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Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) kommt zu der ersten Arbeitssitzung beim EU-Gipfel.

© dpa/Michael Kappeler

Update

Historischer EU-Gipfel in Brüssel läuft: Bewegung in den Verhandlungen – Merz will auch russisches Vermögen in Deutschland nutzen

In Brüssel entscheiden die EU-Staatschefs über den Umgang mit eingefrorenen russischen Geldern. Europa droht eine Zerreißprobe – und ein Verhandlungsmarathon.

Stand:

In Brüssel hat am Donnerstagmittag ein wahrscheinlich historischer EU-Gipfel begonnen. In den nächsten Stunden und vielleicht Tagen ringen die Mitgliedstaaten um eine gemeinsame Linie zur Finanzierung der Ukraine und damit, wie viele Beobachter sagen, auch um die unmittelbare Zukunft des angegriffenen Landes.

Zu Beginn gab es gleich eine Planänderung: Die Debatte um die russischen Vermögen wurde auf den Nachmittag verschoben, weil parallel die Unterhändler noch über Details brüteten.

In deutschen Regierungskreisen wird dies als ermutigend bewertet, da man so mehr Zeit für Gespräche etwa mit der belgischen Regierung gewinne. „Es gibt Bewegung, es geht auch in die richtige Richtung. Aber wir sind noch nicht da“, heißt es in Brüssel.

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist für den Gipfel nach Brüssel gekommen, um die europäische Unterstützung zu sichern und die Freigabe der Gelder voranzutreiben. Er traf am Vormittag den belgischen Premier Bart de Wever. Ob das Gespräch erfolgreich war, konnte Selenskyj danach allerdings nicht sagen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf eine schnelle Entscheidung in Brüssel.

© dpa/Michael Kappeler

Optimistischer klingt dagegen Donald Tusk. Er erklärte, dass die EU-Staats- und Regierungschefs sich am frühen Nachmittag grundsätzlich darauf verständigten, eingefrorene russische Vermögenswerte zur Finanzierung der Ukraine einzusetzen. Aber: Obwohl es eine breite Übereinstimmung zum Grundsatz gebe, seien viele technische Fragen noch ungeklärt.

Laut Tusk kämpfen einige Mitgliedstaaten darum, umfassende Garantien gegen mögliche Schäden zu erhalten. Die Gespräche hätten sich inzwischen von der Debatte über Alternativen hin zur Ausarbeitung eines Mechanismus verlagert, der auf russischen Vermögenswerten basiert.

Polens Ministerpräsident Donald Tusk mit dem belgischen Premier Bart De Wever.

© IMAGO/Anadolu Agency/IMAGO/Dursun Aydemir

Ziel sei es, einen Reparationskredit einzurichten, der durch diese Vermögenswerte gedeckt ist. „Der Teufel steckt im Detail“, sagte Tusk – doch alle seien sich einig, dass Europa einen Weg finden müsse, die Mittel zugunsten der Ukraine zu nutzen.

Merz kommt Belgien entgegen

Bundeskanzler Friedrich Merz will den Forderungen Belgiens nachkommen und ist laut „dpa“ bereit, auch in Deutschland eingefrorene Vermögen der russischen Zentralbank für die Ukraine bereitzustellen. Diese Gelder helfen, der Ukraine in den kommenden zwei Jahren Darlehen von bis zu 90 Milliarden Euro zu ermöglichen; langfristig könnten es sogar bis zu 210 Milliarden Euro werden.

Russland soll das Geld nur dann zurückerhalten, wenn es nach Kriegsende Reparationsleistungen erbringt. Deutschland hatte zuvor argumentiert, dass vorrangig die 185 Milliarden Euro genutzt werden sollten, die das belgische Unternehmen Euroclear verwaltet, da in Deutschland lediglich ein niedriger dreistelliger Millionenbetrag verfügbar sei.

Wie viel russisches Zentralbankgeld genau in Deutschland liegt, hält die Bundesregierung bislang geheim. Öffentlich kommuniziert wurde zuletzt nur, dass im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine insgesamt Vermögenswerte in Höhe von rund 3,5 Milliarden Euro eingefroren oder immobilisiert wurden.

Hintergrund zum EU-Gipfel Das sind die Gründe, warum es so kompliziert ist

Eine Gruppe EU-Staaten (darunter Deutschland, Frankreich und die osteuropäischen Länder) planen, die rund 210 Milliarden Euro eingefrorener russischer Staatsvermögen langfristig zu blockieren und sie in einen Kredit von etwa 90 Milliarden Euro für die Ukraine umzuwandeln. Belgien ist strikt dagegen, auch Italien, Österreich, Bulgarien, Malta, Ungarn und die Slowakei blockieren.

Belgien treibt vor allem die Sorge vor Vergeltungsmaßnahmen um. Laut „Financial Times“ warnt Moskau vor den „härtesten“ Gegenmaßnahmen, falls die Vermögen eingefroren werden, und erwägt sogar die umfassende Beschlagnahmung westlicher Vermögenswerte im Land. Das fürchten etwa Österreich, deren Unternehmen immer noch in Russland engagiert sind. Auch soll es Drohungen gegen belgische Beamte und Politiker gegeben haben.

Belgien spielt in der Entscheidung eine Schlüsselrolle, da mit 185 Milliarden der Großteil der eingefrorenen Gelder bei Euroclear in Brüssel liegt. Weitere rund 25 Milliarden Euro liegen bei anderen Finanzinstituten in Frankreich, Belgien, Deutschland, Zypern, Schweden und Luxemburg.

Belgien und Italien befürworten deshalb eine Finanzierung der Ukraine über gemeinsame Schulden. In Berlin ein No-Go. Ungarn und die Slowakei wollen gar kein Geld mehr in Richtung Kiew schicken. Kurz vor dem Gipfel zeigte sich Belgien aber kompromissbereit.

Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever.

© REUTERS/YVES HERMAN

Kurz vor der Abreise zum EU-Gipfel erklärte er, dass Belgien die Idee des Reparationsdarlehens nicht möge, aber wenn die Risiken geteilt werden und Belgien geschützt ist, „dann springen wir alle gemeinsam mit allen Europäern von dieser Klippe und hoffen, dass der Fallschirm uns auffängt“.

Viel Sprengstoff für die Verhandlungen also. Das Nachrichtenmagazin „Politico“ erwartet deshalb auch in den nächsten Stunden einen „Politthriller“ in Brüssel.

Putin sitzt indirekt mit am Verhandlungstisch Womit Russland droht

Russland bereitet laut „Financial Times“ regulatorische Schritte vor, die Enteignungen westlicher Firmen erleichtern sollen. Ein neues Putin‑Dekret könnte Verstaatlichungen beschleunigen. Außerdem liegen bereits hohe Summen westlicher Vermögenswerte auf sogenannten Typ‑C‑Konten, die der Kreml kontrolliert und im Ernstfall in den Staatshaushalt überführen könnte.

Parallel versuchen russische Behörden und Oligarchen, international gegen das Einfrieren ihrer Vermögen zu klagen, um Druck aufzubauen. EU‑Juristen sehen geringe Erfolgschancen, doch Länder wie Belgien befürchten hohe Risiken.

11 Stunden Sitzungsmarathon Wie Belgien kurz vor dem Gipfel noch überzeugt werden sollte

Vor dem Gipfel berieten Verhandlungsteams aus den EU-Staaten elf Stunden über einen Weg, Belgien zur Zustimmung zu bewegen. Laut einem von „Politico“ zitierten Änderungsentwurf sollen zunächst ungenutzte Mittel aus einem EU-Darlehen als erste Absicherung dienen. Da die EU plant, der Ukraine in den nächsten zwei Jahren 90 Milliarden Euro bereitzustellen, stünde ein finanzieller Puffer für mögliche Entschädigungen bereit. Reichten diese Mittel nicht aus, könnte Belgien zusätzlich auf Garantien anderer EU-Staaten zurückgreifen.

Ein mit den Gesprächen vertrauter Beamter betonte gegenüber „Politico“, der neue Entwurf sichere Belgien „beispiellos“ ab und zeige, dass die EU das Risiko gemeinsam trage.

Drohung mit Endlosverhandlungen Was die Beteiligten vor dem Gipfel sagten

Wie schwierig die Verhandlungen werden könnten, zeigen die Aussagen der EU-Spitzen kurz vor dem Gipfel. „Wir werden den Europäischen Rat nicht verlassen, ohne eine Lösung für die Finanzierung der Ukraine für die nächsten zwei Jahre gefunden zu haben“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor Beginn der Beratungen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

© IMAGO/Anadolu Agency/IMAGO/Dursun Aydemir

Sie schloss sich damit den Worten von EU-Ratspräsident António Costa an. Dieser leitet die Sitzungen und bereitet sie inhaltlich vor. „Ich kann Ihnen versichern, dass wir heute und, falls erforderlich, auch morgen daran arbeiten werden. Aber wir werden diesen Rat niemals ohne eine endgültige Entscheidung verlassen, um den Finanzbedarf der Ukraine für 2026 und 2027 sicherzustellen“, sagte er gegenüber Reportern.

Die EU-Außenbeauftragte Katja Kallas erklärte, Belgien müsse der Verwendung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte zur Finanzierung der Ukraine zustimmen, sonst scheitere der ganze Plan. Auch andere EU-Mitgliedstaaten hatten erklärt, sie würden dem Plan nur zustimmen, wenn Belgien dies ebenfalls tue.

Auch Polens Regierungschef Donald Tusk fand am Donnerstagmorgen deutliche Worte: „Jetzt haben wir eine einfache Wahl: Entweder heute Geld oder morgen Blut“, sagte Tusk vor Beginn der Beratungen der europäischen Staats- und Regierungschefs. 

Er meine damit nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa. „Diese Entscheidung müssen wir treffen, und nur wir allein.“ Alle europäischen Staats- und Regierungschefs müssten sich endlich dieser Herausforderung stellen. 

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) bezeichnete die Nutzung der eingefrorenen Vermögen als „einzige Option“. Neue Schulden lehnt er entschieden ab. Zugleich zeigte er Verständnis für die Bedenken Belgiens, äußerte aber Zuversicht: „Ich hoffe, dass wir sie gemeinsam ausräumen können. Mein Eindruck ist, dass wir zu einem Ergebnis kommen können.“

Der französische Präsident Emmanuel Macron betonte auf dem Weg zum Gipfeltreffen die Bedeutung der Zusammenarbeit bei der Unterstützung der Ukraine in ihrem Krieg. „Das Wichtigste ist, dass wir alle dasselbe Ziel verfolgen: der Ukraine zu helfen, ihren Krieg zu finanzieren und Widerstand zu leisten. Und gemeinsam werden wir Erfolg haben“, sagte Macron.

„Wir dürfen uns nicht über technische Details uneinig sein. Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam mit unserem belgischen Kollegen und allen unseren Kollegen den richtigen Weg finden werden“, fügte er hinzu. (mit Agenturen)

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