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„Auch ein Jahrestag“: Eine Analyse der Nazi-Bündnispolitik in der ersten Tagesspiegel-Ausgabe
„Gewissenlosigkeit und Verlogenheit“: Am 27. September 1945 erinnert Zeitungsgründer Walther Karsch an den Pakt zwischen Berlin, Rom und Tokio, der fünf Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg geschlossen wurde.
Stand:
27. September 1940, fünf Jahre ist es her: aus der „Achse Berlin—Rom“ wird das Dreieck „Berlin-Rom-Tokio“. In Ribbentrops Diplomatensprache „von globalem Ausmaß“ wird der Abschluß eines Dreimächtepaktes zwischen Deutschland, Italien und Japan verkündet, mit dem angeblichen Ziel, eine weitere Ausweitung des Krieges zu verhindern. Ein Defensivbündnis also? Aber es liegt ja schon die Drohung an die Vereinigten Staaten von Amerika darin: wehe euch, wenn ihr euch nicht so verhaltet, wie wir es wünschen. Die Federn, die den Pakt unterzeichneten, unterzeichneten schon zugleich den Befehl an die Bomber, die aus heiterem Himmel Pearl Harbour treffen sollten.
Vier Jahre darauf, am 27. September 1944: amerikanische und englische Truppen stehen an der deutschen Westgrenze. Nijmwegen, Arnheim, Aachen, Metz, Nancy — seit Tagen die Brennpunkte jener neuen Front, die das deutsche Heer nach der Niederlage am Atlantikwall und der Aufgabe ganz Frankreichs zu stabilisieren versucht. Der willkommene Anlaß, das düstere Bild etwas aufzuhellen, ist der vierte Jahrestag des Dreimächtepaktes. Ribbentrop, sein japanischer Kollege Shigemitsu und der nach seiner „Befreiung“ zur Strohpuppe gewordene Mussolini feiern ihn durch Radioansprachen. Es fällt ihnen zwar sichtlich schwer, optimistisch zu sein, man kann die ernsten Rückschläge, die drohenden Gefahren aus Ost und West, den Abfall Finnlands, Rumäniens und Bulgariens schlecht übergehen — doch dann läuft die alte Walze ab vom Willen zum Endsieg, vom Durchhalten und der Initiative, die man wieder an sich reißen werde. Nur — man glaubt nicht mehr daran.
Vier Jahre vorher hatte man allerdings den Sieg schon in den Händen geglaubt. Der Irrtum war für Verblendete noch nicht sichtbar. Der Westfeldzug war entschieden das Frankreich Petain-Lavals hatte durch den Waffenstillstand Hitler den Rücken für die Invasion Englands freigemacht; seit Wochen tobte die Schlacht um England; nach den Berichten des Oberkommandos der Wehrmacht zu urteilen, war die Landung auf der Insel nur noch eine Frage von Tagen; Italien hatte seinen Kriegseintritt zu einem Ueberraschungsvorstoß bis vor Kairo ausgenutzt, in der Ferne tauchte die vage Möglichkeit eines Durchbruches nach Indien auf, und Amerika würde viel zu spät kommen.
Das war die Atmosphäre, in der das Abkommen der drei Mächte zustandekam. Gewiß: auch die Gegenseite unterschätzte nicht die ungeheuere Größe der ihr drohenden Gefahren. Doch war in jenen Septembertagen die Schlacht um England nicht schon verloren? Bewiesen nicht die schweren Verluste der deutschen Luftwaffe, daß der Invasionsplan zum Scheitern verurteilt war? Versteifte sich nicht der englische Widerstand in Afrika? Steigerten sich nicht von Woche zu Woche die Materiallieferungen Amerikas? Alles Faktoren, die eine verantwortungsvolle Außenpolitik nicht übersehen durfte.
Keine der angeblichen Voraussetzungen hatte der Wirklichkeit entsprochen. Der deutsche Invasionsplan war aufgegeben, die deutschen Heere standen blockiert vor Leningrad und Moskau, die Schlacht in Afrika tobte hin und her, als sich der Abschluß des Paktes das erste Mal jährte. Um Japan rascher in den Krieg zu hetzen, und natürlich auch um die Neutralen, besonders die Türkei, abzuschrecken, ließ Hitler durch den Mund des „Pressechefs“ Dietrich verkünden, daß Rußland entscheidend geschlagen sei. Er selbst verstieg sich zu der berühmten Formel, daß dieser Gegner „bereits gebrochen“ sei und „sich nie wieder erheben“ werde. Wieder einmal trug primitive Prahlerei den Sieg davon: Japan glaubte, nunmehr den Sprung nach Pearl Harbour wagen zu können, und Hitler sprang endgültig in den Abgrund, indem er drei Tage später Amerika den Krieg erklärte. In Berlin wie in Tokio glaubte man, Amerika könne nicht auf beiden Kriegsschauplätzen zugleich genügend Menschen und Material einsetzen; und im stillen mag man in der Wilhelmstraße darauf spekuliert haben, Amerika werde sich in erster Linie im Fernen Osten engagieren, während die Männer um den Tenno sich einredeten, zuerst werde Amerika sich auf Hitler stürzen und unterdessen könne Japan billige Beute machen. Die Entwicklung des Krieges ließ die Hasardeure beide zu betrogenen Betrügern werden. Das militärische Zusammenspiel zwischen Stalin, Roosevelt und Churchill war so fein ausbalanciert, daß zur entscheidenden Stunde, am entscheidenden Orte immer das entscheidende Uebergewicht an Menschen und Material vorhanden war.
In den kommenden Jahren mußte der Dreimächtepakt dazu herhalten, das gefährlich absinkende Stimmungsbarometer künstlich nach oben zu treiben. 1942 — trotz Sewastopol, trotz Kaukasus: den an Blitzsiege gewöhnten Deutschen dauerte der Krieg mit diesem angeblich bereits ein Jahr vorher gebrochenen Gegner zu lange, und Rommel schien mit den Engländern in Afrika auch nicht fertig zu werden, trotz Tobruk. 1943 — Stalingrad, El Alamein, Tunis, Sizilien, der Sprung auf die Apenninhalbinsel, Mussolinis Sturz, und im Fernen Osten Stillstand der japanischen Offensive. Der von Goebbels als „Fluchtgeneral“ verlachte MacArthur hatte sein strategisch durchdachtes Hüpfen von Insel zu Insel begonnen. Immerhin: zu dieser Zelt konnte man In der Propaganda noch vom „ewig wechselnden Kriegsglück“ sprechen, noch standen die Deutschen tief in den überfallenen Ländern, noch waren Amerikaner und Engländer weit vom japanischen Mutterland entfernt, noch schien ein guter Ausgang oder wenigstens ein annehmbares Kompromiß im Bereich der Möglichkeiten zu liegen. Und deshalb warf die Propaganda an jedem seiner Geburtstage den Pakt in die Waagschale der Stimmungsbildung. „Das Volk hat wieder eine Spritze gekriegt“. Doch noch im September 1944 in das gleiche Hörn zu stoßen, ihren Völkern am Rande des Abgrunds das gleiche Gaukelspiel wie in jedem Jahre vorzuspielen, dazu gehörte eine ins Pathologische gesteigerte Gewissenlosigkeit und Verlogenheit, zwei Eigenschaften, die von jeher Merkmale der Außenpolitik Hitlers und seiner Helfer waren.

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