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Peru von Küste bis Gipfel: Auf 3800 Metern gibt es Kopfschmerzen gratis dazu
Lektionen in Ehrfurcht überlagern sich mit dem Erlebnis der Unendlichkeit. Eine Reise durch das südamerikanische Land gleicht einer Prüfung des eigenen Koordinatensystems.
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Es ist ein beiläufiger, übermüdeter Blick aus dem Bus, frühmorgens kurz nach 6 Uhr. Niemand scheint ihn zu bemerken, doch da ist er: der Pazifische Ozean, zum ersten Mal. So blass wie der Himmel obendrüber, an den ganz oben Cirrus-Wolken gewischt sind. Sie sind fast gespenstisch weit oben, aber das hat schon seine Richtigkeit: Hier in den Tropen steht der Himmel fast acht Kilometer höher als bei uns.
Der Ozean darunter liegt genauso da, wie sein Name es sagt: unendlich still, friedlich wie ein Dorfteich. Dabei ist nichts zwischen diesem Hochufer von Lima und der Nordspitze Australiens, nichts als eine Unendlichkeit Wasser. Aber Busreisende von heute neigen nicht zur Ehrfurcht.
Eine typische Lateinamerika-Metropole erwacht. Jeder scheint zu fahren, wie er will, auf die Bezeichnung Haus erheben dicht aneinander gedrängt noch die abenteuerlichsten, fast immer unvollendeten Konstruktionen Anspruch. Man weiß oft nicht recht, ob sie sich noch im Bau befinden oder schon wieder verfallen. Ein Fluss scheint statt mit Wasser mit Müll gefüllt. Das ist die Hauptstadt des einstigen Neukastilien, des Vizekönigreichs Peru, dessen Grenzen die Spanier von den Inka übernahmen? Es reichte vom heutigen Kolumbien bis hinunter nach Chile, Argentinien und Brasilien hinein.
Doch dann ändert sich das Bild: Miraflores ist das neue Zentrum der Stadt, das europäische Zentrum gewissermaßen. Banken, Hotels, Restaurants, Supermärkte, moderater Verkehr. Nichts ist überfüllt. Dass die Hälfte der rund acht Millionen Einwohner Limas in Elendsquartieren lebt, lässt sich hier nicht einmal mehr ahnen.
Erst recht nicht auf der Plaza Mayor im alten Zentrum. Hier ist es wie im Herzen einer alten spanischen Stadt, bloß viel weiter und größer. Die Palmen sind auch höher. Aber fast nichts ist original. Die ursprüngliche Kathedrale war beim Erdbeben von 1746 über den Gebeinen des Eroberers Francisco Pizarro zusammengestürzt.

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Das neue Gotteshaus, in zwei Jahrhunderten erbaut, demonstriert vor allem eins: Macht. Aber es lohnt, sich von dieser Größe nicht erschlagen zu lassen und bis in die hinteren Räume links vom Altar zu gehen. Die Wände zeigen biblische Szenen, natürlich. Maria hält das Jesuskind im Arm, aber wie! Milch spritzt aus ihrer Brust. Und was für ein Jüngstes Gericht! Erst vor diesen Szenen versteht man wirklich, was es heißt, wenn die Gräber sich öffnen und die Untoten sich erheben. Nein, europäische Maler waren hier nicht am Werk.
Irgendjemand musste die vielen neuen Kirchen, oft errichtet auf den Inka-Tempeln, schließlich ausmalen. Und die Künstler der indigenen Völker, dringend aufgefordert zur kulturellen Aneignung, malten in die biblischen Geschichten die eigene Tradition, das eigene Weltverständnis, die eigene Umgebung mit hinein. Da kann es schon geschehen, dass Jesus und seine Jünger – wie in der Kathedrale von Cusco, der alten Inka-Hauptstadt im Innern des Landes – beim letzten Abendmahl Meerschweinchen essen und vermutlich Malzbier trinken statt Wein. Pizarro lag die Stadt viel zu hoch, weshalb er Lima gründete.
Es tut gut, nachher in leichter kultureller Irritation auf den Stufen der Kathedrale in der frühen Wintersonne zu sitzen. Wintersonne? Hier ist sie eine frühe Sommersonne. In den Tropen sieht man die Sonne mitten am Tag ohnehin nie, immer steht sie fast senkrecht über dem eigenen Kopf.

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Vielleicht sollte man in Lima gar nicht auf Kirchenstufen sitzen, sondern besser einen ganzen Tag im Museum verbringen. Die meisten Besucher zieht es ins Goldmuseum oder ins Archäologische Nationalmuseum, aber das Museo Rafael Larco Herrera steht ihnen gewiss nicht nach und ist wie gemacht für einen Ganztagesbesuch. Die Villa aus dem 18. Jahrhundert liegt in einem tropischen Blütenmeer, hat ein ausgezeichnetes Restaurant mit Gartenblick und von hier aus kann man immer wieder abtauchen in die großartig präsentierte reiche Welt der vorkolumbianischen Kulturen.
In das Universum also, das die spanischen Eroberer vernichtet haben? Nein, so kann man das unmöglich sagen. Denn schon die Inka waren große Liquidatoren, sie waren Imperialisten wie die Spanier. Wie viele Völker haben sie binnen von nur zwei Jahrhunderten ausgelöscht oder es zumindest versucht, die meisten viel, viel älter als sie?

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Die Wüste hat ihre Zeugnisse vorbildlich konserviert, sie ist vielleicht der größte Denkmalschützer überhaupt. Da ist die Chavin-Kultur, die Cerro Sechin, die Mochica-Kultur natürlich und die Paracas-Kultur. Sie haben Keramiken, Kultgegenstände, Metallschmiedearbeiten und Stoffe von einer Feinheit hergestellt, die erstaunen lässt. Die zartesten Gewänder stammen aus Paracas. Sie kleideten nicht die Lebenden, nur die Toten.
Nach Paracas also. Der Reisebus nimmt die Panamerikanische Straße, die nahe am Ozean entlangführt und von Alaska bis nach Feuerland reicht. Wir fahren durch die Wüste. Alle großen Städte des Landes liegen in der Wüste, auch Lima. Aber dazwischen verwandelt sie sich in einen Obst- und Gemüsegarten. Hier wächst fast alles, Avocados für Europa und Heidelbeeren für China. Peru ist soeben zum größten Heidelbeerlieferanten der Volksrepublik aufgestiegen.
Die Gärten enden sofort, wo die Bewässerung aufhört. Gleich hinter dem fruchtbaren Wüstenstreifen steigen die Anden auf. Eigentlich müsste man sie ständig sehen, so nah sind sie, aber dafür ist es meistens zu diesig, obwohl es fast nie regnet.
Jonny, unser Wüstenreiseleiter, kommt wie möglicherweise die Inka aus dem Regenwald dahinter. Peru - das ist angewandter geografischer und klimatischer Surrealismus. Jonny kennt alle Gemüse- und Fruchtsorten unterwegs, auch solche, von denen wir noch nie gehört haben und deren Namen wir sofort wieder vergessen, obwohl sie hervorragend schmecken.
Kurz vor dem Hafenort Pisco kann man nicht nur sehen, wie die Wüste auf den Ozean trifft, großartige Farbenspiele inklusive, sondern findet, zumindest mit Jonnys Hilfe, auch schöne Badebuchten. Doch niemand ist im Wasser. Die Peruaner, wenn sie keine Fischer sind, scheinen ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Ozean zu haben. Zu kalt.

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Natürlich ist das relativ. Wer als Original- und Idealform eines Meeres die Ostsee vermutet, wird sich nach einem Bad im Peru-Pazifik wie zu Hause fühlen. Genau wie die antarktischen Robben, die hier überall herumflegeln, etwa zu dritt auf einer kleinen Boje. Oder die Pinguine. Das liegt am Humboldtstrom, der einst Magellans Schiffe die südamerikanische Küste hinauftrug, nachdem der Seefahrer endlich den Paso gefunden hatte, die Durchfahrt durch den amerikanischen Kontinent. Allerdings fand er ihn erst kurz vor Kap Horn. Und hier, kurz vorm Äquator führt der Humboldtstrom immer noch seine antarktischen Wasser, weshalb Robben und Pinguine gar nichts gegen einen Aufenthalt in den, nun ja, Tropen haben.
Wer es bis zum Fischer- und Hafenort Pisco geschafft hat und tatsächlich noch kein Ceviche gegessen hat, kann das in einem der vielen kleinen Restaurants an der Promenade nachholen: Ceviche, das ist dünn geschnittener roher Fisch, mariniert in „Leche de Tigre“. Tigermilch heißt die fast immer gelungene Mischung aus Limettensaft, Salz und Chilis. Weitere Gewürze und Kräuter sind möglich, aber keine Bedingung, im Gegensatz zu der dünn geschnittenen rohen Zwiebel obendrauf. Serviert wird möglichst mit Süßkartoffel oder Maniok. Dazu passt ein Pisco Sour nur bedingt, wie wir mit Bedauern feststellen.

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Der Pisco Sour ist das Nationalgetränk Perus. Wer damit einmal angefangen hat, hört erfahrungsgemäß während seines ganzen Aufenthalts nicht mehr auf. Für einen Drink gibt man Pisco – den einheimischen Traubenschnaps – mit Zuckersirup, Limettensaft und Eiweiß in den Shaker. Natürlich lässt sich die Frage stellen, ob man in Peru wirklich geschlagenes Eiweiß trinken sollte, aber diese Erkundigung vergisst fast jeder spätestens nach dem zweiten.
Die Halbinsel Paracas liegt gleich hinter Pisco. Die unterirdischen Totenstädte sind keineswegs die Hauptattraktion, sondern es ist ein Stoffwechselendprodukt, das jeder Gärtner unter dem klangvollen Namen Guano kennt. Hier kommt er her, von den Felseninseln vor Paracas, den Islas Ballestas. Sie sind ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt: Schwalben und Möwen aus Alaska rasten hier und fliegen weiter nach Patagonien, die bleibenden Spuren ihrer Anwesenheit fallen kaum ins Gewicht. Beim Peru-Tölpel und dem Guano-Komoran ist das anders. Der Vogelkot der Ballestas-Inseln war einst ein begehrtes Exportgut und erzielte Höchstpreise.
In der Ferne schimmern die Anden wie eine Fata Morgana. Wer Zeit hat, fährt in Tagesetappen mit dem Bus, um sich langsam an die Höhe zu gewöhnen. Rastlose nehmen das Flugzeug von Lima und sitzen anschließend leicht benommen auf der Plaza des Armas von Cusco. Begreiflicherweise kommt ihnen alles sehr altspanisch vor, das ist es auch – viele sagen, Cusco sei die schönste Stadt Perus –, aber der seltsame Schwindel hat noch einen anderen Grund: Cusco, die alte Hauptstadt der Inka, liegt auf fast 3400 Metern Höhe.

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Künftig werden die Besucher in Chinchero auf fast 3800 Metern ankommen, dort entsteht der neue Flughafen. Der heutige ist noch gar nicht alt, aber schon zu klein für die weiter steigenden Besucherzahlen. Noch tragen die Bewohner des Ortes hier oben die bisherige Abgeschiedenheit ihres Lebens im Gesicht, man sieht Dorffrauen mit den traditionellen hohen Andenhüten auf dem Kopf. Sie werden sich wohl an den Anblick leicht derangierter Fremder gewöhnen müssen, die Treppenstufen steigen wie alte Leute, selbst wenn sie noch jung sind, und von denen die meisten Kopfschmerzen, Schwindel und Herzklopfen haben.

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Die meisten Ankömmlinge wollen natürlich nach Machu Picchu, in diese fast vollkommen erhaltene Inka-Stadt, die Pizarro und seine Konquistadoren nie gefunden haben. Doch wer absolut nicht da sein will, wo alle sein wollen, wird ebenso reich belohnt. Man kann von Cusco aus auf verschiedenen Routen das Valle Sagrado, das Heilige Tal der Inka, durchwandern, das lange der eigentliche Siedlungsraum dieses Volkes war, bevor es zu der Auffassung gelangte, dass es kein anderes Volk neben ihm geben solle, zumindest kein unbesiegtes. Die Inka-Salzterrassen von Pichingote, ihr großes amphitheaterartiges biologisches Laboratorium in Moray sowie Stadt und Festung Ollantaytambo sind unbedingt Stationen auf dem Weg.

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Für Nicht-Wanderer gibt es natürlich auch Busse, und am besten tritt man die Fahrt durchs Heilige Tal mit Führer an, denn es gilt auch in Peru: Man sieht nur, was man weiß. Bestimmt ist kaum einer so gut wie Walter, der nach dem einstigen deutschen Kollegen seines Vaters heißt, aber noch nie in Europa war, dafür sechs Sprachen spricht, auch Japanisch. Als Kind spielte er noch in den Resten des Sonnentempels der Inka in Cusco. Auf den Fundamenten des Tempels haben die Dominikaner ihre große Kirche gebaut, so wie die Eroberer überall auf der Welt ihre Gotteshäuser vorzugsweise auf den Heiligtümern der Unterworfenen errichteten.
Vielleicht versteht man in den Ruinen der Inka-Festung Sacsayhuaman oberhalb von Cusco am besten den blutigen Irrsinn, den wir Geschichte nennen. Nur wenige Jahrzehnte, bevor die Spanier – bloß 180 Mann – gen Cusco zogen und es besiegten, wurde diese Festung errichtet, die riesigen Steine „so groß und dick, dass es unmöglich schien, Menschenhände hätten sie an Ort und Stelle setzen können“. So berichtete Pizarros Bruder Pedro. In die fein verfugten Zwischenräume habe keine Stecknadel gepasst. Man wird wohl nie ganz begreifen, wie diese Schwerst- als Feinarbeit, Fein- als Schwerstarbeit von Menschenhand möglich war.
Beim Abflug von Lima flegelt der unendliche Ozean noch immer pazifisch in der Sonne, aber nur kurze Zeit später gelangen Berichte von nie gesehenen Riesenwellen an Perus Küste bis nach Europa.
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