stadthälften kollabierte im rauen Wind des Wettbewerbs, der jäh über Berlin brauste. Im Ostteil waren die Betriebe durch den Staatssozialismus heruntergewirtschaftet und im Westteil brachen nach der Abschaffung der Berlin-Förderung jene Unternehmen zusammen, die in Mauerzeiten zu ausgelagerten Werkbänken ohne Fertigungstiefe und kreative Wertschöpfung verkommen waren.

1998 wanderten die Berliner ab - auf der Suche nach Perspektiven

Die Arbeitslosigkeit nahm enorm zu, die Bevölkerungszahl zugleich ab, weil Berliner auf der Suche nach Perspektiven abwanderten. Die Nachfrage nach Wohnraum brach so abrupt ein, dass im Jahr 1998 nur noch halb so viele Wohnungen gebaut wurden wie ein Jahr zuvor.

Auch der Umzug des Bundestages und der Bundesregierung 1999 mit tausenden Mitarbeitern nach Berlin konnte das nicht ändern. So wurde erst 2010 wieder die Bevölkerungszahl von 1991 erreicht.

In alarmierender Weise stiegen dafür die Schulden Berlins, weil der Senat trotz des Wegfalls der Bonner Milliarden unverdrossen das Geld ausgab, als gäbe es kein Morgen.

Mutig – und richtig, obwohl es noch mehr Schulden bedeutete – war freilich, dass der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) ab 1996 eine Gehaltsangleichung für die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst verfügte – gegen entschiedenen Protest aller Bundesländer. Zuvor erhielten Busfahrer oder Lehrer im Ostteil der Stadt deutlich weniger Geld als die Kollegen im Westteil. Das nicht zu ändern, hätte Berlin noch mehr zerrissen.

Trotzdem teilte auch zehn Jahre nach dem beglückenden Erlebnis der offenen Grenze immer noch eine unsichtbare Mauer die Stadt. Ostkiez blieb Ostkiez und die Menschen im Westteil wollten erst recht nichts zu tun haben mit den Ossis.

Niemand konnte damals ahnen, dass in der Stadt am Abgrund aus aufgegebenen Fabriken, Kellern oder Hinterhöfen, in denen sich eine bunte Kulturszene ausprobieren konnte, jene weltweite Ausstrahlung wachsen würde, die heute Millionen Reisende lockt und dafür sorgt, dass jährlich zehntausende Neu-Berliner in die hippe Metropole ziehen.

Der Bankenskandal war ein heilsamer Schock

Es passte zur grauen Lage in jenem Jahr 1998, dass Klaus-Rüdiger Landowsky, der damals mächtigste Strippenzieher der regierenden Berliner CDU, in jenem Sommer des Verdrusses den Abriss des Kreuzberger Zentrums am Kottbusser Tor und des Schöneberger Sozialpalasts forderte – als Putzmittel gegen soziale Probleme.

Weil Geschichte sich erst im Rückspiegel offenbart, konnte niemand ahnen, das der omnipräsente Multifunktionär Landowsky bald wegen des Berliner Bankenskandals stürzen und dabei seine Partei mit in den Abgrund ziehen würde.

Der Bankenskandal, so hart muss man es sagen, war ein heilsamer Schock. Erst damit endete eine Politik der Selbsttäuschung und der hohlen Sprüche. Das von Klaus Wowereit gezimmerte Bündnis mit der Linkspartei befriedete die innere Teilung Berlins.

Der brutale Kassensturz ab 2001 brachte Berlin auf einen neuen Weg. Der Kraftakt Wowereits, der die Ausgaben brachial kürzte und zehntausende Stellen im aufgeblähten öffentlichen Dienst strich, legte die Basis für eine veränderte Stadt und das kleine Wirtschaftswunder, dass Berlin seit Jahren erlebt.

Ja, mit vielen vielen Problemen kämpfen wir heute noch, weil jahrelang nichts investiert wurde in Schulen, Straßen oder den Nahverkehr. Hätte, hätte, Wunschpalette: Der drohende Landesbankrott ließ keine andere Wahl.

Zu diesem Kapitel gehört auch, dass in Berlin tausende Wohnungen abgerissen wurden, weil niemand sie beziehen wollte, und im großen Stil städtische Wohnungen verramscht wurden, die Berlin heute dringend benötigt. Die Journalisten übrigens, so viel zum Thema Ehrlichkeit, fanden das damals durchaus richtig.

Ist Berlin auf dem geraden Weg in eine erfolgreiche Zukunft irgendwann falsch abgebogen?

Hinten die Tagesspiegel-Zentrale, vorne der Torso des Anhalter Bahnhofs, mittendrin: Gerd Nowakowski.
Hinten die Tagesspiegel-Zentrale, vorne der Torso des Anhalter Bahnhofs, mittendrin: Gerd Nowakowski.

© Kitty Kleist-Heinrich

Kaum vorstellbar, dass es heute noch möglich wäre, so rigoros wie unter dem Gespann Wowereit und Sarrazin zu sanieren. Die rot-rot-grüne Landesregierung, mit dem weichen Kissen der sprudelnden Einnahmen im Rücken, übt sich seit dem Amtsantritt Ende 2016 vornehmlich im Geldausgeben. So kann man bequem jeden Streit in der Koalition vermeiden – der eigentlich zwingend wäre. Ansonsten hätte die Nicht-Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) längst vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) abgelöst werden müssen.

Ist Berlin auf dem geraden Weg in eine erfolgreiche Zukunft irgendwann falsch abgebogen? Ist das Fenster der Gelegenheit schon dabei, sich wieder zu schließen? Am Beispiel des Katastrophen-Airports BER kann man sehen, wie wichtig der richtige Zeitpunkt ist. Seit der gescheiterten Eröffnung 2012 wurde die Struktur im Luftverkehr im wahrsten Sinne zementiert. Die seitdem ausgebauten Flughäfen in München und Frankfurt werden über Jahrzehnte verhindern, dass Berlin ein Luftkreuz wird.

Auch all die sozialen Wohltaten, mit denen Rot-Rot-Grün die Berliner beglückt – von kostenlosen Kita-Plätzen, kostenlosem Schulessen und kostenlosen Schüler-Tickets – werden den Landeshaushalt enorm belasten, wenn die sprudelnde Steuerquelle austrocknet.

Vorsorge wird nicht getroffen, man brüstet sich lieber damit, dass die Wirtschaft seit Jahren prozentual stärker wächst als in allen anderen Bundesländern. Außen vor bleibt, dass Berlin trotzdem immer noch industrielle Diaspora ist und auch ansonsten ein wirtschaftliches Entwicklungsland.

Soziale Wohltaten von R2G werden den Haushalt enorm belasten

Es ist auch kein Naturgesetz, dass in Berlin immer mehr Arbeitsplätze geschaffen werden und die Arbeitslosigkeit weiter sinkt. Dazu braucht es etwa „eine aktive und ressortübergreifende Industriepolitik“, wie es die IHK fordert – der Ende 2018 beschlossene „Masterplan“ des Senats ist aber bislang nur Papier.

Wird der Volksentscheid zur Freihaltung des Flughafens Tempelhof im Mai 2014 einst als entscheidendes Moment dafür ausgemacht werden, wann die Politik in Berlin jeden Mut verlor, mit der Stadt um Lösungen zu ringen? Anfänglich waren die Berliner durchaus für die Idee aufgeschlossen, das Feld öffentlich zu machen und am Rand des riesigen Geländes sparsam Wohnungen zu bauen.

Die Stimmung kippte erst durch das unehrliche Taktieren des Senats, der keine Nichtbebauungs-Garantie für die zentrale Freifläche abgeben wollte und zudem eine Wowereit-Gedenk-Bibliothek plante. Berlin wäre ansonsten heute beim Wohnungsbau weiter.

So aber braucht hier in Berlin niemand mehr erwarten, dass die im Koalitionsvertrag von 2016 aufgelisteten Flächen für Großsiedlungen wirklich bebaut werden. Die Linke schützt die Mieter in der Innenstadt gegen Verdichtung und verweist auf die Freiflächen am Stadtrand.

Ist die gute Zukunft schon wieder vorbei?

Und den Menschen am Stadtrand wird der Erhalt der grünen Idylle versprochen und betont, erstmal solle in der Innenstadt verdichtet werden. Also wird weiterhin zu wenig gebaut, während steigende Mieten das Armutsrisiko erhöhen. Stattdessen träumt man selbst im Senat von einer Investoren-Enteignung.

Ist die gute Zukunft schon wieder vorbei? Die Senatskoalition wird kaum der Dynamik der Stadt gerecht, deren Bevölkerung im vergangenen Jahr erneut um 40.000 Menschen wuchs. Es rächt sich auch, dass nie ernsthaft eine tiefgreifende Verwaltungsreform angegangen wurde. So ist die Bürokratie weder digital gerüstet, noch wurden die dysfunktionalen Zuständigkeiten von Landesbehörden und Bezirksverwaltungen neu geregelt.

Manches von dem, womit sich die Politik heute brüstet, ist einfach Glück gewesen. Das so glänzende Berlin stünde weit schlechter da ohne den massiven Impuls, den der Zuzug von Bundesregierung, Bundesbehörden, Wirtschaftsorganisationen, Landesvertretungen und Lobbyistenverbänden bedeutet hat. Und dass Berlin heute die Start-up-Hauptstadt ist, hat sich weitgehend ohne eine gezielte Förderung durch die Politik entwickelt.

Berlin hat sich enorm verändert und so viel Strahlkraft, wie es 1998 nicht vorstellbar erschien. Aber glaube niemand, man könnte nicht auch wieder verspielen, was sich entwickelt hat. Wohin politischer Hochmut und wirtschaftliche Ignoranz führt, daran erinnert ebenfalls am Anhalter Bahnhof der Blick auf das hochaufragende Dach des Tempodroms.

Fragwürdige politische Einflussnahme und eine Verdoppelung der Kosten zu Lasten der Steuerzahler für den 2001 eröffneten Kulturpalast gemahnen an ein altes Berlin, das niemand vermisst.

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