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In den meisten Fällen wurden schwule oder bisexuelle Männer zum Ziel von Angriffen.

© imago images/Westend61

Update

LGBTQ-feindliche Gewalt in Berlin: Von 731 Fällen wurde mehr als die Hälfte nicht ausgewertet

731 Drohungen, Beleidigungen und Angriffe hat die Opferberatungsstelle Maneo für 2021 registriert. Das Problem: Die Polizei leitet oft keine Details zu den Taten mehr weiter.

Es sind Fälle, die das Image Berlins als Hauptstadt von Toleranz und Freiheit ins Wanken bringen: Im Januar 2021 wird eine transgender Frau in Treptow in einem Bus attackiert. Eine Frau beleidigt sie mehrfach und spuckt ihr ins Gesicht. Im Juni wird ein schwuler Mann in Kreuzberg an einer Tankstelle mehrfach beleidigt und mit einer Kopf-Ab-Geste bedroht. Am Christopher Street Day wird ein junger Tourist mit Regenbogenfahne von hinten angegriffen und getreten, ihm wird mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Der Mann erleidet einen dreifachen Kieferbruch.

Drei Fälle, die belegen: Lesben, Schwule, bisexuelle, transgender und intergeschlechtliche (LSBTI) Menschen in Berlin leben gefährlich. Allein 731 Fälle und Hinweise auf Bedrohungen, Beleidigungen und Angriffe gegen schwule Männer, Transsexuelle und lesbische Frauen registrierte die Opferberatungsstelle „Maneo“ im Jahr 2021 – ein Plus von 221 Fällen im Vergleich zum Jahr 2020.

Meist ging es dabei um Drohungen und Nötigungen (36 Prozent), Körperverletzungen (30 Prozent) und Beleidigungen (28 Prozent), teilte die Initiative am Montag mit.

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Ein großer Teil der gemeldeten Fälle richtete sich gegen schwule oder bisexuelle Männer, aber auch lesbische Frauen seien häufig betroffen, hieß es weiter. Schwerpunkte sind Schöneberg, Kreuzberg, Neukölln und Tiergarten. Das sind die Stadtteile, in denen die schwul-lesbische Szene am stärksten vertreten ist und sich auch das meiste Nachtleben abspielt.

Klar ist: Die am Montag veröffentlichten Zahlen bilden nur den kleinsten Teil der tatsächlich begangenen Straftaten ab. „Das Dunkelfeld liegt unserer Einschätzung nach bei 80 bis 90 Prozent“, sagte Sebastian Finke, Projektleiter von Maneo, am Montag im Berliner Abgeordnetenhaus. Finke war dort, genau wie Christopher Schreiber vom Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg, zu einer Anhörung zum Thema Hassgewalt und Queerfeindlichkeit geladen.

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Was die beiden berichteten, führte zu Beklemmung – nicht nur bei den Abgeordneten. „Betroffene fühlen sich von Beamten oft nicht ernstgenommen“, erklärte Finke und bezog sich dabei auf die für viele Opfer weiterhin hohe Hürde, sich an die Polizei zu wenden.

Zwar sei Maneo seit rund 25 Jahren in die Schulungsarbeit an der Polizeiakademie eingebunden und auch die Anzeigebereitschaft steige. Dennoch fehle es den Behörden weiterhin an Sensibilität im Umgang mit Gewalt gegen sogenannte LSBTI-Personen, erklärte Finke. Gleichzeitig lobte er die im Ländervergleich vorbildliche Auseinandersetzung der Berliner Polizei mit dem Deliktbereich.

Knapp die Hälfte der in bundesweiten Statistiken erfassten Fälle komme aus Berlin, erklärte Finke. Auch Schreiber kritisierte, dass ein bundesweiter Vergleich der Deliktfälle allein deshalb nicht möglich sei, weil einzig Berlin regelmäßig Zahlen liefert.

Anne von Knoblauch, eine von zwei Ansprechpersonen der Berliner Polizei für LSBTI-Menschen, erklärte, in den vergangenen Jahren seien sowohl die Fallzahlen als auch die Anzeigenbereitschaft gewachsen. „Viele Betroffene haben Angst, ins Gespräch zu kommen mit Beamten auf den Abschnitten“, gestand von Knoblauch ein und erklärte weiter: „Wir haben erkannt, dass wir als Polizei Berlin Straftaten gegenüber LSBTI-Menschen erkennen müssen.“

Der Datenschutz verhindert die Auswertung der Taten

Kritik übten Finke, Schreiber und auch von Knoblauch an der im Vorjahr verhängten „Austauschsperre“, die die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Initiativen wie Maneo zuletzt massiv erschwerten. Weil der Datenschutzbeauftragte der Berliner Strafverfolgungsbehörden untersagte, dass die Polizei anonymisierte Informationen zu Straftaten an Opferhilfe-Einrichtungen und Beratungsstellen übermittelt, sei der mühsam aufgebaute Austausch zwischen Behörde und Zivilgesellschaft gekappt. „Die Auskunftssperre droht unserer aufgebauten und vertrauensvollen Zusammenarbeit zu schaden“, erklärte Finke.

Die Folgen sind schon jetzt spürbar: Weil die Polizei anders als bislang keine zusätzlichen Informationen zu den von Maneo registrierten Taten und Hinweisen liefern durfte, konnten nur 321 Fälle genauer ausgewertet werden, teilte Maneo mit. Bei 413 Hinweisen fehlten genauere Informationen zu Tatzeit, Tatorten und Ereignissen. Früher seien solche Hinweise mit den bei der Polizei eingegangenen Anzeigen abgeglichen worden, hieß es weiter.

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Die eingeübte Praxis hatte eine Weisung des Datenschutzbeauftragten 2021 beendet. So soll eine Re-Identifizierung von Opfern und Tatverdächtigen verhindert werden, heißt es zur Begründung. In der Folge dürfen in den übermittelten Informationen weder die Tat beschrieben, noch der Ort, etwa die Straße, oder die genaue Tatzeit benannt werden. Auch das Alter der Beteiligten darf nicht enthalten sein.

Für Initiativen wie Maneo wird es so deutlich schwieriger, die eigene Statistik mit jener der Polizei abzugleichen und Doppelzählungen zu vermeiden. Betroffen sind auch andere Opferberatungsstellen zu den Themen Antisemitismus und rassistische Taten. Sie alle fordern, den statistischen Austausch anonymisierter Eckinformationen mit der Polizei wieder aufzunehmen.

Die Unterstützung der Politik scheint den Initiativen dabei sicher. Tom Schreiber, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, bezeichnete das Vorgehen als „völlig absurd“ und versprach, die Verantwortlichen zeitnah in den Datenschutz-Ausschuss vorzuladen und anzuhören. Vasili Franco, Amtskollege Schreibers in der Grünen-Fraktion, erklärte: „Die Übermittlung von anonymisierten und pseudonymisierten Informationen muss zukünftig wieder ermöglicht werden.“ Für die Linksfraktion erklärte deren innenpolitischer Sprecher Niklas Schrader: „Wir sind uns einig, dass wir das heilen wollen.“

Frauen melden Gewaltdelikte seltener

Die Daten haben allerdings nicht nur wegen dem fehlenden Austausch mit der Polizei nur bedingt Aussagekraft. Denn laut dem Berliner Monitoring zu trans- und homophober Gewalt 2018 melden Frauen Gewaltdelikte viel seltener. Laut dem Bericht haben 97 von 188 befragte Frauen von Gewalt berichtet. Doch lediglich drei meldeten Vorfälle bei der Polizei.

Dass Berlin queer-feindlicher sei als der Rest Deutschlands, glaubt Finke von Maneo nicht. Dass die Zahlen weit über dem Bundesschnitt angesiedelt seien, liege am gut ausgeprägten Meldesystem. Auch dass immer mehr Menschen Gewalt gegen LSBTI meldeten, sieht er als Erfolgsstory. “Das stets steigende Meldeverhalten von LSBTI steht für eine steigende Wehrhaftigkeit”, sagt Finke.

Die Zahlen drückten nämlich nicht unbedingt aus, dass es tatsächlich zu mehr Fällen gekommen sei. Sondern dass queere Personen den Mut aufbringen, diese Gewalt nicht mehr hinzunehmen.

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