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Tagesspiegel-Talk „High Noon“: Experten halten Berliner Probeunterricht für gescheitert
Mehr als 97 Prozent Durchfallerquote bei der neuen Aufnahmeprüfung zum Gymnasium. Wie geht es jetzt weiter? Darüber sprach der Tagesspiegel mit einem Vater, einem Rechtsanwalt und einem Experten aus Brandenburg.
Stand:
Der Probeunterricht ist ein gescheitertes Experiment – darüber waren sich alle vier Speaker einig beim ersten Berlin-Talk des digitalen Tagesspiegel-Expertenformats „High Noon“ am Donnerstag, moderiert von der stellvertretenden Chefredakteurin des Tagesspiegels Anke Myrrhe. Der Frust bei Eltern und Schülern ist immens: Die neue Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium für Sechstklässler, die in der Grundschule nicht einen Schnitt von mindestens 2,2 geschafft haben, wurde überstürzt eingeführt, vorher nicht mit Gleichaltrigen getestet und hatte eine extrem niedrige Bestehensquote: Nur 51 Kinder, also 2,6 Prozent der angetretenen 1937, nahmen die Hürde.
Christoph Podewils gehört zu den wenigen glücklichen Vätern, deren Kind die neue Aufnahmeprüfung geschafft hat – trotzdem hat er eine Petition gegen das Verfahren gestartet. „Es war ein Experiment, es war nicht erprobt, und es hat dazu geführt, dass hier das Kind wirklich mit dem Bade ausgeschüttet wurde“, sagte Podewils.
„Ich hätte erwartet, dass man beim ersten Mal etwas großzügiger ist und mit einer Bestehensquote von 40 oder 50 Prozent rechnet. Aber dass de facto eigentlich fast niemand besteht, damit hat doch, glaube ich, keiner gerechnet.“
Dass Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) den ersten Probeunterricht trotzdem als Erfolg verkaufen wolle, sei „wirklich eine Frechheit“, sagte Podewils. „Da kann sie doch gleich sagen: ‚Wir möchten nicht, dass irgendjemand zusätzlich aufs Gymnasium kommt.‘“

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Der Vater verteidigte Berlins Eltern auch vor der Unterstellung, unabhängig von den Leistungen ihrer Kinder versessen aufs Gymnasium zu sein: „Ich sehe schon auch den Leistungsdruck da, und die Nachteile. Ich habe nichts gegen eine gute Oberschule“ – wie etwa seine Tochter eine besuche. „Das Problem ist aber, dass es in vielen Bezirken diese Alternative gar nicht gibt“, sagte Podewils. In seinem Heimatbezirk Reinickendorf etwa gebe es nur zwei Integrierte Sekundarschulen (ISS), die bis zum Abitur führten.
Schulrechtsanwalt Olaf Werner bestätigte, dass er sich genau deshalb derzeit vor Beratungsgesprächen mit Eltern kaum retten könne. Früher sei Eltern durchaus klar gewesen, dass mit einem Notenschnitt von 2,5 das Gymnasium vielleicht nicht die ideale Erstwunschwahl für ihr Kind ist. „Aber als Zweitwunsch oder als Drittwunsch möchte ich dann schon auch noch ein Gymnasium wählen können“, sagte Werner – durchaus als „Flucht“ vor ISS ohne Oberstufe oder mit einer Stunde Fahrtweg.

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Doch welche Möglichkeiten gibt es für Eltern auf dem Rechtsweg jetzt überhaupt noch? Diese Woche hat das Berliner Verwaltungsgericht in einer ersten Einzelfallentscheidung den Eilantrag einer Schülerin abgelehnt, die sich trotz nicht bestandenen Probeunterrichts am Gymnasium anmelden wollte. Werner glaubt dennoch: Es könnte sich lohnen, vor die nächste Instanz zu ziehen, und einige Eltern wollten das auch.
Man kann juristisch darüber streiten, ob die alte Grundschulverordnung durch die neue gesetzliche Regel schon außer Kraft gesetzt war.
Olaf Werner
Er sieht Schwachstellen etwa in der übereilten Einführung der neuen Aufnahmeprüfung: So hätten die jetzigen Sechstklässler ihre Förderprognose am 31. Januar erhalten, als formal noch die alte Grundschulverordnung galt. „Und in der alten Grundschulverordnung stand eigentlich noch drin, dass die Lehrkräfte pädagogischen Ermessensspielraum haben, zwischen 2,3 und 2,7 eine Gymnasialprognose vergeben zu können. Da kann man juristisch jetzt drüber streiten, ob diese Grundschulverordnung durch die neue gesetzliche Regel schon außer Kraft gesetzt war“, sagte Werner.
Hans-Jürgen Kuhn hat als Referatsleiter den Probeunterricht erfolgreich in Brandenburg eingeführt. Vom ersten Durchlauf in Berlin hält jedoch auch er nichts. „Als wir das in Brandenburg eingeführt haben, haben sich im ersten Jahr tausend Eltern gemeldet, die das machen wollten und davon haben im ersten Jahr auch tatsächlich 46 Prozent noch die Eignung zugesprochen bekommen, an einer Schule mit Abitur zu lernen.“ Dabei blieb es allerdings nicht, inzwischen schwanke sich Bestehensquote in Brandenburg um zehn Prozent.

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Kuhn wies außerdem darauf hin, dass ab kommendem Schuljahr in Berlin für die Förderprognose nur noch drei Fächer berücksichtigt werden sollen: Deutsch, Mathematik und die erste Fremdsprache, also meistens Englisch. Es sei gegenüber Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, nicht fair, beim Probeunterricht nur die Deutsch- und Mathefähigkeiten zu prüfen, kritisierte Kuhn: „Ich arbeite ehrenamtlich viel mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen und in Englisch, wo alle zum gleichen Zeitpunkt diese Fremdsprache lernen, haben die zum Teil exzellente Leistungen.“
Bei einer Grundschülerschaft, die zu 40 Prozent einen Migrationshintergrund hat, finde ich es ein Problem, dass Fremdsprachenkenntnisse nicht vorkommen.
Hans-Jürgen Kuhn, ehemaliger Referatsleiter im Brandenburger Bildungsministerium
Im Probeunterricht könnten sie diese aber nicht zeigen, „weil in dieser Aufnahmeprüfung die Englischkompetenzen überhaupt keine Rolle spielen“, sagte Kuhn. „Bei einer Grundschülerschaft, die zu 40 Prozent einen Migrationshintergrund hat, finde ich es ein Problem, dass Fremdsprachenkenntnisse nicht vorkommen.“ In zukünftigen Ausführungen des Probeunterrichts, plädierte Kuhn, müssten diese Kinder die Möglichkeit bekommen, schlechtere Deutschkenntnisse durch gute Leistungen in der Fremdsprache auszugleichen.
Tagesspiegel-Bildungsexpertin Susanne Vieth-Entus betonte, wie wichtig es sei, dass Sekundarschulen von einer guten Schülermischung besucht werden. Das könne aber nur gelingen, wenn möglichst alle die Möglichkeit bekommen, zum Abitur zu führen – leistungsorientierte Familien wenden sich sonst ab.
„Das ist alles nicht einfach, das dauert auch“, sagte Vieth-Entus. 15 Jahre nach der Sekundarschulreform dürfe es aber eigentlich nicht sein, dass es immer noch „Restschulen“ gebe – im Grunde die früheren Hauptschulen, nur unter anderem Namen. „Ein Bezirk wie Friedrichshain-Kreuzberg hat seine Hausaufgaben gemacht“, sagte Vieth-Entus. Dank des Engagements des Schulstadtrats Andy Hehmke (SPD) hätten nur noch zwei der zehn Sekundarschulen im Bezirk keine gymnasiale Oberstufe, die zumindest im Verbund oder in Kooperation mit anderen Schulen angedockt ist.
In Reinickendorf hingegen, wo wie von Podewils geschildert nur zwei ISS zum Abitur führen, hätten etliche CDU-Schulstadträte „seit 40 Jahren versucht, Gesamtschulen zu verhindern und später ISS zu behindern“, sagte Vieth-Entus. In einem Fall seien die ISS-Plätze sogar noch dadurch weiter verknappt worden, dass „eine funktionierende Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in ein Gymnasium umgewandelt“ wurde: „Das ist der Gegenentwurf zum Beispiel Friedrichshain-Kreuzberg.“
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