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Schülerlotsenschild im Bayerischen Viertel in Berlin.

© Ann-Kathrin Hipp

Lesermeinungen zum Straßenverkehr: "Rücksichtslosigkeit täglich an jeder beliebigen Schule und Kita"

Starke Resonanz: Wie sich Tagesspiegel-Leserinnen und -Leser zum Thema Rücksichtslosigkeit gegenüber Kindern im Straßenverkehr äußern.

Der Brief einer Lehrerin der Werbellinsee-Schule, in dem sie schildert, wie Schülerlotsen vor dem Schultor von rücksichtslosen Autofahrern bedrängt werden, hat nach seiner Veröffentlichung im Checkpoint-Newsletter des Tagesspiegels ein stadtweites, viel diskutiertes Thema gesetzt. Im Leserforum unter einem Leitartikel zur Fairness im Straßenverkehr und zum Recht des Schwächeren gab es 169 Kommentare und noch einmal 80 zu einem Beitrag, in dem ein Erzieher schildert, was er an Drangsalierungen im Straßenverkehr erlebt, wenn er mit seinen Kita-Kindern unterwegs ist. Auf unseren Social-Media-Plattformen, bei Facebook und Twitter, wurde ebenso angeregt diskutiert. Und auch per E-Mail erreichte uns eine ganze Reihe von Stellungnahmen. Hier veröffentlichen wir eine Auswahl:

Wir treten nun an die Politik heran

Wir beginnen mit unserer Leserin Birgit Adolph aus Niederschönhausen, die eine Elterninitiative mitbegründet hat, die gegen das morgendliche Verkehrschaos vor der Grundschule ihrer beiden Kinder vorgehen will. Wegen ihres Engagements haben wir sie gern in unserem Pankow-Newsletter als "Nachbarin" vorgestellt. Wenn Sie engagierte Menschen aus diesem Bezirk oder anderen Berliner Bezirken kennen oder selbst einer sind, schreiben Sie uns unter leute@tagesspiegel.de. Hier nun Birgit Adolphs Anliegen, entlang dreier Fragen. Im Folgenden dann weitere Leserkommentare zum Thema.

Was spielt sich vor Ihrer Grundschule morgens ab? Die Grundschule an den Buchen liegt in einer engen Wohnstraße, der Wilhelm-Wolff-Straße. Morgens herrscht hier Ausnahmezustand. Eltern, die ihre Kinder unbedingt bis vor die Schule fahren wollen, verstopfen die Straße und gefährden beim Rangieren Kinder, die die Straße überqueren wollen. Weil die Haltezonen außerdem meist von Anwohnern und Eltern zugeparkt werden, müssen sich die Kinder zwischen parkenden und haltenden Autos durchmogeln. Schon mehrmals kam es dabei zu brenzligen Situationen.

Was unternimmt die Schule? Es gibt immer wieder Appelle, Kinder nicht mit dem Auto zu bringen. Auch Aktionstage, an denen die Kinder ausdrücklich aufgerufen werden, zu Fuß zu kommen, finden regelmäßig statt. Doch das fruchtet nicht. Letztlich denkt jeder Autofahrer nur an sich und sein eigenes Kind.

Was wollen Sie unternehmen? Wir treten nun an die Politik heran, um konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Schulwegsicherheit zu erreichen. Neben der Einrichtung einer Querungshilfe, etwa mit erweitertem Halteverbot, wollen wir versuchen, ein Schülerlotsen-Projekt in Gang zu bringen.

Polizei dort noch nie gesehen

Chaotische Verkehrsverhältnisse finden sich täglich zum Schulschluss vor der Judith-Kerr-Schule in der Friedrichshaller Straße. Dort halten abholende Eltern auf beiden Straßenseiten in zweiter Reihe, warten bis die

Kinder das Schulgebäude verlassen, durchfahrende Autos stecken hoffnungslos fest, kleine Kinder auf dem Heimweg stolpern zwischen anfahrenden und haltenden Autos hindurch, es ist ein einziges Chaos, gepaart mit einer gehörig aggressieven Stimmung. Polizei habe ich dort noch nie gesehen. Ähnlich sieht es vor der Grunewald-Grundschule in der Delbrückstr. sowie vor dem jüdischen Kindergarten/-hort in der Delbrückstr. aus. Auch hier: Polizei? Fehlanzeige.

Joachim Senft

Radfahrer beschimpfen Schülerlotsen

Zunächst vielen Dank, dass Sie das Thema Schülerlotsen aufgegriffen haben. Wir haben vor der Grundschule im Eliashof (Senefelderstraße) in Prenzlauer Berg ähnliche Erfahrungen gemacht. Meine Kinder besuchen diese Schule und ich bin dort aktiv in der GEV mit dem Thema Verkehrssicherheit beschäftigt. Zunächst hat es wegen der verkehrstechnischen Besonderheiten anderthalb Jahre gedauert, bis wir mit der Ausbildung von Schülerlotsen beginnen konnten. "Leider" ist direkt vor der Schule vor Jahren eine Spielstraße eingerichtet worden, die in der Realität so gut wie gar nicht zur Verkehrsberuhigung beiträgt. Dies führte aber dazu, dass lange unklar war, ob wir dort überhaupt Schülerlotsen einsetzen dürfen (auch versicherungstechnisch).

Nach langem hin und her zwischen Polizei, Verkehrsamt, Schulamt und Stadtrat Kirchner konnten wir dann nach den Herbstferien endlich loslegen. Aber schon in der Ausbildungsphase hat sich gezeigt, dass sich einige Auto- und vor allem Radfahrer (die an dieser Stelle das größere Problem darstellen) weder von der Spielstraße, noch von Schülerlotsen, noch von der Anwesenheit der Polizei aufhalten lassen wollen. Ich habe selbst erlebt wir Radfahrer rüpelhaft an Schülerlotsen vorbeifuhren und diese dann sogar noch beschimpften. In Einzelfällen konnte die Polizei Bußgelder erheben (zwischen 80 und 100 Euro). Die Polizei war allerdings nur in der Ausbildungsphase anwesend und hat daher angekündigt, dass sie nun prüfen wollen, ob sie die Schülerlotsen nicht wieder einstellen müssen, da sie nicht für die Sicherheit der Kinder garantieren können.

Ich finde es höchst erschreckend und irgendwie ist es ja wohl auch Ausdruck des Zeitgeistes. Wenn Kinder (Schwächere) auf diese Weise attackiert werden und dies offensichtlich keine Einzelfälle mehr sind, müssen wir uns ernsthaft Gedanken über das Miteinander in unserer Gesellschaft machen.

Jakob Meyer

Polizei überlastet, rasende Autofahrer nicht einsichtig

Der Beitrag spricht zwar ein nicht wirklich neues Thema an, aber sein Inhalt, vor allem das (leider in dieser Situation richtige) Verhalten der Schulleitung - der Schutz der Kinder - setzen eine "Benchmark". Die Polizei ist überlastet, rasende Autofahrer nicht einsichtig. Nicht einmal in Straßenabschnitten vor Schulen und Kindergärten. Die "freie Fahrt für freie Bürger", die hier angesichts von minimalen Sekundenvorteilen nichts als das Recht des Stärkeren verkörpert - gefördert von einer Autoindustrie, die uns gepanzerte rollende Wohnzimmer mit gefälschten Verbrauchswerten als Vehikel der Selbstverwirklichung unterjubelt - in Werbespots übrigens fast immer menschenleere wilde Landschaften erobernd!, bahnt sich ihren Weg selbst gegen die Schwächsten: unsere Kinder, gar bei ihrem Ehrenamt als Schülerlotsen. Mir wird übel. Wer bekommt angesichts solcher Entwicklungen keine Angst vor der Verrohung und Vereinzelung unserer Gesellschaft? Man mutiert zum Kulturpessimisten. Leider erfolgt die Bestätigung spätestens am Montagmorgen.....vor der Grundschule der eigenen Kinder.

Vielleicht sind auch die digitalen Medien schuld daran: Immer mehr Menschen gehen Eigen- und Außenwahrnehmung verloren. Bitte, liebe verbleibende Schülerlotsen: Passt auf! Es sind so genannte "Erwachsene" in ihren automobilen Phallus-Helfern unterwegs.

Jochen Liedtke

Autofahrer rasen, biegen ohne zu gucken um die Ecke

Ich wende mich an Sie aufgrund des Kommentars im Tagesspiegel vom Freitag - "Recht des Schwächeren" von Markus Hesselmann. Dort wurde aufgerufen, weitere gefährliche Stellen in den Kiezen zu melden. Es gibt zwei Orte in meinem Kiez, welche nicht nur von mir mit Sorge betrachtet werden. Ich bin Vater von zwei Söhnen (zehn Jahre und sechs Jahre alt). Der Große besucht derzeit die Teltow-Schule, der Kleine wird im Sommer ebenfalls dort eingeschult. In der letzten Gesamtelternkonferenz haben wir über den Schulweg der Kinder zur Teltow-Schule gesprochen. Ich zitiere aus dem Protokoll:

- Erhöhte Gefährdung für Schüler auf dem Schulweg, z.B.: Querstraßen der Ebersstraße (Albertstraße, Prinz-Georg-Straße), Autofahrer rasen, biegen ohne zu gucken um die Ecke, etc.

- Zebrastreifen Feurigstraße wird z.T. mit schnellem Tempo überfahren, obwohl Kinder dort stehen.

- Polizei sagt, dass alles ab und zu kontrolliert wird.

- Dauer-Blitzer ist zu teuer.

- Schülerlotsen sind nicht machbar.

- Durch falsch parkende Autos ist teilweise für die Kinder der Übergang über die Straße nicht einsehbar.

Der zweite Ort ist der Übergang über die Hauptstraße von der Helmstraße zur Vorbergstraße. Um über die viel befahrene Hauptstraße zu gelangen, nehmen die Menschen im Kiez täglich einen gefährlichen und unübersichtlichen Weg. Die nächsten Ampeln sind weit entfernt, auf beiden Seiten der Straße gibt es Cafés und Geschäfte, die rege genutzt werden. Seit Jahren schon fordern die Anwohnerinnen und Anwohner eine Ampel. Eine bedarfsgesteuerte Ampel soll mehr als fünf Jahre nach der ersten Unterschriftensammlung eingerichtet werden. Wann das konkret der Fall sein wird, ist derzeit noch ungewiss.

Ich finde es gut, dass der Tagesspiegel die Verkehrspolitik der Stadt thematisiert und wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Recherche.

Martin Neumann

Rücksichtslosigkeit täglich an jeder beliebigen Schule und Kita

In Ihrem Artikel über Raser, die sogar Kleinkinder gefährden, stellen Sie im Nachgang die Frage, ob die Leser schon einmal ähnliche Situationen erlebt haben. Ich als Vater und meine Frau als Mutter und außerdem als Erzieherin tätig, können nur sagen, dass diese Rücksichtslosigkeit täglich an jeder beliebigen Schule und auch Kita zu sehen ist. Meiner Ansicht nach resultiert diese Rücksichtslosigkeit daraus, dass sich jeder ziemlich sicher sein kann, für sein Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Und wenn dann vielleicht doch einmal, dann sind die Strafmaße doch sehr überschaubar. Von der Politik hört man, dass kein Geld und Personal da wäre um den Verkehr zu überwachen. Aber, wenn ich mir die permanent zugeparkten Busspuren anschaue, wenn ich an einer beliebigen Ampel in der Stadt stehe und innerhalb einer halben Stunde mehrere führerscheinentzugsfähige Rotfahrten sehe, wenn ich sehe, wie selbst Streifenwagen immer wieder grob die Verkehrsregeln missachten, Rechtsabbieger aufgrund eines angenommenen Momentversagens Radfahrer ohne große Konsequenzen gefährden, verletzen oder gar töten, dann muss sich niemand über den Verfall der Sitten wundern. Manchmal ist Toleranz eine Einbahnstraße und begünstigt nicht die Toleranten, sondern die, die sich über Recht und Ordnung hinwegsetzen.

Andree Kubowy

Fatale Umkehrung der Errungenschaft

Das Auto wurde erfunden um relativ beschwerdefrei von A nach B zu kommen und um große Entfernungen zurückzulegen - eine große Errungenschaft und technische Leistung. Und wo hat uns diese technische Errungenschaft hingeführt? Zu einem gewaltigen, alles beherrschenden Problem: Die Städte sind bis zur Kante zugestellt, die Straßen überfüllt, die Luft ist angereichert mit giftigen Abgasen, Lärmbelästigung, Rohstoffverbrauch auf sehr hohem Niveau, große Zahl an Toten und Verletzten. Wir Menschen haben uns dem Auto angepasst - nicht das Auto dem Menschen. Eine fatale Umkehrung der Errungenschaft. Wie konnte diese Dynamik diesen Verlauf nehmen?

Neben der Errungenschaft Mobilität bekam das Auto eine wirtschaftliche Funktion, für die wir heute einen Preis bezahlen, bei dem wir uns fragen müssen, ob dieser Preis im Verhältnis steht, zu dem was das Auto an realen Nutzen bringt. Und genau da liegt das Problem: Es geht nicht mehr um den Zweck - das Auto ist zur Ideologie verkommen! Die Macher der Autoindustrie lügen, betrügen und betreiben ein Spiel mit Billigung der Politik, dass einem der kalte Spei kommt! Reflexartig reagiert die Autolobby auf jegliche Kritik mit Arroganz und Desinformation- und Dobrindt und sein Vorgänger Wissmann (was für eine Lobbyfigur!) spielen dieses schmutzige Spiel mit.

Ich gehe durch die Straßen und sehe immer mehr SUV-Kisten - sie sind Ausdruck dessen, zu was eine großartige Errungenschaft verkommen kann: Machtdemonstration, rücksichtslosem Gewinnstreben zu jedem Preis und einer Ästhetik des Irrsinns!

Da haben Schülerlotsen (und Kinder sowieso) keinen Platz!

Detlef Motl 

Kontrafaktisches Elitenprojekt der Fahrradstadt

Frau Dernbach spricht sich dafür aus, dass der Verkehrsraum von den Autofahrern "zurückerobert" werden müsse. Dies setzt begriffsnotwendig voraus, dass er von den Autofahrern vorher erobert wurde. Sehr viele der Autofahrer haben und hatten aber keine conquista in Sinn, sondern sind einfach arme Schweine, die mit vernünftigem Zeitaufwand von ihrer Wohnung zum Arbeitsplatz und zurück wollen. Jeder würde gerne zu den Privilegierten gehören, deren Arbeitsplatz fußläufig zur Wohnung liegt. In einer großen Stadt mit einem Durchmesser von 60 Kilometern plus Speckgürtel wird das aber für fast alle ein Traum bleiben. 

Selbst laut der Fahrradinitiative von Herr Strößenreuther bewegen sich nur 7 % der Berliner mit dem Fahrrad fort. Dies mag stimmen, aber jedenfalls nicht im Winter oder wenn es regnet: So lange Berlin geographisch da liegt wo es heute liegt, ist das Fahrrad kein Massenverkehrsmittel, sondern eine exklusive Weltanschauung von vielleicht 2 % der Menschen. Diese "Mittelmacht" (Kommentar vom 7. Januar) ist eben keine, sondern eine Minderheit, die sich das Recht anmaßt, die verbleibenden 98 % zu kujonieren. Und dies im Bewusstsein der eingebildeten moralischen Überlegenheit.

Von einem Einzelfall in Schöneberg wird dahingehend generalisiert, dass "das Recht des Stärkeren" (der Autofahrer") "abgeschafft" werden müsse. Dieses Recht des Stärkeren gilt auch heute nicht. Wenn Einzelne die Regeln (und Gesetze!) verletzen, entsteht daraus nicht die Ermächtigungsgrundlage, alle Mitglieder einer Gruppe aufgrund eines äußerlichen Merkmals (Autofahrer) zu maßregeln und in ihren Rechten zu beschneiden. Wem das zu abstrakt erscheint, möge sich überlegen, ob er alle Flüchtlinge aus der Stadt werfen will, weil einer zwölf Menschen am Breitscheidplatz getötet hat.

Das kontrafaktische Elitenprojekt der Fahrradstadt ist kein großer Sprung nach vorn, sondern führt die Stadt in Wirklichkeit zurück: Ins Peking der 80er Jahre. Wo soll es enden? Bei Umerziehungslagern für notorische Autofahrer?

Ohne Zweifel benötigt eine wachsende Stadt neue Überlegungen und Lösungen. Die Wiederbelebung fehlgeschlagener gesellschaftspolitischer Experimente des 20. Jahrhunderts wird die Lösung nicht sein.

Simon Welte

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