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Eine Hausärztin impft eine Patientin gegen Corona.

© Christoph Schmidt/dpa

Update

Streit zwischen Senat und KV um Impfungen: Berlin hebt Priorisierung in Praxen ab Montag auf – Ärzte warnen vor Chaos

In Berlin soll die Impf-Reihenfolge nach Alter oder auch Beruf wegfallen. Niedergelassene Ärzte sagen, der Impfstoff reiche nicht – und beklagen „Wahlkampf“.

Berlin hebt ab Montag die Priorisierung für alle Coronavirus-Impfstoffe bei Haus- und Betriebsärzten auf. Das bestätigte ein Sprecher von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Zuvor hatte das Magazin "Business Insider" darüber berichtet, Bayern und Baden-Württemberg hatten ähnliche Schritte angekündigt.

Am Montag hatte SPD-Politikerin Kalayci im Gesundheitsausschuss des Abgeordnetenhauses angekündigt, die Reihenfolge für alle Impfstoffe aufzuheben. Schon seit Ende April galt dies in den Praxen für das Präparat des schwedisch-britischen Hersteller Astrazeneca, später für das US-Mittel von Johnson & Johnson.

Nun sollen auch für Impfungen mit dem US-Präparat von Moderna und dem deutschen Biontech-Impfstoff das Alter, Vorerkrankungen oder bestimmte Berufe keine Rolle mehr spielen. Zumindest in den Arztpraxen – und genau dort ist man beunruhigt.

Den Tagesspiegel erreichten an diesem Donnerstag zahlreiche Anrufe von niedergelassenen Medizinern, die das Vorgehen des Senats kritisieren. Tenor: Bislang erhältliche Impfstoffmengen reichten nicht aus, um ab Montag all diejenigen zu versorgen, die angefragt hatten. Nun würden weitere Zehntausende einen Impftermin ausmachen wollen, wofür es von keinem Präparat derzeit genug Vorrat gebe.

Obwohl Praxen an diesem Feiertag geschlossen haben, versuchten Patienten schon jetzt ihre Ärzte zu erreichen: Das "Anruf- und E-Mailaufkommen", wie ein Hausarzt aus Mitte berichtet, sei enorm. Die DPA zitiert Kalaycis Sprecher auch damit, dass nicht jeder Berliner nächste Woche geimpft werden könne – die verfügbaren Mittel seien knapp, erst ab Juni werde mit größeren Mengen gerechnet.

Niedergelassene Ärzte warnen vor "Wahlkampfthema"

Die für die Praxen zuständige Kassenärztliche Vereinigung (KV) kritisierte Kalaycis Verwaltung deutlich, das angekündigte Ende der Priorisierung treffe die Mediziner unvorbereitet: "Zu diesem Vorgehen hat es mit uns im Vorfeld leider keine Absprache gegeben." Die Ärzte müssten "ab Montag mit einem noch größeren Ansturm impfinteressierter Berlinerinnen und Berliner rechnen".

Dabei reiche der Impfstoff nicht mal für "prioritär zu impfende Personen", erklärten die Kassenärzte: "Der von der Politik angekündigte ‚Ketchup-Effekt‘, wonach in absehbarer Zeit sehr viel mehr Impfstoff zur Verfügung steht, ist bislang nicht eingetreten. Mit der kurzfristigen Aufhebung der Priorisierung weckt der Berliner Senat falsche Erwartungen bei den Berlinerinnen und Berlinern und provoziert damit das Chaos in den Praxen."

[Lesen Sie mehr: Berliner Impfärzte erzählen aus der Praxis. „Die Leute rauchen, aber wollen keine Impfung mit Astrazeneca“ (T+)]

Und: "Vor diesem Hintergrund rät die KV Berlin den Praxen, auch weiterhin an den Kriterien wie Alter, Vorerkrankung und Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen festzuhalten." Man warne davor, die Impfpriorisierung zum "Wahlkampfthema" zu machen.

Der KV müssen alle niedergelassenen Mediziner angehören, die gesetzlich Versicherte versorgen – sie vertritt in Berlin circa 9000 Praxen. Während die Praxen den Impfstoff über den Apothekenhandel beziehen, werden die sechs Corona-Impfzentren (CIZ) der Hauptstadt über Bundeslieferungen versorgt.

In Zentren bleibt die Reihenfolge vorerst bestehen, das teilten Ärzte aus den CIZ mit. Ab Montag werden dort wöchentlich zwischen 28.000 und 40.000 Dosen Moderna erwartet. Dazu sollen zwischen 70.000 und 76.000 Impfdosen von Biontech kommen – bis Anfang Juli. Das geht aus den internen Lieferplänen hervor. Astrazeneca ist dort nicht angegeben.

Auch in Brandenburg wird damit gerechnet, die Priorisierung aufzuheben – einen Termin nannte die Landesregierung aber nicht.

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Insgesamt impfen in Berlin 2165 Arztpraxen gegen das Coronavirus (Stand 11. Mai). Seit dem 17. April haben die niedergelassenen Mediziner knapp 277.000 Dosen von Biontech/Pfizer und gut 90.000 von Astrazeneca verimpft. Seit dem 3. Mai können sich Berlinerinnen und Berliner, die zur Prioritätsgruppe 3 gehören, entweder in den sechs Impfzentren der Stadt oder in einer ambulanten Arztpraxis immunisieren lassen. Das sind zum Beispiel Menschen über 60 Jahre, Jüngere mit chronischen Erkrankungen, Wahlhelfer und Angehörige bestimmter Berufsgruppen.

Ab Juni weitere Mengen an Biontech-Impfstoff erwartet

Bis Ende Mai sollen die Praxen weniger Erstimpfungen mit Biontech anbieten. Dazu hat die KV die Ärzte am 6. Mai aufgefordert. Durch die insgesamt begrenzte Liefermenge des Vakzins müssten Praxen damit rechnen, dass sie in den letzten beiden Maiwochen je nur ein Fläschchen Biontech bekämen, das reicht für sechs Erstimpfungen.

[Lesen Sie mehr: Keine Lust auf Astrazeneca? Neues Impf-Portal erhöht Chance auf Biontech (T+)]

Und auch für die Zweitimpfungen müssen die Ärzte in dieser Zeit sparsam sein. Sie sollten diese nur für die mit Biontech erstgeimpften Personen einplanen, bei denen der vorgegebene Impfabstand von sechs Wochen sonst überschritten würde, teilte die KV mit. Ab Juni werde aber deutlich mehr Vakzin des Herstellers zur Verfügung stehen.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hatte Bundesländer, in denen die Impfpriorisierung in Arztpraxen ab Montag aufgehoben werden soll, schon am Mittwoch kritisiert. "Ich kann den Vorstoß von Bayern und Baden-Württemberg nicht verstehen. Die Impfpriorisierung in Arztpraxen sollte beibehalten werden, so wie es NRW jetzt auch gesagt hat", sagt Lauterbach dem Tagesspiegel. "Sie ist ja schon für die Impfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson aufgehoben, das genügt. Mit der Priorisierung können wir die vulnerablen Gruppen am besten schützen."

Ärzte bekommen noch weniger Impfstoff geliefert

Doch jetzt bleibt die Lage erst einmal angespannt. Denn vielen impfenden Ärzten dürfte es kommende Woche sehr schwer fallen, den Betrieb der Praxen störungsfrei aufrechtzuerhalten. Zum einen sind die Impfstoffe für die kommende Woche längst geordert und zum anderen haben viele am Brückentag geschlossen und können die Praxisorganisation nicht so kurzfristig umstellen.

Diese Erfahrungen hat auch Maike Döbbelin gemacht. Die niedergelassene Hausärztin hat ihre Praxis im Spandauer Ortsteil Staaken. „Es wird am Montag wieder eine große Herausforderung für mein Team werden, mit den vielen Anfragen von Impfwilligen fertigzuwerden.“

Ihre Praxis ist am Freitag geschlossen, eine Umorganisation des Praxisbetriebs ist also gar nicht mehr möglich. Wie viel Impfstoff ihr zur Verfügung stehen wird, erfährt Maike Döbbelin erst am Freitag. „Bisher wurde immer weniger geliefert als bestellt.“

Das ist wohl auch in der kommenden Woche nicht anders. „Die Menge Biontech-Vakzin, die wir für die Erstimpfungen bestellt haben, wurde uns auf die Hälfte gestrichen“, sagt Michael Rausch, Arzt in der Praxis Schöneberg am Nollendorfplatz. „Selbst unsere Bestellungen von Astrezeneca wurde um 30 Prozent gekürzt, obwohl dieser doch ohne Begrenzung zur Verfügung stehen sollte.“

In der HIV-Schwerpunktpraxis versorgen Rausch und seine drei ärztlichen Kolleginnen und Kollegen viele chronisch kranke Patienten, die zur Priorisierungsgruppe 3 zählen. „Nicht einmal diese Patienten, die die Impfung dringend benötigen, konnten wir bisher wegen des knappen Impfstoffes komplett impfen.“ Da habe eine Freigabe für alle doch noch gar keinen Sinn. Deshalb werde die Praxis Schöneberg zunächst an der Priorisierung festhalten und weiterhin die chronisch Kranken bevorzugt impfen.

Auch Rausch befürchtet, dass am Montag das gesamte Praxisteam durch den Ansturm von Impfwilligen erneut an seine Grenze gelangen könnte. So, wie es schon bei der für die Praxen überraschenden Freigabe der Impfungen für die Priorisierungsgruppe 3 vor einigen Tagen der Fall war. Die Praxis hat am Freitag wie viele andere wegen des Brückentages geschlossen. „Die Dienstorganisation für die kommende Woche ist längst geplant, das können wir so kurzfristig gar nicht mehr ändern.“

Das Resümee von Hausärztin Maike Döbbelin: „Die Mitarbeiter der Senatsgesundheitsverwaltung können gerne mal eine Woche in meiner Praxis mitarbeiten, um mal zu sehen, was sie mit diesen ständigen Überraschungen bewirken. Ich bin in letzter Zeit nur wegen der Durchführung und Dokumentation der Corona- Impfungen öfter mal bis zehn oder elf Uhr nachts in der Praxis.“ Jetzt hoffe sie vor allem eins: bis zum Sommer durchzuhalten, wenn ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht und die Organisation der Impfungen hoffentlich planbarer werde.

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