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Zwischen Trump und Putin: Wie eine deutsche Führungsrolle aussehen kann
Friedrich Merz will, dass Deutschland wieder zu einer führenden Mittelmacht wird. Aber wie könnte die größte Wirtschaftsnation Europas Verantwortung übernehmen?

Stand:
Immer wenn die Deutschen abgehängt werden, träumen sie von einer Führungsrolle. Das ist auch jetzt wieder so. Kaum dass die Trump-Regierung sich über die Köpfe Europas hinweg mit Wladimir Putin einigen will, ist von der „deutschen Führungsrolle“ die Rede. Und niemand weiß genau, wie die aussehen soll.
Wenn die Deutschen von Führung reden, dann zucken alle anderen um sie herum zusammen. Da nützt es wenig, dass CDU-Generalsekretär Linnemann unter Führungsrolle etwas versteht, was „nicht von oben herab“ ausgeübt werden soll. Wie aber dann?
Friedrich Merz sprach im Januar in einer außenpolitischen Grundsatzrede davon, dass Deutschland nicht nur Verantwortung für seine eigenen Interessen, sondern auch für den Zusammenhalt in ganz Europa trage. Nach Führung klang das nicht, obwohl es vielleicht gemeint war. Denn in einem „Stern“-Interview ergänzte er: Deutschland müsse „von einer schlafenden Mittelmacht wieder zu einer führenden Mittelmacht werden“.
Als Mittelmacht wird ein Staat bezeichnet, der zumindest auf einem strategischen Gebiet eine entscheidende Rolle einnimmt. Welche könnten das sein? Die nächstliegende wäre die Rolle eines stabilen Zentrums, eines unverrückbaren Kerns, auf den man sich jederzeit verlassen kann. „Von Freunden umgeben“, wie Helmut Kohl, Kanzler der Einheit, zu sagen pflegte.
Haben wir begriffen, was das bedeutet?
Deutschland als Bergfried
Auf der Welt gibt es wenige Länder, die mehr Nachbarländer als Deutschland haben – nur Russland und China haben jeweils 14 Nachbarstaaten. In der Mitte von neun Ländern zu liegen, mit offenen Grenzen und wenigen Zollschranken, verleiht uns die Rolle einer Bastion.
So wie es in jeder Festung Außenmauern, Zinnen, Tore, Innenhöfe, Pulverkammern und Pferdeställe gibt, steht in der Mitte ein Wehrturm. In ihm sind die Reserven untergebracht. Hierher können sich die Belagerten zurückziehen, falls äußere Verteidigungsanlagen nicht mehr zu halten sind. Der Bergfried ist Rückhalt, letzte Sicherheit und Abschreckung zugleich.

© picture alliance/dpa/Stefan Sauer
Die „Festung Europa“ ringt um mehr Sicherheit. Ob der US-Präsident sich nun wirklich von Europa abwendet oder nicht, ist unerheblich für die Frage, wie Europa eine Stabilität erreichen soll, die es für seine demokratischen Freiheiten braucht. Welches Selbstbild soll Deutschland daraus entwickeln? Für Stabilität bedarf es in jedem Fall einer unbeweglichen Mitte. Eine solche zu bewahren, ist die Rolle, auf die eine Bundesregierung sich fortan konzentrieren müsste.
Stattdessen werden alte Überwältigungsängste bei der Frage wachgerufen, was die jüngsten Brüche im transatlantischen Verhältnis für Deutschland bedeuten. Das historische Trauma, als die klassische Mittelmacht schlechthin zerrissen zu werden zwischen West und Ost, lebt in der panischen Debatte um Schutzschirme wieder auf: Viele fordern, sich mit Putin ins Benehmen zu setzen und über „Frieden“ zu verhandeln.
Wir müssen von einer schlafenden Mittelmacht wieder zu einer führenden Mittelmacht werden.
Friedrich Merz (CDU), designierter Bundeskanzler
Deutschland müsse wieder die Rolle eines ehrlichen Maklers einnehmen, der zwischen den Parteien steht, über ihnen. Ihre Stimmen ziehen sich durch fast alle Parteien im Bundestag. Wie die Körber-Stiftung herausfand, verneinen 71 Prozent der Bundesbürger, eine militärische Führungsrolle in Europa einnehmen zu sollen.
Dabei steht Deutschland gar nicht an vorderster Linie, sondern hinter ihr. Es sind Länder wie Ukraine, Litauen, Polen, Slowakei, Moldawien, Finnland und Schweden, die Angriffsziele sind oder werden könnten. Sie brauchen Rückendeckung und Ressourcen, um bei der Abwehr russischer Großmachtträume zu tun, was sie für richtig halten. Und das Land der Mitte sollte sie ihnen garantieren.
Das Getänzel beenden
Deutschland ist für alle seine Nachbarn wichtigster Partner im Handel – und sogar darüber hinaus, wenn man Italien, Slowakei und Ungarn miteinbezieht. Die Rolle des Bundeskanzlers auf europäischem Parkett ist also ziemlich einfach. Mit der strategischen Ausrichtung auf ein Bollwerk der Mitte könnte er das Getänzel beenden, das SPD-Vorgänger Scholz als „Besonnenheit“ verklärte.
Statt großspurig voranzupreschen mit eigenen Ideen, müsste er den europäischen Freunden, die Ukraine eingeschlossen, lediglich versichern, hinter ihnen zu stehen bei dem, was sie brauchen. Und zwar mit demselben Blankoscheck, den man in Bezug auf Landesverteidigung und Infrastruktur jetzt auszustellen bereit ist („was immer es braucht“).

© dpa/Kay Nietfeld
Deutschland sei zu groß, um keine Verantwortung zu übernehmen, argumentierte der frühere US-Präsident Bill Clinton 1994, als er das Land zu mehr Initiative in der Einbindung osteuropäischer Staaten aufforderte. Wenn es sich zu drücken versuche, würde ein Vakuum entstehen, das es doch wieder zum Handeln zwinge.
Nach Jahrzehnten der Frontstellung im Kalten Krieg, die gerade erst überwunden war, verlangte Clinton, dass man sich in Berlin mental vom Rand in die Mitte bewegte. Seither gehören Deutschland und Europa „wieder ganz zusammen“, wie es in einer politischen Analyse von David Schoenbaum und Elisabeth Pond aus dem Jahr 1997 heißt.
Diese Einbindung läuft auf eine Aufgabenteilung hinaus, die sich auf dem Krisengipfel von London Anfang März abgezeichnet hat und weit über das „Weimarer Dreieck“ hinausgeht. Während der französische Staatspräsident Macron und der britische Premierminister Starmer die Fäden der internationalen Verflechtung virtuoser knüpfen als ein deutscher Kanzler und Diplomatie mit militärischen Optionen hinterlegen, fällt ihm der Job zu, das stille Kraftzentrum zu geben.
Entspannter Pragmatismus
Dazu gehört erstens: die forcierten Russland-Ängste im Osten zu akzeptieren und mehr Bereitschaft für eine gemeinschaftliche Schuldenlast durch Eurobonds und Fondsfinanzierungen zu zeigen.
Zweitens: die immer noch weitverbreitete Friedensfiktion fallen zu lassen, nach der man eine Mittlerrolle zwischen den Machtblöcken einnehmen müsse. Brückenbauer zu sein, wie es sich viele Deutsche wünschen, ist ein hehrer Anspruch. Aber er darf nicht dazu führen, dass gut gemeinte Friedensinitiativen über die Länder hinweg unternommen werden, die auf Unterstützung zählen.

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Drittens: Freundschaften zu Ländern intensiver zu pflegen, die nie im Fokus stehen – wie Dänemark, Niederlande, Belgien, Tschechien und Slowakei, Griechenland und Rumänien. Statt nur einen Antrittsbesuch in Paris zu machen, sollte den Anrainern und weiteren Schlüsselländern mehr regelmäßige Aufmerksamkeit geschenkt werden. Außenministerin Baerbock wählte bei 116 Auslandsreisen lieber das Weltparkett. Nur zehn Prozent davon wandte sie für Besuche jener Staaten auf, für die Deutschland durch wirtschaftliche Verknüpfungen am wichtigsten ist.
Und viertens: nicht auf Zeit zu spielen, um erst mal noch mehr Rückhalt für die eigene Position zu organisieren, wie bei Scholz’ zögerlichem Verhalten in der Panzer- und der Taurus-Frage.
Als größte Wirtschaftsnation Europas müsse das Land „vorangehen“, heißt es oft. Aber dem liegt ein Irrtum zugrunde. Wirtschaftsmacht hat wenig mit politischem Einfluss zu tun. Zumal Exportweltmeister Deutschland sein politisches Kapital dafür aufwenden muss, seine Außenhandelsbeziehungen zu stabilisieren.
Sich als Ruhepol in einer zunehmend chaotischen multipolaren Ordnung zu verstehen, setzt Prioritäten neu.
Kai Müller, Redakteur des Tagesspiegel
Wie abhängig das Wirtschaftswachstum von Ereignissen fern eigener Grenzen ist, erleben wir gerade in Fernost, wo die Konsumzurückhaltung der Chinesen sich negativ auf international operierende Konzerne wie VW, Audi und Siemens auswirkt. Die eigene Anfälligkeit ist in dieser Hinsicht keine Machtbasis. Was aber dann?
Statt mit der Strahlkraft weicher Werte aufzutrumpfen, wie Baerbock es mit dem Schlagwort einer „feministischen Außenpolitik“ tat, braucht es entspannten Pragmatismus, der sich aus technologischem Know-how ergibt. Auf deutsche Spitzentechnologie wird der Teil der Welt angewiesen bleiben, der in Produktivität überlegen sein will. Das muss sich nicht in außenpolitischem Provinzialismus niederschlagen, der nur noch tut, was er tun muss, oder sich in „Sonderwege“ verrennt. Sich als Ruhepol in einer zunehmend chaotischen multipolaren Ordnung zu verstehen, setzt Prioritäten neu.
Sich selbst als Schutzmacht ansehen
Denn längst haben wir das Monopol auf die „German Angst“ an Staaten verloren, die viel direkter russischer Einflussnahme ausgesetzt sind. Ganz einig wird man sich mit Ländern der Nato-Ostflanke auf Gebieten wie Erinnerungskultur, Migration, Schuldenpolitik und sozialen Standards nicht werden. Aber wäre das so wichtig?

© dpa/Kay Nietfeld
Wenn man bedenkt, dass die deutschen Außengrenzen erst seit 35 Jahren unumstritten sind, die leidige „deutsche Frage“ seit einer Generation nicht mehr diskutiert wird, ist es Zeit, den geopolitischen Tatsachen ins Gesicht zu sehen, dass Deutschland nur ein Riese in der Mitte sein kann. Damit sollten die „Orientierungsschwierigkeiten“ ausgeräumt sein, mit denen sich Deutschland seit der Staatsgründung 1871 herumgeschlagen und die es nie befriedigend gelöst hat. Immer fühlte man sich bedrängt, gehemmt, zur Notwehr gezwungen.
Die Länder des europäischen Ostgürtels haben da ganz andere Sorgen. Die Botschaft an sie muss jetzt lauten: Wir verstehen euch, was braucht ihr? Egal, was ihr tut, wir halten euch den Rücken frei. Nichts anderes hat der polnische Ministerpräsident Donald Tusk Anfang März erwartet, als er bemängelte, dass 500 Millionen Europäer von 300 Millionen Amerikanern verlangten, sie vor 140 Millionen Russen zu schützen.
Tusks Appell an die europäischen Kollegen lautete, sich selbst als Schutzmacht anzusehen, auch wenn die russische Produktion von Artilleriemunition dreimal so hoch ist (drei Millionen Stück pro Jahr) wie die des Westens (1,2 Millionen Stück).
Landesverteidigung „spektakulär ineffektiv“
Bisher haben die Nato-Staaten sehr unterschiedlich auf dieses Gefälle reagiert. Die meisten waren zum Zeitpunkt der russischen Krim-Annexion 2014 damit beschäftigt, die eigenen Militärausgaben herunterzufahren, die in Auslandseinsätzen verpulvert wurden. In den folgenden acht Jahren stiegen sie im Ostgürtel des Bündnisses durchschnittlich um 77 Prozent, was mehr als das Fünffache des europäischen Mittelwerts darstellt.
Nach der Vollinvasion explodierten die Zahlen in den an Russland grenzenden Ländern. In Polen verdoppelten sich die Rüstungsausgaben innerhalb eines Jahres, in den baltischen Staaten stiegen sie um bis zu 46 Prozent, in Finnland sogar um annähernd 60 Prozent.
Im Vergleich dazu: Deutschland erhöhte sein Militärbudget nach der Kriegserweiterung 2022 durch Ukraine-Hilfen um 20 Prozent, ist aber nach Einschätzung des Militärhistorikers Sören Neitzel auf dem Gebiet der Landesverteidigung „spektakulär ineffektiv“. Was bedeutet: Im Moment ist alles, was Deutschland seinen Nachbarn anbieten kann, bloß guter Wille.
Um ein stabilisierender Faktor zu sein, bräuchte es zunächst erst einmal stabile Brücken und Verkehrswege für umfangreiche logistische Operationen. Erst jetzt, da die künftige Regierung beginnt, Infrastruktur und Verteidigung zusammenzudenken, wird das Geld organisiert, um nicht zur Achillesferse der Bündnispartner zu werden.
Das ist die einzige „Brückenfunktion“, die sich aus Deutschlands geostrategischer Lage ableitet. Es muss seine historisch begründete Reserviertheit als stilles Zentrum neu finden. Es wäre der Schritt, den wir als selbstbewusste europäische Mittelmacht gedanklich noch gehen müssen.
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