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„Überwältigt“ vom eigenen Erfolg: Die Linke wird stärkste Kraft in Berlin
Vor drei Monaten noch tot geglaubt, gelingt der Partei die Wiederauferstehung. In Neukölln schreibt sie gar Geschichte – als erster Linke-Kandidat gewinnt Ferat Koçak einen rein westdeutschen Wahlkreis.
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Die Wahllokale in Berlin sind mehr als zwei Stunden geschlossen, als Franziska Brychcy und Maximilian Schirmer, die beiden Vorsitzenden der Linke in Berlin, das schier Unglaubliche aussprechen. „Es zeichnet sich ab, dass wir in Berlin stärkste Kraft werden. Das ist für uns ein historischer Sieg, den wir so nicht erwartet haben“, erklären die beiden im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Gut 60 Prozent der Stimmen sind zu dem Zeitpunkt ausgezählt.
Keine Stunde später ist klar: Die Linke gewinnt die Bundestagswahl in Berlin. Mit knappem Vorsprung auf die regierende CDU wird die drei Monate zuvor noch am Boden liegende Partei stärkste Kraft. Vier Wahlkreise gewinnt die Linke direkt. Neben den einstigen und offensichtlich auch aktuellen Hochburgen Treptow-Köpenick und Lichtenberg auch die beiden Wahlkreise Friedrichshain-Kreuzberg/Prenzlauer-Berg Ost und Neukölln. In Mitte, wo die Linke-Kandidatin Stella Merendino zwischenzeitlich vor ihrer grünen Kontrahentin Hanna Steinmüller lag, setzte sich Letztere am Ende knapp durch.
Dementsprechend groß ist die Euphorie auf der zentralen Wahlparty der Berliner Linke im Glashaus der Arena in Treptow. „Überwältigt“ fühle sie sich und könne die Ergebnisse nicht realisieren, sagt die Berliner Spitzenkandidatin Ines Schwerdtner im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher weiß: Schwerdtner gewinnt Lichtenberg mit deutlichem Abstand vor der prominenten AfD-Kontrahentin Beatrix von Storch. „Lichtenberg bleibt rot!“, war der zentrale Wahlkampfslogan Schwerdtners. Die Anzeichen dafür, dass das wirklich gelingen kann, glichen vor wenigen Monaten noch eher Tagträumerei.
Das Epizentrum linker Glückseligkeit liegt am Sonntagabend nur wenige Kilometer entfernt in Neukölln. Ferat Koçak, innerhalb des Landesverbandes unter anderem wegen seiner Position zum Krieg im Nahen Osten umstritten, hat das Unmögliche möglich gemacht und gewinnt mit deutlichem Abstand vor CDU und SPD das Direktmandat. Der einst von Neonazis durch einen Brandanschlag mit dem Tode bedrohte Antifaschist sitzt künftig wohl im Deutschen Bundestag.
Ein Stück aus dem Tollhaus – eine Sensation. Denn: Als erster Linke-Kandidat der Geschichte gewinnt Koçak einen rein westdeutschen Wahlkreis. Er habe am Anfang selbst nicht daran geglaubt, ruft dieser seinen jubelnden Unterstützern zu und erntet ekstatischen Beifall. „Wir haben hier heute verdammt nochmal Geschichte geschrieben. Das ist unser Tag. Wir haben gewonnen“, schreit Koçak. Wahlkämpfer umarmen sich, die Menge skandiert: „Alle zusammen, gegen den Faschismus.“
Tatsächlich steht der Weg, der Koçak den Einzug in den Bundestag geebnet hat, exemplarisch für den Wahlkampf der Berliner Linke und ihre neue Stärke. Hunderte, an einem Aktionswochenende sogar mehr als 1000 Menschen – viele von ihnen Neumitglieder – unterstützten den Wahlkampf Koçaks, klingelten an mehr als 139.000 Haustüren im Bezirk. „Diese direkten Gespräche, die Fokussierung auf die echten Themen, schaffen Vertrauen“, sagt der frisch gebackene Bundestagsabgeordnete. „Die Leute merken, dass die Linke an der Seite der hart arbeitenden Menschen steht.“
Ähnlich äußern sich an diesem für die Linke im Bund und noch mehr in Berlin historischen Wahlabend auch Schirmer und Brychcy. Es zeige sich, dass die Fokussierung auf lebensnahe Themen wie zu hohe Kosten für Miete und Energie belohnt werde. Beide kündigen an, den eingeschlagenen Weg der Kümmerer und Kiez-Vernetzer konsequent fortführen zu wollen. Die deutlich mehr als 4000 Neumitglieder, die die Linke allein in den vergangenen Monaten begrüßen durfte, werden daran ganz gewiss mitarbeiten wollen.
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