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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Erdbebengebiet.

© AFP/Adem Altan

Zynisches Kalkül statt Mitgefühl: Erdoğan und Assad nutzen das Erdbeben zum Schlag gegen Feinde

Die Katastrophenhilfe nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien bringt Gegner einander näher. Mancherorts wird sie jedoch als Waffe gegen innere Feinde missbraucht

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Mitgefühl gehört zur menschlichen Natur. Unverschuldetes Leid öffnet die Herzen. Nur eine Minderheit von Zynikern und Sadisten verschließt sich dem Wunsch, zu helfen. Sie überlegen stattdessen, wie sie die Notlage für ihre Interessen nutzen.

So ist das auch im internationalen Miteinander angesichts des katastrophalen Erdbebens in der Türkei und Syrien. Staaten, die diese beiden Länder gewöhnlich als gefährliche Gegner betrachten, bieten Unterstützung an. Griechenland hilft der Türkei, Israel den syrischen Nachbarn.

Das Disaster wird als Chance für die Diplomatie genutzt. In extremen Fällen knüpfen sich daran Hoffnungen, Feindbilder langfristig aufzubrechen.

Syriens Präsident blockiert humanitäre Hilfe

Deutsche und Türken begreifen sich nicht als Feinde. Aber auch ihre Beziehungen sind aufgeladen durch wechselseitige Enttäuschungen – und Präsident Erdoğans Taktik, mit antideutschen Ressentiments im Wahlkampf zu punkten. Bundeskanzler Scholz telefoniert mit ihm, um im Namen von Millionen Deutschen das Beileid auszudrücken.

Auch international kontrastiert das weit verbreitete Mitgefühl jedoch mit einem Blick in menschliche Abgründe. Syriens Präsident Baschar Assad blockiert Hilfe für die Opfer in der Provinz Idlib. Denn die ist zum Großteil das Territorium der Opposition, die gegen seine autoritäre Herrschaft aufbegehrt.

Er verweigert sich damit nicht nur einem Grundprinzip menschlicher Empathie: Angesichts einer humanitären Katastrophe sollen politische Meinungsverschiedenheiten ruhen. Er nutzt das Disaster, um mit der Not seiner Gegner zu pokern. Hilfe für sie will er nur ins Land lassen, wenn dafür Sanktionen gegen sein mörderisches Regime gelockert werden.

Erdogan setzt Luftangriffe auf Kurden fort

Ähnlich zynisch kalkuliert Erdoğan. Er setzt die Luftangriffe auf die Kurdengebiete in Nordsyrien fort, die manchen seiner innertürkischen Gegner als Rückzugsgebiete dienen. Dort haben Opfer aus den Erdbebengebieten Zuflucht gesucht. Ihre Not wird durch die Luftangriffe verdoppelt.

Das stellt den Westen vor ein moralisches Dilemma und zeigt Grenzen unbedingter Hilfsbereitschaft auf. Wer Assad und Erdoğan gewähren lässt, ja gar noch auf ihre zynischen Bedingungen für Hilfe eingeht, läuft Gefahr, sich zum Komplizen zu machen.

Andererseits: Darf man Notleidenden lebensrettende Hilfe, die möglich wäre, verweigern, weil einem die politischen Bedingungen nicht passen?

Man möchte hoffen, dass Hilfsorganisationen darum ringen, sich nicht erpressbar zu machen. Und dass Kanzler Scholz Präsident Erdoğan auffordert, die Luftangriffe inmitten einer Katastrophe einzustellen.

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