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Sieben Jahre nach der Pogromnacht: Wie der Tagesspiegel 1945 an den 9. November 1938 erinnerte
„Und der Mob stand dabei, johlte, schrie und klatschte Beifall...“ Tagesspiegel-Autorin Irma Edom rief vor 80 Jahren zum Gedenken an die Zerstörung von Synagogen und Läden auf.
Stand:
Erinnern Sie sich an die Nacht vom 9. zum 10. November vor sieben Jahren? „Die Kristallwoche“ wurden sie im Volksmund genannt, diese und die darauffolgenden Tage, mit denen die Nazis die physische Vernichtung der jüdischen Menschen in Deutschland einleiteten. Was war der Anlaß? In Paris fiel ein Schuß gegen das Mitglied der Deutschen Botschaft, Freiherrn vom Rath. Grynszpan, ein Pole jüdischer Herkunft, wehrte sich mit dieser Kugel, gegen das teuflische System, das ihm und vielen seiner Angehörigen die Existenz geraubt hätte. Am 9. November 1938 wurde bekanntgegeben, daß Freiherr vom Rath in Paris seinen Verletzungen erlegen sei. Damit war der lang ersehnte Vorwand gegeben, uni mit der geplanten Ausrottung der deutschen Juden zu beginnen.
Am 10. November, morgens, auf dem Weg zur Arbeitsstelle: Was ist mit dem kleinen Schuster in der Pariser Straße geschehen? Das Schaufenster demoliert, notdürftig mit Brettern vernagelt. Und da, die Apotheke, der Gemüseladen! Ein großer Judenstern mit Kreide, „Judensau“ und „Deutschland erwache“ an Wände und Ladentüren geschmiert. Ja, erwache zu diesem Morgen der Schande, stehe dabei, johle, klatsche Beifall!
Am Kurfürstendamm: Gegen 11 Uhr Geschrei, Gejohle, Glasklirren, schwere Steinwürfe; Hämmern, alles noch aus der Ferne hörbar, aber näher kommend. Eine Meute zieht heran, junge Burschen um 20, in blauen Hosen und weißen Hemden, dazwischen Halbwüchsige und Kinder von 10 Jahren aufwärts, alle mit schweren Hämmern, großen Steinen, dicken Knüppeln bewaffnet.
Dobrin ist kurz und klein geschlagen, Torten und Kuchen liegen auf der Straße. Der Kurfürstendamm ist übersät mit Kleidungsstücken: Hüte, Wäsche, Gardinen, Krawatten, Lampen, Teppiche, alles wirbelt durch die Luft, aus allen Stockwerken, in denen noch Juden wohnen, hinunter auf die Straße, aus allen Geschäften, die noch von Juden betrieben werden. Die Polizei steht dabei, zuckt die Achseln und geht davon.
Leipziger Straße: Aus den großen Konfektionshäusern werden Dekorationspuppen, teure Abendkleider, ganze Warenlager auf die Straße geworfen, in die Menge hinein, die begeistert tobt, sich um die Sachen balgt und immer mehr in die organisierte „Volkswut“ hineingerissen wird. Und neben toten Dingen werden Menschen aus den Fenstern geworfen, getreten, geprügelt. — Gräßlich schallt unaufhörlich das monotone Klirren der Scheiben — kein anderer Laut — nur Schläge auf Glas. Hier, in der Dämmerung, in den stillen Seitenstraßen, verrichtet der Pöbel mit tierischem Ernst seine Arbeit. Pöbel — nur Pöbel?
Dann, ein großer Feuerschein am Himmel, Feuerwehr rast durch die Nacht, die Synagoge brennt. Die Feuerwehr hat nur aufzupassen, daß die umliegenden Wohnhäuser nicht erfaßt werden. In dieser Nacht brennen alle Synagogen Berlins. Am Morgen sind die Gotteshäuser rauchende, verkohlte Ruinen; große Hakenkreuze und Judensterne sind auf das Straßenpflaster geschmiert. Den nächsten Vormittag haben viele Schulen früher Schluß. „HJ-Dienst“ ist anbefohlen. Aus der Schule stürmen die Jungen, zehn-, zwölf-, dreizehnjährige, mit funkelnden Augen, tatendurstig, bewaffnet mit Hämmern, Steinen, Knüppeln.
Erinnern Sie sich? Und der Mob stand dabei, johlte, schrie und klatschte Beifall — und die anderen schwiegen in Bitternis.
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