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Gegen die „gepachtete Weltanschauung“: Zum 50. Todestag des Tagesspiegel-Gründers Walther Karsch
Er wurde vor allem als profilierter Theaterkritiker gewürdigt. Doch Walther Karsch, der vor 80 Jahren den Tagesspiegel mitgründete, war mehr als das.
Stand:
Als der Tagesspiegel 1945 gegründet wurde, stand Walther Karsch, Jahrgang 1906 und früherer Redakteur der „Weltbühne“, für zweierlei in der Führung der neuen Zeitung. Die amerikanische Militärregierung, die den Tagesspiegel lizensiert hatte, legte Wert darauf, dass nicht nur verschiedene politische Richtungen, sondern auch Generationen vertreten waren. An weitere Aspekte der Vielfalt dachten damals – und in vielen Jahrzehnten danach – die führenden Männer nicht.
Walther Karsch, in Neukölln aufgewachsen, Sozialist, undogmatisch, stand politisch weiter links als die Zeitungs-Mitgründer Erik Reger und vor allem Edwin Redslob, beide zudem noch im 19. Jahrhundert geboren. Die Mischung gefiel den Lizenzgebern um Peter de Mendelssohn, die auch ihre Anforderung, dass sich die Macher der neuen Zeitung in der Nazi-Zeit nicht kompromittiert hatten, als hinreichend erfüllt ansahen.
„Der Junge sitzt für meine Schnauze mit“, schrieb Kurt Tucholsky über Walther Karsch, der bei der „Weltbühne“ früh in der Verantwortung war, nach Carl von Ossietzkys Haftantritt 1932 sogar allein und im Sinne des Presserechts. Als die Nazis Ossietzky nach dem Reichstagsbrand ins KZ verschleppten, war Karsch als Chefredakteur vorgesehen, doch kurz darauf wurde die Zeitschrift verboten.
Ossietzky war für Karsch Vorbild als „Prototyp des unabhängigen Publizisten“. Zum zehnten Todestag 1948 und zur Benennung der Ossietzkystraße in Berlin-Pankow schrieb Karsch: „In einer Zeit, da neue Schlagworte die alten ablösen, da die Unabhängigkeit des Individuums schon wieder bedroht ist, sollte die Erinnerung an den vor zehn Jahren verstorbenen Publizisten Ossietzky unter dem Zeichen der Besinnung auf die Verantwortung der Schreibenden vor dem Wort und auf ihre Unabhängigkeit gegenüber allen Mächten stehen, die diese Unabhängigkeit vernichten wollen.“
„Nachkriegswiedergänger“ Alfred Kerrs
Gewürdigt wurde Karschs drei Jahrzehnte umspannende Arbeit für den Tagesspiegel insbesondere für eine Rolle, den „Theaterkritiker des Blattes“, der er „vor allem“ war, wie Hermann Rudolph zum 100. Geburtstag 2006 schrieb. Den „Nachkriegswiedergänger des großen Berliner Theaterkritikers Alfred Kerr“ nannte ihn der Historiker Andreas Petersen. Und auch in den Nachrufen 1975 war hauptsächlich vom Kritiker Karsch die Rede.
Doch schon in der ersten Tagesspiegel-Ausgabe vom 27. September 1945 profilierte sich Karsch in zwei Richtungen: als Theaterkritiker, der die „Dreigroschenoper“ und „Nathan der Weise“ bespricht und dafür dankbar ist, dass es den „Willen zu einem lebendigen, an die Zeit und die ewigen Fragen gebundenen Theater“ wieder gibt, und als Analytiker von Propaganda. Unter der Titelzeile „Auch ein Jahrestag“ legt er dar, wie der japanische Beitritt zur „Achse Berlin-Rom“ als „Dreimächtepakt“ selbst im Herbst 1940, ein Jahr nachdem Deutschland den Krieg begonnen hatte, von den Nazis noch als „Defensivbündnis“ verkauft wurde, „mit dem angeblichen Ziel, eine weitere Ausweitung des Krieges zu verhindern“.
Bald darauf erscheint von ihm der programmatische Artikel „Vom Sinn der Kritik“, in dem er sich gegen die „gepachtete Weltanschauung“ des engstirnig-ideologischen Kunstdeuters wendet, „denn seinen Wissensbereich umgrenzt das Parteibuch oder die Mitgliedskarte des Verbandes strenggläubiger Freidenker“. Damit setzt sich Karsch aber nicht für unpolitisches Theater ein: „Denn Kunst ist kein Ding außerhalb unseres Lebens. Sie ist ein Teil unseres Lebens. Aus ihr kommen nicht nur unsere Tröstungen, aus ihr kommt der Anruf und Aufruf zur Tat.“
Zum Urteil der Nürnberger Prozesse, die vor 80 Jahren begannen, schrieb Karsch, dass die dort Freigesprochenen nun vor ein deutsches Gericht gehörten – und nicht nur die: „Auf seiner Anklagebank haben all jene zu erscheinen, die durch Taten Handlungen im Sinne und Interesse des ,Dritten Reiches’ begangen haben, die nach den bis zum Jahr 1933 geltenden deutschen Gesetzen und nach den Gesetzen der Menschlichkeit strafwürdig sind.“
Damit unterschied er sich von der weithin und auch in deutschen Medien verbreiteten Schlussstrich-Haltung. Wichtig war ihm dabei, „auch Propagandareden und -artikel sind Taten, weil sie zu Taten verleiten“. Es kam bekanntlich anders, die „Entnazifizierung“ wurde nicht konsequent weiterbetrieben, sondern verdrängt vom Antikommunismus im Kalten Krieg.
Karsch selbst hatte in der Nazi-Zeit nichts veröffentlicht. Wenn der Begriff „innere Emigration“ einen Sinn ergibt, dann wohl in seinem Fall. Zu unterscheiden ist er damit auch von den Tagesspiegel-Mitgründern Redslob und Reger, die in der Nazi-Zeit weiterpublizierten, wenn auch von Reger keine Zugeständnisse an Propaganda bekannt sind und Redslob – von seiner Nachkriegskarriere aus besehen – das „Glück“ hatte, von den Nazis als „Reichskunstwart“, einer Art Kulturstaatsminister Weimars, frühpensioniert worden zu sein. Redslob „hätte den neuen Machthabern weiterhin zur Verfügung gestanden, sofern sie ihn brauchten“, wie sein Biograph Christian Welzbacher es formuliert.
„Kein Wort hat er veröffentlicht, solange ein freies Wort unmöglich war“
Gabriele Tergit, die als Exilantin, in London geblieben, zwar ab und an für den Tagesspiegel schrieb, aber nie wirklich akzeptiert wurde, erinnert in ihrer Autobiographie an eine Begegnung mit Walther Karsch nach Kriegsende. Sie nennt ihn einen „hochanständigen Mann“ und schreibt: „Seine Ehe war 1933 scheidungsreif, aber seine Frau war eine Jüdin, und um sie zu schützen, wartete er mit der Scheidung bis 1945, schrieb keine Zeile mehr und wurde Stadtvertreter für irgendwelche Textilien.“ Karschs Frau war die Journalistin Pauline Nardi, die nach dem Krieg und der dann vollzogenen Trennung auch einige Male für den Tagesspiegel schrieb.
Bei aller Anerkennung wunderte sich Tergit darüber, dass Karsch es nicht „ein bisschen komisch“ fand, daß der Tagesspiegel Beilagen-Namen des „Berliner Tageblatts“ wie den „Weltspiegel“ fortführte und damit übernahm, „was schließlich die ermordeten und misshandelten Juden erfunden haben“. Ihr Fazit: „Auch er verstand mich nicht.“
Karsch arrangierte sich dann auch mit dem Reger-Nachfolger als Chefredakteur, Karl Silex. Dessen Kriegspropaganda der Nazi-Zeit („Versailles aus Osteuropa beseitigt“, „großartige Konzeption, die zum Berliner Dreimächte-Pakt führte“ ...) hatte der Tagesspiegel 1946 noch selbst dokumentiert. Die für solche peinlichen Rückblicke installierte Rubrik „Vor Jahren“ passte zu Karschs und Regers sprachkritischer, „phraseologischer“ Herangehensweise.
„Kein Wort hat er veröffentlicht, solange ein freies Wort unmöglich war“, schrieb der Tagesspiegel im Nachruf auf Walther Karsch, einen Tag, nachdem er am 16. Oktober 1975, schon seit einiger Zeit schwer erkrankt, gestorben war.
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