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Als unser Autor versucht, mit der allgemeinen Verunsicherung während der Pandemie klarzukommen, landet er in einem Fahrradgeschäft.

© Anna Schwietering

Vorsorge in Coronaviruszeiten: Wie mir ein Fahrrad ein Stück Freiheit bewahrt

Als die Coronakrise eskaliert, denkt unser Autor irgendwann nur noch eins: Ich brauche ein Fahrrad, bevor die Geschäfte schließen. Die Geschichte einer Erleichterung.

Die Reifen patschen auf den Asphalt. Sie sind perfekt aufgepumpt. Die Kraft überträgt sich ideal auf die Straße. Mit jedem Tritt komme ich weit voran. Ein Glücksgefühl macht sich in mir breit. Ein Gefühl, das ich eigentlich auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Mein Fahrrad wurde mir zwischen den Jahren geklaut. Als ich am Neujahrstag nach Berlin zurückkam und meinen Neuköllner Hinterhof betrat, sah ich schon aus den Augenwinkeln, dass etwas nicht stimmte. Mein orange leuchtendes Fahrrad war weg. Ein Schock.

Ich habe mit diesem Rad die Alpen überquert, war in der Böhmischen Schweiz, im Riesengebirge und in den Sudeten. Die nächsten Wochen trauerte ich, einfach ersetzen wollte ich es nicht. Ein neues teures Rad würde ich hier nicht mehr abstellen. Ich würde erst dieses Haus verlassen, mit meiner Freundin zusammenziehen und dann würde ich zum Fahrradhändler gehen. Pläne aus einer anderen Zeit.

Für mich hat sich am Mittwoch, den 11. März, alles verändert.

Ich bin nach einem Spanienurlaub zum ersten Mal wieder im Büro und sitze in der Frühschicht, als um 6.24 Uhr eine E-Mail des Verlags eintrifft. Es gibt den ersten Coronavirus-Fall in der Redaktion. In den nächsten Stunden erhalten im Haus möglichst viele Mitarbeiter einen VPN-Zugang, damit sie von zu Hause arbeiten können.

Am Abend vorher habe ich zum ersten Mal den NDR-Podcast des Virologen Christian Drosten gehört. Er warnt darin, dass dieses Virus für viele Menschen über 65 lebensgefährlich ist, und empfiehlt uns allen, Abstand voneinander zu halten. Ich bekomme ein schlechtes Gefühl.

Meine Welt hat sich radikal verändert

In den nächsten drei Tagen sitze ich in meinem WG-Zimmer und stelle Artikel auf die Tagesspiegel-Seite. Meine Welt hat sich plötzlich radikal verengt, auf 16 Quadratmeter und ein Thema: Corona.

Am zweiten Tag gehe ich zum ersten Mal wieder länger auf die Straße. Draußen spielt sich das Leben vor meinen Augen ganz normal ab. Auf den Kontrast komme ich nicht klar. Die scheinbare Normalität macht mir Angst. Ich habe das Gefühl, dass ich einen Ausweg brauche – raus aus diesen 16 Quadratmetern. Ich will ein neues Fahrrad – jetzt!

[Das Coronavirus in Berlin: Alle aktuellen Entwicklungen lesen Sie in unserem Newsblog.]

Seit Neujahr hat mir der Freund meiner Schwester ein altes Rennrad geborgt. Aber dieses Rad ist mir nicht gewachsen. Ich bin schwer – ich wiege fast 120 Kilo – und ich bin kräftig. Nach kurzer Zeit hat das linke Pedal angefangen, durchzudrehen, und eine Acht im Hinterrad wird immer schlimmer. Ich denke, jetzt in der Krise brauche ich ein Rad, das mich aushält. Ein Rad, das mir Halt gibt.

Nie fühle ich mich so frei wie beim Radfahren und bei nichts anderem kann ich so gut allein sein. Aber in dieser Situation denke ich längst weiter. Ich will mit diesem Rad weit rausfahren – zum Müggelsee oder bis nach Brandenburg.

Dann wäre das neue Fahrrad plötzlich eine Bürde

Am nächsten Tag verkündet der Senat, dass Bars und Kneipen sofort schließen müssen. Mitten an einem Samstag um halb vier. Am Abend geht die Polizei durch Neukölln, Kreuzberg und Friedrichshain und schließt jede noch offene Kneipe einzeln. Ich bin mir jetzt sicher, dass eine Ausgangssperre wie in Italien kommt.

Wenn ich recht behalte, wäre das neue Fahrrad plötzlich eine Bürde.

[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]

Im Hof will ich es nicht tagelang stehen lassen, wenn ich es nicht zwischendurch bewegen kann. Zu gefährlich. Und hoch in die Wohnung kann ich es eigentlich nicht nehmen – zu eng. In meiner WG wohnen wir derzeit auf 60 Quadratmetern zu dritt. Ich verabschiede mich von der Idee, jetzt ein Fahrrad zu kaufen. Resigniert ärgere ich mich über diese Stadt, der so vieles egal ist – auch Fahrrad-Diebesbanden.

Ein neues, schickes, mattschwarzes Rad

Am Sonntag gehe ich mit meiner Freundin durch Friedrichshain. Vor einem Fahrradladen steht ein kleiner Pulk Radler, die darauf warten, mit der angeketteten Pumpe ihre Reifen aufzupumpen. Im Schaufenster des Ladens hängt ein funkelndes Rennrad. Ich will das jetzt. Am Abend sagt mir der Freund meiner Schwester, dass ich das Fahrrad bei einer Ausgangssperre zur Not in seiner Wohnung abstellen kann. Ich beschließe, am nächsten Tag zu meinem Lieblingsfahrradladen in Neukölln zu gehen.

Ich bin erst wenige Meter mit einem schicken, mattschwarzen Rad unterwegs, das Verkaufsschild flattert im Wind und ich gewöhne mich gerade wieder an den Speed, als ich links auf dem Gehweg einen Kollegen sehe, der für ein überregionales Medium aus Peking berichtet. Ein irrer Zufall.

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Er sei nicht gut drauf, sagt er. Er war ihn Wuhan und hat die Stadt mit einem der letzten Flieger verlassen. Anschließend war er zwei Wochen in Quarantäne und über Wochen in sozialer Isolation. Nach Berlin ist er gekommen, um dem für ein paar Wochen zu entfliehen. Und nun das.

„Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen“

„Wenn sich die Leute weiterhin so verhalten, werden auch hier nach und nach immer mehr Dinge verboten werden“, sagt er und deutet auf einen Spielplatz, auf dem viele Kinder durcheinanderlaufen und miteinander spielen. „Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen.“ Nach China, wo es inzwischen kaum noch Neuerkrankungen gibt, kann er derzeit nur zurück, wenn er sich danach zwei Wochen unter Quarantäne stellt. Wir verabschieden uns Ellenbogen an Ellenbogen.

Zurück in dem kleinen Fahrradladen frage ich den Verkäufer, ob sie in diesen Tagen besonders viel zu tun haben. „Seit Donnerstag ist sehr viel los“, sagt er. „Kann aber auch am Frühlingswetter liegen.“ Allerdings seien in den letzten Tagen schon sehr viele Leute gekommen, bei denen er das Gefühl gehabt habe: „Die haben noch nie ein Fahrrad gefahren.“ Da seien die letzten Räder aus dem Keller geholt worden. In einer Stadt wie Berlin, wo nach einer aktuellen Studie etwa 43 Prozent der Haushalte kein eigenes Auto haben, verspricht das Fahrrad Unabhängigkeit und Mobilität – egal was kommt. Und auch Virologen empfehlen Großstadtbewohnern seit einigen Tagen, Rad zu fahren, um Busse und Bahnen zu meiden.

„Zu so einem frühen Zeitpunkt im Jahr haben wir noch nie so viele Räder verkauft“

Dem Verkäufer fällt dann noch etwas ein. Sie hätten am Freitag drei und am Samstag zwei Fahrräder verkauft. „Zu so einem frühen Zeitpunkt im Jahr haben wir noch nie so viele Räder verkauft – auch nicht bei schönem Wetter.“ Ich bitte ihn, mir das Rad, das ich gerade Probe gefahren bin, ein paar Stunden zurückzulegen. Eigentlich hat sich das Rad gut angefühlt, aber ich will es wenigstens noch mit ein oder zwei anderen Rädern vergleichen, bevor ich so viel Geld ausgebe.

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Vor dem Fahrradladen am Südstern warten wieder einige Leute darauf, ihre Räder aufzupumpen. An der Kasse stehen Menschen, um sich beraten zu lassen. Und auch vor der Reparatur-Annahme eine Schlange. Ich bin in kurzer Zeit vielen Menschen begegnet, aber ein passendes Rad finde ich hier nicht. Ich fahre weiter. Auf der Wiese vor der Marheineke-Halle feiert ein Pulk Abiturienten ihre Mottowoche – mit Flunkyball.

Ich muss mich jetzt beeilen

Vor dem gut besuchten Spielplatz sitzen zwei ältere Menschen mit einem Glas Weißwein auf einer Parkbank in der Frühlingssonne. Während ich die Szene betrachte, erscheint auf meinem Handy eine Eilnachricht: „Bund und Länder einigen sich darauf, alle Geschäfte zu schließen außer Supermärkten und Apotheken.“

Ich habe das Gefühl, dass ich mich jetzt beeilen muss.

Im nächsten Laden finde ich ein passendes Rad. Ein sogenanntes Fitnessbike. Es hat einen Rennradrahmen, aber einen flachen Lenker. Man sitzt darauf aufrechter. Gut geeignet für den Alltag, aber doch sportlich. Der Verkäufer ist nicht überrascht, dass ich nun, kurz bevor die Läden schließen und bei einer drohenden Ausgangssperre, noch ein neues Fahrrad kaufen will. „Der letzte Samstag war für uns vielleicht der umsatzstärkste Tag aller Zeiten“, sagt er. „Die Menschen spüren, dass sie eingeschränkt werden, und versuchen zu reagieren.“

„Deine Überweisung hält uns auf jeden Fall zwei Tage länger über Wasser“

Ich entscheide mich, das erste Fahrrad zu nehmen. Jenes, das mir ein so gutes Gefühl gegeben hat. Zurück in dem kleinen Laden in Neukölln erzähle ich dem Verkäufer, dass nun fast alle Läden schließen sollen. Ich frage ihn, wie es nun für ihn weitergeht. Das wisse er nicht, sagt er. „Aber deine Überweisung hält uns auf jeden Fall zwei Tage länger über Wasser.“ Wir besprechen, welche Extrateile ich an dem Rad noch haben möchte. Schutzbleche, einen Gepäckträger, Licht. Er verspricht mir, dass ich das fertige Rad am nächsten Tag auf jeden Fall noch abholen kann, notfalls bei runtergelassenem Rollo.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, lese ich, dass der Verkehrsclub Deutschland fordert, Fahrradläden auf jeden Fall offen zu lassen, damit die Menschen möglichst lange mobil bleiben können. Am Nachmittag entscheidet der Berliner Senat dann genau das: Fahrradläden bleiben offen. Sie gehören wie Kfz-Werkstätten zur Daseinsversorgung.

Glücklich bin ich nicht – eher erleichtert

Kurz vor Ladenschluss hole ich am Dienstag, den 17. März, mein Fahrrad ab. Glücklich bin ich nicht – eher erleichtert. Zu Hause lese ich, dass Nordrhein-Westfalen sich darauf vorbereitet, eine Ausgangssperre umzusetzen. Kurz darauf beschließt Bayern „grundlegende Ausgangsbeschränkungen“. Und an diesem Sonntag wollen Bund und Länder über eine Ausgangssperre für ganz Deutschland beraten.

Es ist mir egal. Mein neues Stück Freiheit steht jetzt im Hof.

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