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„Von Jahr zu Jahr“: Tagesspiegel-Leitartikel zu Silvester 1945
Zeitungsgründer Erik Reger sieht das „verfluchte preußische Jahrhundert“ zu Ende gehen. Er setzt den ersten Nachkriegs-Jahreswechsel in Bezug zu jenen davor und holt historisch weit aus.
Stand:
Mit dem Tage, da auf dem Kalenderblatt zum letzten Male die Zahl 1945 steht, endet nicht nur ein Jahr. Es endet auch nicht ein Jahrzehnt oder Jahrzwölft. Es endet ein Jahrhundert. Ebensowenig wie der astronomische Beginn der Jahreszeiten mit dem meteorologischen übereinstimmt, decken die Ziffern der Jahrhunderte sich mit ihrem geistigen Gehalt. Das sechzehnte Jahrhundert begann 1492 mit der Entdeckung Amerikas und schloß 1588 mit dem Untergang der Armada; oder es währte, aus einer engeren Perspektive berechnet, von dem Reformationsjahr 1517 bis zum Westfälischen Frieden 1648. Dies sind die welt- und geistesgeschichtlichen Jahrhundertwenden. Vielleicht ist es in diesem Sinne sogar erst das neunzehnte Jahrhundert, das, eingeleitet durch die französische Revolution von 1789, mit dem heutigen Tage seinen Abschluß findet. Auf jeden Fall aber ist für uns Deutsche jenes Säkulum abgelaufen, dessen erster Tag der 9. Februar 1812 war, der Tag, an dem auf Scharnhorsts Betreiben in Preußen die allgemeine Wehrpflicht verkündet wurde.
Zwanzig Jahre vorher hatten zwei grundverschiedene Charaktere, aus grundverschiedenen Richtungen und mit grundverschiedenen Motiven, Erkenntnisse ausgesprochen, die vom Schicksal ausersehen waren, das Ende dieser Epoche zu bezeichnen, soweit sie diese nicht schon in ihrer Gesamtheit erklären. Als im jakobinischen Frankreich die Septembermorde wüteten, antwortete Danton, der in seinem Umgang manchmal sehr, manchmal gar nicht wählerisch war, auf Vorwürfe des französischen Gesandten in Berlin, Grafen Segur: „Sie vergessen, daß wir die Kanaille sind, daß wir aus der Gosse kommen, daß wir, sollten Ihre Anschauungen jemals wieder zur Geltung gelangen, dahin zurückgetrieben würden; folglich können wir nur durch die Furcht regieren.“ Fast zur gleichen Zeit druckte die „Berliner Monatsschrift“ in einem Aufsatz, dessen Verfasserschaft unbekannt, aber Kant zugeschrieben worden ist, den Satz: „Eine der ergiebigsten Quellen moralischer Vollkommenheiten und moralischer Glückseligkeit fließt für den Deutschen nicht — er hat keine Gelegenheit, Patriot zu sein.“ Heute, nach hundertfünfzig Jahren, in denen, sollte man meinen, Entwicklung über Entwicklung Zeit gehabt hätte, sich zu bilden und auszureifen, heute noch läßt sich über unsere Situation nichts Zuverlässigeres sagen als das eben Zitierte. In diesem langen Zeitraum ist zwar unendlich viel in Deutschland geschehen; aber alles, was geschah, bewegte sich innerhalb desselben dubiosen und sehr endlichen Kreises. Die fortschrittlichen Professoren der Paulskirche brachten keinen anderen Gedanken als den unglückseligsten, den des preußischen Kaisertums, hervor; und selbst wenn die Anhänger einer Republik nicht in der Minderheit gewesen wären, hätte ihre revolutionärste Leistung wahrscheinlich darin bestanden, daß, wie Börne sagte, „die Langeweile ihre Guillotine“ war.
Eine alte Sitte will es, und es entspricht einem seelischen Bedürfnis des Menschen, daß am letzten Tage des Kalenderjahres Rückblick und Ausschau gehalten wird. Vergessen wir aber nicht, daß dieser Tag ganz willkürlich ist und mit keinem System der Natur in vollkommenem Einklang steht. Die ewigen Dinge kennen keine schroffen Zäsuren, nur unmerkliche Wandlungen und innerhalb der Wandlungen Wiederkehr. Die Erscheinungen freilich, in denen sie sich äußern, rufen die Täuschungen hervor. Wenn der Sturm, der am Silvesterabend tobt, am Neujahrsmorgen sich gelegt und der trübe dahinjagende Wolkenzug der eisklaren Farbe des Winterhimmels Platz gemacht hat, sieht der Mensch sich vermeintlich in dem Glauben bestärkt, daß nun etwas ganz Neues angebrochen sei, und er blickt voll Befriedigung auf den vollen Kalenderblock, von dem die Ziffer 1 so ganz anders strahlt, als ein gewöhnlicher Monatserster. Aber beides, der Sturm wie die Stille, das Gewölk wie der frostig frische Azur, haben ihre Ursache in ein und demselben meteorologischen Befund, dem Verhältnis eines barometrischen Maximums zu einem barometrischen Minimum. Und zu den gleichen ewigen Dingen gehört, dem entgegenstehenden Scheine zum Trotz, auch die Geschichte als Summe aller Begebenheiten. „Wir werden desto mehr Herrscher unseres eigenen Geschickes, je genauer wir die gegenseitigen Beziehungen der Dinge erkennen“, sagt Taine. Daß die Geschichte sich nicht wiederholt, ist richtig, wenn man die Form der einzelnen Ereignisse betrachtet, und ein Irrtum, wenn man das Wesen der Beziehungen, die Kette der Bedingungen, vor Augen hat. Falls es wahr ist, daß die Völker aus der Geschichte nichts lernen, liegt hier der Grund. Indessen, wenn die Ereignisse untaugliche Lehrer sind, müssen die Erklärer der Ereignisse in die Bresche springen. Es ist nicht anzunehmen, daß sie in ihrem Silvesterrückblick an der verflossenen Jahresgrenze halt machen — oder doch nur für einen Moment, der notwendig ist, um die Spur des unerbittlichen Zeitenlaufs zu gewinnen.
Seit Hitler benzinübergossen verkohlte, sind die Tage, die Wochen, die Monate weitergerast wie bisher, und nur die Uhr ist, so will es uns dünken, stehengeblieben. Zuerst haben wir uns gewundert, daß wir noch leben; dann haben wir uns allmählich daran gewöhnt, und mehr noch, auch an die Art dieses Lebens haben wir uns gewöhnt. Daß wir dabei auf die übrige Welt nicht den besten Eindruck machen, wissen wir. Wir können nur fragen: wie sollten wir auch? Mindestens zwei Jahre lang, wenn nicht länger, sind wir nach Hitlers Willen eine „belagerte Festung“ gewesen. Man braucht nur Edmond de Goncourts Tagebuch der Belagerung von Paris nachzulesen, um zu verstehen, daß die gleiche Lage immer die gleichen Erscheinungen zeitigt. Die gegenwärtige Periode krankt daran, daß sie noch halb zum Gestern und nur erst halb zum Morgen zählt. Sie ist gleicherweise Ueberbleibsel wie Vorbereitung. Dieser Tage fanden wir irgendwo gewisse menschliche Gewächse aus der „Flora des großen Schutthaufens“ sehr treffend als „Trümmerpflänzchen“ bezeichnet. Es liegt darin die Einsicht in das ephemere von Verhältnissen, gegen die man mit dem schweren Geschütz der Moralpredigten und Tugendappelle nichts ausrichtet, weil sie mit den Ursachen von selbst, jedoch nur so, verschwinden. Auf Unrat wachsen Brennesseln, das ist unvermeidlich. Der Unrat stammt von Hitler, also stammen auch die Brennesseln von ihm. Aber er ist nicht mehr, und das Gewucher des Unkrauts fällt zusammen mit den ersten Versuchen einer neuen Demokratie. Nichts leichter, als ihr zur Last zu legen, daß die Brennesseln ins Kraut schießen, und zu ignorieren, daß jemand sie gesät und den Boden bereitet haben muß. Nichts bequemer, als der Demokratie, ehe sie überhaupt vorhanden ist, alle persönlichen Mißhelligkeiten in die-Schuhe zu schieben. Das alles ist menschlich, wenngleich es dumm ist. Historisch ernst und bedeutungsvoll wird es erst dadurch, daß die Frage, ob die persönlichen Mißhelligkeiten vorher mit der gleichen Bereitwilligkeit dem Nationalsozialismus angekreidet wurden, verneint werden muß.
Hitler ist tot, doch vor einem Jahre lebte er noch. Am 1. Januar 1945 prophezeite er, dieses Jahr werde „die geschichtliche Wende herbeiführen“. Weiß Gott, er sprach wahr. Damals schien es noch, als glaube er, delirierend, an seinen Sieg. Nach dem, was seither bekannt geworden ist, muß man vermuten, daß er genau wie der zitternd bellende Goebbels von seiner Niederlage überzeugt war und, infantil wie er war, nur noch die eine Begierde hatte, hinreichend Zeit zu gewinnen, um Deutschland so gründlich und nachhaltig zu zerstören, daß den Ueberlebenden das Leben vergällt wurde wie ein giftiger Junge, der einem anderen das Spielzeug zertrümmert, weil er selbst es nicht haben kann. Die Welt hat in diesem technischen Jahrhundert äußerlich Fortschritte, innerlich Rückschritte gemacht. Sogar die Diktatoren sind jämmerlicher geworden und beschränken ihre Effekthascherei auf das Teuflisch-Primitive, statt sie mit einer Selbstgefälligkeit der Lebensweisheit zu verquicken, wie noch Napoleon, der, nachdem er sein eigenes Ich an die Stelle Europas gesetzt hatte, inmitten der 223 Quadratkilometer des Inselchens Elba bemerkte, was auch für Hitler gilt: „Nicht die Koalition hat mich gestürzt, sondern die liberalen Ideen; ich habe die Völker beleidigt.“
Von Jahr zu Jahr zählen wir schon lange nicht mehr 365 Tage; von Jahr zu Jahr, das heißt schon lange: von Generation zu Generation. Da sind die Großmütter, nun siebzig oder darüber: als sie vierzig waren, verloren sie vielleicht den Mann und die Söhne; sie zogen die Enkelkinder auf, die sich dann verheirateten und wieder Kinder hatten, und nun hat sie dasselbe Geschick in der zweiten und dritten Generation noch einmal ereilt. Da sind die Väter, die im vorigen Weltkrieg als Gefangene hinter dem Stacheldraht saßen, und nun erleiden die Söhne das nämliche Schicksal. All die Jahrzehnte hindurch — was bleibt? Krieg, Inflation und Arbeitslosigkeit; Aufrüstung, Kraft durch Furcht, Krieg, Krieg, Krieg; Tod und Verderben, Elend und Not, Tränen und Blut. Wahrhaftig eine mit Wolfsschluchtrequisiten überladene Szenerie. Immer und immer wieder erschien ein Samiel, der die zauberkräftige Bleikugel goß und den Leuten ihr bißchen Leben stahl, ihre kleinen Freuden, ihre Familie, ihr Erspartes, ihre Liebhabereien. Der sie lehrte, daß sie das Paradies auf Erden erlangen würden, wenn sie ihm erlaubten, die Erde zur Hölle zu machen. Der ihr Letztes forderte, damit die kommende Generation das Allererste habe. Der für das Opfer von heute die Belohnung von morgen versprach. Der alles nahm und nichts gab. Und Immer und immer stand die kommende Generation mit leereren Händen da als die voraufgegangene. Wie sagt Renan? „Das Vaterland der Idealisten ist das Land, in dem man ihnen zu denken erlaubt.“ Soll das niemals und niemals Deutschland sein?
Unter dem Beifall unseres schamlos gewordenen Volkes hatte Hitler Polen niedergeschlagen; er hatte versucht, Rußland zu düpieren, und hielt den Versuch für gelungen. Nichts Erstaunliches war daran. Erstaunlich allein war die Haltung einer Volksmasse, die sich aus Angst vor dem Kommunismus an den Nationalsozialismus geklammert, jahrelang die Propaganda gegen Sowjetrußland als den „Weltfeind Nr. 1“ geglaubt hatte und nun aufatmend den „neuen Kurs“ entweder wie eine Selbstverständlichkeit oder wie einen genialen Schachzug hinnahm, ohne auch nur die Möglichkeit einer Amoralität in Betracht zu ziehen oder überhaupt Amoralität als Amoralität zu empfinden. Das war die Lage an jenem Silvester vor sechs Jahren. Vor fünf Jahren waren Jugoslawien, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Frankreich unterjocht, englische Städte „coventrisiert“; unser Volk schwelgte im Siegesrausch und in gestohlenen Genüssen, verlachte die schwachen englischen Luftangriffe und erwartete hoffnungsvoll den neuen Beutezug auf die britische Insel. Vor vier Jahren dann erfroren die deutschen Soldaten vor Moskau und verschmachteten in der Wüste; aber was machte es, weitere Teile der Welt lagen dem größten Feldherrn aller Zeiten zu Füßen, vom Nordkap bis zum Suezkanal und vom Atlantischen Ozean bis zur Wolga dehnte sich das „neue Europa“, die „neue Ordnung“ des organisierten Diebstahls. Wo eigene Erfolge fehlten, waren die Japaner die Helden des Tages, und das vorher so gefürchtete Amerika war nicht mehr zu fürchten, im Kaukasus war die „Reichskriegsflagge“ gehißt, und die steigende Zahl der Vasallen beteuerte ihre unerschütterliche Treue. Vor drei Jahren waren die Amerikaner in Afrika gelandet, nach Goebbels zu feige, in Frankreich zu landen; Herr Hitler, der stets „alle Möglichkeiten einkalkuliert“ hatte, war mit seinem Gegenschlag gegen Tunis wieder einmal obenauf. Vor zwei Jahren brannten die deutschen Städte, der Atlantikwall verwehrte jeden Angriff auf die „Festung Europa“, jeder „Verräter“ wurde bestraft.und die großartige deutsche Strategie erst richtig sichtbar: sie hatte vorher so große „Räume“ erobert, damit sie jetzt in der Lage war, sie aufzugeben. Vor einem Jahre endlich erschien, wie eine Rakete über den Trümmern der Wohnungen und Hoffnungen, mit der Ardennenoffensive das große Wunder, die Bestätigung des Glaubens, daß der Führer die feindlichen Heere so weit hatte „hereinkommen“ lassen, um sie desto sicherer zu vernichten. Heute — ist die Sprache der Tatsachen eigentlich laut genug? Hat man endlich begriffen, was man in all den Jahren getan hat? Wie dumm, wie leichtfertig, wie skrupellos man war? Wie man sich selbst belog und betrog? Wofür man opferte, hungerte, krank und verderbt war? Tötete und töten ließ? In Angst und Bedrängnis lebte, mutig draußen, mutlos drinnen, Tapferkeit in Feigheit, Wahrheit in Lüge verkehrte?
Immer daran denken und immer davon sprechen. Niemals vergessen! Die lodernden Gefühle des Zorns gegen Menschen mögen verlöschen; aber das, was geschehen ist, geschehen konnte, muß mit jedem vergehenden Tage an Deutlichkeit gewinnen. Jeder Flüchtling, jeder Kriegsgefangene, jeder Krüppel, jede Witwe und Waise, jeder Greis und jede Greisin, die am Abend ihres Lebens einsam und verlassen sind, fernen Gräbern nachtrauernd, letzte Reste einer einst zahlreichen Familie, jeder, der Hab und Gut und das Dach über dem Kopf, seine Rente, seinen Arbeitsplatz verloren hat, jeder, der hungert, friert, in Elend, Krankheit, Siechtum und Not erstickt — dieses ganze aschgraue Heer, durch die großen Schatten der Ruinen marschierend, Mitternachtsgespenster eines Volkes, das einmal lebendig war und einzig so wieder lebendig werden kann, gelobe sich heute, zu dieser ernsten Stunde des scheidenden Jahres, nein, Jahrhunderts: in jeder versickernden Minute nur einen Gedanken zu haben — wie dies kam, durch wen und durch was. Denn dann, erst können wir Folgerungen ziehen. Und dann erst wird mit dem Glockenschlag, der dem Jahre 1946 gilt, dieses verfluchte preußische Jahrhundert wie eine vom Teufel gemalte Szenerie in den Orkus verschwunden sein.

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