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Heyo Kroemer bei seiner Vorstellung im Januar 2019 im Roten Rathaus.

© Paul Zinken/dpa

Neuer Charité-Chef Heyo Kroemer: Macht dieser Mann Berlin zur Medizinmetropole?

18.000 Pflegekräfte, Ärzte, Laboranten: Heyo Kroemer soll die Charité zur Weltspitze führen. Doch vorher kämpft er mit Berlins Alltagsproblemen.

Auch an diesem Morgen hat Heyo Kroemer in wenigen Minuten das Ärgerliche und das Erhabene seiner neuen Heimat erlebt. Wenn Kroemer, so erzählt er es in seinem Büro, um 7.45 Uhr seine Wohnung in Alt-Moabit verlässt, mit dem Rad zum Charité-Campus Mitte fährt, begegnen ihm hektische Radler und pöbelnde Autofahrer, dann die Damen und Herren im Regierungsviertel, endlich der strahlendweiße Bettenturm und der mattrote Gotikbau, in dem Kroemer seit September arbeitet.

„Auf den Straßen herrscht eine Aufgeregtheit, eine Anspannung, die es in anderen Städten des Landes nicht gibt“, sagt Kroemer feststellend, nicht empört. Wie er ohnehin, in Ostfriesland aufgewachsen, kein aufgeregter Typ ist. „In Berlin herrscht viel Kreativität, aber auch eine gewisse Aggressivität – daran muss man sich gewöhnen.“

Bald wird Kroemer auch mit anderen Besonderheiten Berlins umzugehen lernen müssen: den Besserwissern der Hauptstadtpresse, den Polizisten, die in hiesigen Kliniken nötig sind, den Lobbyisten, die von den Milliarden profitieren wollen, die Kroemer in den nächsten Jahren ausgibt.

De jure leitet Kroemer – seine Strähnen fallen in die Stirn, zu Sakko trägt er Jeans – ein Krankenhaus. De facto muss er wie ein Forschungsminister agieren, jedenfalls als Deutschlands politisch bedeutsamster Wissenschaftler. Verheiratet, drei Kinder, Pharmakologe, zuletzt Chef der Universitätsklinik Göttingen, nun Charité-Vorstandsvorsitzender. Kroemer, 59, soll die Vision des Senats umsetzen: aus dem industriearmen Berlin eine internationale Medizinmetropole machen.

Auf ihn setzen auch jene Bundespolitiker, die wissen: Soll Deutschland wieder ein gefragtes Forscherland werden, braucht es eine Vorzeigestadt, deren Lebensgefühl in die Welt ausstrahlt, in der aber konkrete Fortschritte gemacht werden.

Nukleus der Forschungsmetropole - der Campus Mitte der Berliner Universitätsklinik.
Nukleus der Forschungsmetropole - der Campus Mitte der Berliner Universitätsklinik.

© Hannes Heine

Doch bevor er große Pläne umsetzen kann, muss Kroemer die aktuelle Lage befrieden. Erst am Montag hatten Ärzte – auch aus der Charité – in einer Umfrage gesagt, ihnen bleibe oft nur Zeit für oberflächliche Behandlungen. Und das Charité-Management weiß auch, dass mindestens 100 Pflegekräfte fehlen. Vergangene Woche wurde das Charité-Kinderkrebszentrum in Wedding für neue Patienten geschlossen: Dort sind zehn von 50 Stellen unbesetzt.

Manche Charité-Patienten schützt das Bundeskriminalamt

Kroemer verwaltet 1,8 Milliarden Euro Jahresumsatz, ist für 18.000 Pflegekräfte, Ärzte, Laboranten, Handwerker und 3000 Betten verantwortlich, die sich auf vier Standorte in West und Ost verteilen. Er wird vom Bundeskriminalamt informiert, wenn einer der 850.000 Charité-Patienten pro Jahr bewacht werden muss: Keine Klinik in Deutschland ist seit jeher so politisch – die ukrainische Ex-Präsidentin, Julia Timoschenko, ist hier behandelt worden, auch Iraks früherer Staatschef, Dschalal Talabani.

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Die Welt zu Hause in der Charité – das war schon der Anspruch von Kroemers Vorgänger. Karl Max Einhäupl, der bald 73 wird, leitete die Universitätsklinik ab 2008. Er führte sie aus den Schulden, einigte sich mit den streikenden Pflegekräften darauf, mehr Personal anzustellen und triumphierte zuletzt gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller: Die Bundesregierung beschloss, das Berliner Institut für Gesundheitsforschung der Charité, das BIG, dauerhaft mit 70 Millionen Euro im Jahr zu unterstützen. Das ist neu, denn Bildungseinrichtungen sind Ländersache.

Operation Berlin: Mit der Charité will der Senat seine Pläne von der Medizinhauptstadt umsetzen.
Operation Berlin: Mit der Charité will der Senat seine Pläne von der Medizinhauptstadt umsetzen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Was Klaus Wowereit für Berlin war, also der Glamour, das Sich-ins-Gespräch-Bringen, das war Einhäupl für die Charité. Einhäupl kam aus München und brachte von dort das Barocke mit, tanzte auf allen Fraktionsfesten, empfing Politiker, Chefärzte, Journalisten präsentabel im „Café Einstein“, Filiale Unter den Linden. Zu seiner Abschiedsfeier kamen 300 Spitzenleute, Ex-Präsidentin Timoschenko dankte per Video-Botschaft.

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Von Kroemer wird erwartet, dass er es so gut wie Einhäupl macht – und noch mehr Resultate liefert. Erfolgreiche Patente anmelden, Abläufe digitalisieren, namhafte Ärzte, Biochemiker, Pflegewissenschaftler ausbilden lässt. Europas schon heute größte Hochschulklinik soll, so der Plan von Senatschef Müller, das europäische Harvard werden. Nicht nur in Müllers SPD, sondern parteiübergreifend wünschen sich Politiker das.

Der Schlüssel für alles: Heyo Kroemer mit seinem Vorgänger Karl Max Einhäupl und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (von rechts) bei der Amtsübergabe im September.
Der Schlüssel für alles: Heyo Kroemer mit seinem Vorgänger Karl Max Einhäupl und dem Regierenden Michael Müller (von rechts) bei der Amtsübergabe im September.

© Monika Skolimowska/dpa

Kroemer spricht regelmäßig mit Einhäupl – seinen Stil wird er nicht kopieren. Geboren im ostfriesischen Leer, sollte Kroemer die Familienapotheke im nahen Aurich übernehmen. „Ich wollte raus in die Welt“, sagt er. „Meine Eltern haben das bald verstanden.“ Kroemer studierte Pharmazie und Pharmakologie, arbeitete in Nashville, Basel, Greifswald, Göttingen. Jemand, der Kroemer aus Niedersachsen kennt, nennt ihn einen „schnörkellosen, gewissenhaften, ruhigen“ Typen.

Es gibt noch zu viel Faxe, Papierakten, analoge Röntgenanlagen

Wie wollen Sie, Herr Kroemer, in dieser aufgeregten Stadt vorgehen? „Mit Beharrlichkeit, in kleinen Schritten“, sagt er. Kaum im Büro, klärt Kroemer die Tageslage: Was steht an welchem der 100 Charité-Institute bevor, worüber wollen Abgeordnete mit ihm reden, was sagen Fachverbände, Ärzte, Unipräsidenten? Telefonate, E-Mails, Manuskripte.

Heyo Kroemer soll die Charité - und damit Berlin - an Europas Spitze führen.
Heyo Kroemer soll die Charité - und damit Berlin - an Europas Spitze führen.

© Hannes Heine

Kroemer weiß, dass der „Kampf um die besten Köpfe“ die Lage in Berlin entscheidet. „Alles was sich durch Computer und Roboter erledigen lässt, sollte digitalisiert werden“, sagt Kroemer. Bei Dokumentationen, Reparaturen, Nebenaufgaben soll Technik den Beschäftigten helfen. Noch gibt es zu viel Faxe, Papierakten, analoge Röntgenanlagen.

Ausgerechnet jetzt hören die Vivantes-Topleute auf

In Göttingen war alles überschaubar. In Berlin ringen Bezirke, doppelt so groß wie Göttingen, um Einfluss. Firmen, Verbände, Kultureinrichtungen streiten um Areale in der Innenstadt. Dazu kommen protestierende Anwohner und eine zerstrittene rot-rot-grüne Landesregierung. Kroemers Stab muss klären, wo Neubauten überhaupt noch durchsetzbar sind, wer aus welchen Motiven mit ihm spricht und ob die vom Senat geplante Dachgesellschaft mit dem Vivantes-Konzern – neun Kliniken, 17 Heime, 16.000 Mitarbeiter – funktionieren kann.

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Bislang laufe in Berlin zu viel nebeneinander, hatte Senatschef Müller gesagt. Um „Top-Adresse der Medizinforschung“ zu werden, sollen die Charité und die ebenfalls landeseigenen Vivantes-Kliniken kooperieren, die Digitalisierung vorantreiben und eine Ausbildungsakademie aufbauen. Eine Dachgesellschaft mit Vivantes, gemeinsam Studien durchführen, die landeseigene Marktmacht nutzen – klingt alles plausibel. Doch in Berlin kommt erstens öfter was dazwischen, zweitens steigt durch die Senatspläne der Druck auf die Branche.

Nach nur drei Monaten in Berlin erfährt Kroemer, dass nicht nur Vivantes-Chefin Andrea Grebe bis nächsten Juni ausscheiden wird, sondern deren Aufsichtsratsvorsitzende und die Personalleiterin schon zum Jahresende abtreten. Soll der Aufbau einer Medizinmetropole gelingen, hängt viel davon ab, wer Vivantes nächstens Jahr führt. Und wie umgänglich ist der Neue selbst?

Anruf bei Carsten Becker. Der ist seit 20 Jahren an der Charité, als Kinderkrankenpfleger, Personalrat, Streikführer, nun in der hausinternen Beratung tätig. „Bislang macht Heyo Kroemer einen guten Eindruck, von Standesdünkel keine Spur“, sagt Becker. „Wird sich zeigen, ob er die Löcher in der Personaldecke strapaziert oder stopft.“ Vielleicht hilft es Kroemer, einen guten Eindruck zu machen, dass er als Pharmakologe kein traditioneller Arzt ist, sondern gewissermaßen für das ganze Spektrum aus Forschung, Lehre, Krankenbehandlung steht.

"Dass die Charité Kroemer haben möchte, ist verständlich"

Auch in Niedersachsen reden sie gut über den Mann, obwohl er ja nicht zurückkehren wird. Als im August 2018 bekannt wurde, dass sich Berlin für Kroemer interessierte, gerieten sie in Niedersachsen fast in Panik: Landespolitiker, Ärzte, Kollegen wollten Kroemer halten. Das „Göttinger Tageblatt“ widmete ihm eine Sonderseite. „Dass die Charité Kroemer haben möchte, ist verständlich“, wurde der Göttinger Bundestagsabgeordnete und SPD-Stratege Thomas Oppermann zitiert. „Ich gehe davon aus, dass sich der Ministerpräsident persönlich in die Bleibeverhandlungen einmischt.“

Die niedersächsische Landesregierung konnte Kroemer bekanntlich nicht umstimmen. „Ich habe sehr gern in Göttingen gearbeitet“, sagt er. „Doch Berlin hat mich gereizt.“ Bürgermeister Müller nannte die Gesundheitsbranche Berlins „ein echtes Pfund“; zusammen mit dem Umland sind 375.000 Männer und Frauen in 70 Reha-Einrichtungen, 130 Kliniken, 550 Pharma-, Biotech-, Medizintechnikfirmen, 800 Heimen und 1200 ambulanten Diensten tätig. Müller hatte zuvor die elfköpfige Kommission „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ einberufen, der Kroemer angehörte. Der Göttinger kannte Stärken und Schwächen Berlins also.

Hochleistungsmedizin in Berlin: Bei einer Operation wird einem wachen Patienten ein Gehirntumor entfernt.
Hochleistungsmedizin in Berlin: Bei einer Operation wird einem wachen Patienten ein Gehirntumor entfernt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Der Vergleich mit der privaten Harvard Med School, die sich in Boston befindet, macht Kroemers Job nicht einfacher. Pharmapatente, Nobelpreisträger, Spitzenforscher kommen meist aus den USA. Allerdings zahlen US-Bürger viel mehr für Versicherungen und Behandlungen: Für einen Klinikaufenthalt erhält die Krankenhausleitung so viel Geld, dass sie die Forschung querfinanzieren kann. Hinzu kommt, dass Harvard-Studenten im Jahr umgerechnet 55.000 Euro Gebühren entrichten und Firmen sowie Privatleute noch Geld spenden. Und so müssen US-Wissenschaftler nicht so oft aus dem Labor in den Hörsaal. In Deutschland gehören Forschung und Lehre zusammen, so verlangt es das Gesetz.

Was an der Charité ebenfalls anders ist, sozusagen das erweiterte Sozialstaatsgebot, sind die Ausnüchterungszellen. In Harvard kämen Betrunkene nicht am Pförtner vorbei. Auch brutale Großfamilien, deretwegen schwerbewaffnete Polizisten 2018 den Steglitzer Charité-Campus bewachten, sind in Boston selten. Ist Kroemer in dieser Lage der Richtige?

Kroemer war spröde - in Berlin ist er lockerer geworden

Anruf bei der Opposition. Adrian Grasse ist Abgeordneter für Steglitz-Zehlendorf und Wissenschaftsexperte der Berliner CDU-Fraktion. Grasse hatte kritisiert, dass die Charité im Sommer die Kinderrettungsstelle auf dem Campus Steglitz geschlossen hat. Die ärztliche Leitung sagte, es seien zu wenige Patienten eingeliefert worden, Grasse spricht vom Zuzug kinderreicher Familien. Doch Grasse sagt auch, wahrscheinlich gebe es in Deutschland zehn, zwölf Männer und Frauen, die eine Hochschulklinik dieser Größe leiten könnten. Berlin könne froh sein, dass Kroemer da sei – nun müsse der sich in der Praxis bewähren.

Zusammen mit Müller gelang Kroemer im November ein erster Coup: Führende Christ- und Sozialdemokraten, nicht nur aus Berlin, haben im Haushaltsausschuss des Bundestages durchgesetzt, dass das Forschungsministerium einen Prestigebau der Charité mitfinanziert. Der Bund bezuschusst das in Wedding geplante Herzzentrum, als modernstes Europas angelegt, mit 100 Millionen Euro.

Darum wird es für Kroemer gehen: Bundesregierung, EU, Pharma- und Technikfirmen überzeugen, dass sich jeder in Berlin investierte Euro rentiert – weil diese Stadt, mit dieser Hochschulklinik, die Zukunft der deutschen Medizin ist. Für Kroemer, den stillen Ostfriesen, heißt das: reden, erklären, bewerben.

Ihm tut das offenbar gut. Vor einem Jahr war Kroemer spröder, auf den Festen der Stadt steifer, seine Sprache technischer. Doch in Berlin, wo Sektempfang auf Bierrunde folgt, ist hemdsärmelige Lockerheit nötig – und die, so scheint es, hat sich Kroemer antrainiert. „In den letzten Monaten war ich fast jeden Abend auf einer Veranstaltung. Auch das unterscheidet Göttingen und Berlin, die Eventdichte hier ist enorm.“ Es werden mehr Termine, das ist sicher.

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