Untersuchungsausschuss zu rechtsextremer Anschlagsserie: Berliner Landgericht gibt vor Urteil Akten zum Neukölln-Komplex frei
Am Donnerstag soll das Urteil gegen die Neonazis Sebastian T. und Tilo P. fallen. Und der Berliner Untersuchungsausschuss bekommt die Ermittlungsakten. Eine Grundsatzfrage wird aber nicht entschieden.
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Kurz vor der Urteilsverkündung zu zwei mutmaßlich rechtsextremistischen Brandanschlägen am Donnerstag hat die Staatsschutzkammer des Berliner Landgerichts I die Ermittlungsakten für den Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zum Neukölln-Komplex freigegeben.
Damit bleibt eine grundsätzliche Frage zum Verhältnis von Justiz und Parlament wohl unbeantwortet: Der Verfassungsgerichtshof muss nicht mehr über die Klage des Ausschusses gegen das Landgericht I zur Herausgabe der Akten während eines laufenden Strafprozesses entscheiden. Parlament wie auch Strafjustiz kommen ohne Schaden heraus aus dem Fall.
Die Vorsitzende Richterin der Kammer, Susann Wettley, will am Donnerstag im Berufungsprozess das Urteil gegen die beiden angeklagten Neonazis, Sebastian T. und Tilo P., verkünden. Sie gelten als Hauptverdächtige in der rechten Anschlagsserie in Berlin-Neukölln, die im Fokus der Arbeit des Untersuchungsausschusses steht.
Freispruch für Brandanschlage wäre nicht überraschend
Im Fall der Brandschläge auf die Autos des Neuköllner Linke-Politikers Ferat Koçak und des Buchhändlers Heinz Ostermann waren die Angeklagten in erster Instanz vor dem Amtsgericht Tiergarten vor zwei Jahren noch aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte Berufung einlegt. Es würde nach dem Verlauf des zweiten Prozesses kaum überraschen, wenn es für den Vorwurf der Brandstiftung nun erneut Freisprüche gibt.

© Frank Jansen
Jetzt darf auch der Untersuchungsausschuss die Ermittlungsakten zu den beiden Brandanschlägen lesen. Durch das Ende der Beweisaufnahme überwiege das Interesse an einer effektiven Strafverfolgung nicht mehr dem Interesse des Untersuchungsausschusses an parlamentarischer Aufklärung, entschied das Landgericht.
Auch die Generalstaatsanwaltschaft, Koçak als Nebenkläger und sein Anwalt Lukas Theune sowie der Angeklagte P. und dessen Verteidiger Mirko Röder haben dieses Vorgehen mitgetragen. Der Angeklagte T. und dessen Verteidiger, Gregor Samimi und Carsten Schrank, lehnten die Freigabe bis zur Urteilsverkündung ab.

© imago/IPON
Die Akten bleiben trotz Freigabe für das Parlament erst einmal geheim. Bis das Urteil rechtskräftig ist, muss der Neukölln-Ausschuss die Unterlagen als sogenannte Verschlusssache behandeln. Tatsächlich könnte sich im Falle einer Revision vor dem Kammergericht die Rechtskraft des Urteils noch hinziehen. Generell dürften die Akten laut Gerichtsbeschuss nicht öffentlich verbreitet werden.
Damit endet vorerst der Streit zwischen Landgericht und Neukölln-Ausschuss um Grundsatzfragen des Rechtsstaats. Der Ausschussvorsitzende Vasili Franco (Grüne) hatte darauf gepocht, dass das Gremium ein verfassungsrechtlich verbrieftes Klärungsinteresse habe, das gleichwertig zu der Arbeit der Strafjustiz sei. Zudem ist der Ausschuss unter Zeitdruck, wegen der Wahl 2026 muss 2025 die Beweisaufnahme beendet sein.
Gericht lehnte Aktenfreigabe über Monate ab
Doch die Vorsitzende Richterin hatte die Herausgabe der Akten mit Rückendeckung von Generalstaatsanwaltschaft und Verteidigern abgelehnt. Dabei berief sich Wettley, erfahrene Karrierejuristin, einst Staatsanwältin im Bereich Organisierte Kriminalität und Clan-Kriminelle, auf grundlegende Rechtsstaatsprinzipien.

© Vincent Villwock / Grüne Fraktion Berlin
Denn eine funktionierende Strafjustiz und eine ungestörte und von außen unbeeinflusste Verhandlung habe Verfassungsrang, zumal die Unschuldsvermutung gilt. Die ist Ausfluss der im ersten Artikel des Grundgesetzes verankerten Menschenwürde, die eben auch für die Angeklagte gilt. Das Gericht befürchtete, dass kleinste Details aus den Akten durch den Ausschuss an die Öffentlichkeit geraten könnten – mit gravierenden Folgen für den Prozess und Zeugen.
Dem Untersuchungsausschuss bleibt eine Blamage erspart
Noch vor Prozessstart gegen T. und P. hatte der Ausschuss dann im Juli einen Eilantrag und eine Klage vor dem Verfassungsgerichtshof gegen das Landgericht eingereicht. Seither hatte der Tagesspiegel wiederholt beim Verfassungsgerichtshof angefragt. Stets hieß es, das Verfahren sei in Bearbeitung.

© dpa/Carsten Koall
Ende November erklärte eine Sprecherin, bis zum Jahresende werde entschieden. Das hat sich nun erübrigt. Die Frage, ob die Rechte des Parlaments über der funktionierenden Strafjustiz stehen, bleibt unbeantwortet. Möglicherweise, so heißt es in der Justiz, bleibt dem Untersuchungsausschuss damit auch eine mögliche Blamage vor dem Verfassungsgerichtshof erspart. „Demokratie und Rechtsstaat bedeuten Gewaltenteilung“, sagte Verteidiger Röder. „Das meint nicht, dass die eine Gewalt die andere übervorteilt, sondern gegenseitige Kontrolle, Checks and Balances.“
Allerdings wirft auch das Agieren des Ausschusses Fragen auf. So hat er seinen Untersuchungsauftrag laut Beschluss der Staatsschutzkammer dem Landgericht nicht mitgeteilt. Vielmehr haben die Richter sich das im Internet selbst zusammengesucht. Und vor dem Freigabebeschluss wurde auch der Ausschuss befragt, wie ihm die Akten denn sicher zugestellt werden sollen. Das Gericht bekam dem Beschluss zufolge keine Rückmeldung.
Kundgebung vor dem Landgericht
Die von der rechtsextremen Anschlagsserie Betroffenen sehen dem Urteil am Donnerstag kritisch entgegen. Die Sicherheitsbehörden hätten das Vertrauen der Betroffenen verspielt, heißt es einer Erklärung. Trotz umfangreicher Überwachungsmaßnahmen konnten die Behörden den Neonazis die Taten der rechtsextremen Anschlagsserie bislang nicht gerichtsfest nachweisen.
Für Donnerstag ist auch eine Kundgebung vor dem Landgericht angekündigt. Dort soll Koçak sprechen. Er kritisierte wiederholt, dass die Serie rechtsextremer Straftaten „seit Jahren ohne Konsequenzen“ und Ermittlungserfolge bleibe. Er bezeichnete es als Skandal, dass die Behörden sich bei den Ermittlungen auf einzelne Täter fokussierten und nicht auf rechte Netzwerke. Zudem brauche es Klarheit, ob und in welchem Umfang Sicherheitsbehörden selbst Teil des Problems sind.
Auf Koçaks Auto und den Wagen des Buchhändlers Ostermann war in der Nacht zum 1. Februar 2018 ein Brandanschlag verübt worden. Ziel der Aktionen war laut Anklage: Menschen, die sich gegen rechts engagieren, sollten eingeschüchtert werden. Die Ermittlungen hatten sich jahrelang hingezogen – mit Pannen, Fehlern, Versäumnissen. Die Taten gelten als Höhepunkt einer Reihe von mehr als 70 rechtsextremen Straftaten seit 2013, darunter 23 Brandanschläge vorwiegend auf Autos.
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