zum Hauptinhalt
US-Präsident Joe Biden und sein ukrainischer Kollege Wolodymyr Selenskyj auf dem Platz vor der St.-Michael-Kathedrale in Kiew.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Joe Biden zu Gast in Kiew: Vier Lehren aus dem Überraschungsbesuch in der Ukraine

Die Reise zeigt: Die USA stellen sich auf einen langen Krieg ein. Der Brennpunkt ihrer Europapolitik verschiebt sich nach Osten. Und es droht eine Lagerbildung China-Russland.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Bilder sind ein starkes Signal: US-Präsident Joe Biden Schulter an Schulter mit dem ukrainischen Staatsoberhaupt Wolodymyr Selenskyj in Kiew unter einem sonnig-blauen Winterhimmel. Der Gast aus den USA kündigt noch mehr Militärhilfe an.

Warum hat der 80-jährige Biden die strapaziöse Reise via Polen auf sich genommen? Offiziell sollte er erst am Dienstag in Warschau eintreffen für die angekündigte strategische Rede zum Ukrainekrieg ein Jahr nach dem russischen Angriff.

Die Umstände zeigen: Die USA stellen sich, erstens, auf einen langen Krieg ein. Wenn Biden Chancen für eine Verhandlungslösung in den nächsten Monaten sähe, wäre er die Sicherheitsrisiken des Abstechers nach Kiew nicht eingegangen. Die sind beträchtlich.

Berlin und Paris fehlen auf Bidens Reiseroute

Bidens Botschaft: Wladimir Putin wird die besetzten Gebiete nicht freiwillig herausrücken. Die Ukraine wird sie militärisch zurückgewinnen müssen, wenn sie nicht bereit ist, eine Verkleinerung ihres Territoriums hinzunehmen. Dabei hat sie den Westen und dessen Führungsmacht langfristig verlässlich auf ihrer Seite.

Zweitens unterstreicht die Reise mit dem Doppelziel Kiew/Warschau: Der Brennpunkt der amerikanischen Europapolitik hat sich von Westen nach Osten verschoben. Inwieweit der russische Ehrgeiz, das verlorene Imperium wiederherzustellen, Erfolg haben kann und wo künftig die Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit verläuft, hängt von der Entschlossenheit des Westens ab.

Dabei gewinnen die östlichen Nato-Partner in amerikanischen Augen ein größeres Gewicht, als sie im gängigen Weltbild der Westeuropäer haben. Biden hält die große Rede zum Krieg in Warschau. Er trifft sich dort mit den Präsidenten der „Bukarest Neun“ (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Tschechien und Ungarn). Berlin, Paris oder London stehen nicht auf seiner Reiseroute.

Verpasste Chance: Scholz und Macron sind in Warschau nicht dabei

Der freie Teil der Ukraine hat die Rolle und die Aura übernommen, die Westberlin im Kalten Krieg hatte. Die östlichen Alliierten sind jetzt die Frontstaaten des Westens. Ihre Sicherheit kann weder die EU noch Westeuropa allein garantieren. Diese Völker setzen ihr Vertrauen in die USA.

Und doch wäre es vielleicht ein noch stärkeres Signal der Einheit und Einigkeit gegen Putins Aggression gewesen, wenn Biden und Polens Regierung Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron eingeladen hätten, in Warschau dabei zu sein. Haben die innenpolitischen Interessen der Regierungspartei PiS das verhindert? Sie will die nahe Wahl mit antideutschen Tönen gewinnen.

Drittens lehrt Bidens Überraschungsbesuch in Kiew, dass er die Unterstützung der Ukraine gegen Russland nicht für ein riskantes innenpolitisches Thema im heraufziehenden Präsidentschaftswahlkampf 2024 hält. Sondern für eines, mit dem er punkten kann.

Die Republikaner sind gespalten zwischen den Isolationisten um Donald Trump, die weniger tun wollen, und den klassischen Falken, die eine noch entschlossenere militärische Hilfe fordern. Biden setzt sich in Kiew als Präsident in Szene, der Entschlossenheit mit Übersicht verbindet.

Gefahr der Lagerbildung China-Russland

Die vierte Lehre betrifft die geopolitischen Folgen der Ukrainehilfe. Die sind zwiespältig. Die USA und der gesamte Westen würden ihre Werte verraten, wenn sie den Ukrainern in ihrem Überlebenskampf nicht beistehen. Zugleich wollen sie nicht dazu beitragen, dass China seine geostrategischen Interessen im Bündnis mit Russland sieht.

US-Außenminister Tony Blinken warnt vor chinesischen Waffenlieferungen an Moskau. Peking muss im Lager der mehr oder minder Neutralen gehalten werden, auch im Interesse der Ukraine.

Diese Rückwirkungen sollte eine weitsichtige Außenpolitik der USA wie Europas mit bedenken. Der politische Systemgegensatz und die ökonomische Rivalität mit China sind die große Auseinandersetzung der Zukunft.

In Relation dazu ist der Ukrainekrieg ein zweitrangiger Regionalkonflikt. Der Westen muss eine kluge Balance halten, um das Nötige für die Ukraine zu tun, ohne sich dort so zu verausgaben, dass ihm die Kraft für die größere Herausforderung fehlt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false