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Rechtsprofessor Alain Pellet, der Palästina juristisch berät, im Saal des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.

© IMAGO/ZUMA Press Wire/IMAGO/James Petermeier

Muss Israel humanitäre Hilfe in Gaza zulassen?: Vor Gericht wird Israel an seine Pflichten erinnert

40 Staaten wurden vor dem Internationalen Gerichtshof gehört. Die USA und Ungarn stützen Israels Argumente für den Stopp aller Hilfe. Die meisten Nationen sehen Verstöße gegen internationales Recht.

Stand:

Seit zwei Monaten blockiert Israel jede humanitäre Hilfe für die zwei Millionen Menschen, die im Gazastreifen eingeschlossen sind und bombardiert werden. Hilfsorganisationen haben keine Vorräte mehr. Ärzte ohne Grenzen nennen Gaza ein „Massengrab für Palästinenser“.

Israel will das nicht ändern, bekennt sich zu dieser Politik. „Niemand plant derzeit, irgendwelche humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen, und es gibt keine Vorbereitungen, solche Hilfe zu ermöglichen“, sagte Verteidigungsminister Israel Katz am 16. April.

Die Blockade sei ein wichtiges Druckmittel im Kampf gegen die Hamas. Hilfsorganisationen zufolge hat sich an dieser Haltung seitdem nichts verändert.

Abgesehen von der moralischen und politischen Ebene gibt es noch das humanitäre Völkerrecht, das auch einer Besatzungsmacht Regeln auferlegt, sowie die Rechte und Verpflichtungen durch eine UN-Mitgliedschaft.

UN erinnern Israel an seine Mitgliedspflichten

Ob Israel gegen die unterschiedlichen Regelwerke verstößt, soll nun das oberste UN-Gericht, der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, klären. Dabei geht es auch um den Respekt und die Relevanz der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen.

Daher eröffneten die UN selbst die Reihe an Stellungnahmen von etwa 40 Ländern und drei internationalen Staatenorganisationen, die diese Woche vor Gericht ihre Auslegung des internationalen Rechts dargelegt haben. Sie sollen den 15 Richtern als Grundlage für ein Rechtsgutachten dienen.

Die UN-Vertreter warfen Israel nicht nur vor, mit dem absichtlichen Vorenthalten humanitärer Hilfe gegen Völkerrecht, internationales humanitäres Recht sowie Menschenrechte zu verstoßen. Unterstaatssekretärin Elinor Hammarskjöld machte außerdem deutlich, dass es in diesem Verfahren auch um den Respekt der Vereinten Nationen und ihrer weltweiten Arbeit gehe.

Dafür sei es „entscheidend“, die aus einer UN-Mitgliedschaft folgenden juristischen Pflichten und Rechte zu klären. Hammarskjöld erinnerte daran, dass die israelische Armee seit Kriegsbeginn 2023 in Gaza 295 UN-Mitarbeiter getötet habe. Andere Angestellte wurden festgenommen und der UN zufolge misshandelt.

Elinor Hammarskjold, Leiterin des UN-Rechtsteams, hat als Erste bei den Anhörungen gesprochen.

© dpa/Peter Dejong

Das sei nicht mit den Verpflichtungen Israels als UN-Mitgliedsstaat zu vereinbaren, sagte Hammarskjöld. Schutz und Immunität von Mitarbeitern sowie Einrichtungen seien die Grundlage „der Arbeit“ der Organisation.

Israel lehnt Auftritt vor Gericht ab

In ihren Plädoyers legten die Juristen vieler Staaten dar, warum Israel laut Genfer Konvention und Menschenrechtskonventionen verpflichtet ist, der Zivilbevölkerung in Gaza ungehinderten Zugang zu Nahrung, Wasser, Unterkunft, zu angemessener Hygiene und Krankenversorgung zu gewähren, die zum Überleben notwendig sind.

Israel hatte es abgelehnt, vor Gericht aufzutreten. Außenminister Gideon Sa’ar hatte die Anhörungen als „Zirkus“ und Teil einer „systematischen Verfolgung und Delegitimierung Israels“ bezeichnet.

Dazu werde internationales Recht „als Waffe eingesetzt“. „Nicht Israel sollte vor Gericht stehen, sondern die UN und UNWRA (das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge).“

USA verteidigen Israels Position

Doch Israel boykottiert das Verfahren nicht vollständig, sondern hat im Vorfeld eine 38-seitige schriftliche Stellungnahme abgegeben.

Darin hat es mit seinen Sicherheitsinteressen und seinem Recht zur Selbstverteidigung begründet, dass es auch als Besatzungsmacht keine „absolute und bedingungslose“ Verpflichtung habe, die Versorgung der unter seiner Kontrolle stehenden Bevölkerung zu gewährleisten.

Andrang an einer Essensausgabe in Gaza.

© imago/UPI Photo/IMAGO/Anas Deeb

Die Arbeit des UN-Flüchtlingswerks für die Palästinenser (UNRWA) sei beendet worden, weil dieses nicht unparteiisch sei und in dessen Reihen auch Mitglieder der Terrororganisation Hamas arbeiteten. Israel hatte erklärt, dass 19 Mitarbeiter an den Massakern der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel mit etwa 1200 Toten beteiligt gewesen sein sollen.

Im Gerichtssaal haben die USA und Ungarn die Verteidigung Israels übernommen. Der US-Vertreter, Joshua Simmons, führte aus, dass die Berücksichtigung „der Umstände des Augenblicks“ sehr wohl Einschränkungen der in der Genfer Konvention vorgeschriebenen Hilfsleistungen erlaubten.

Auch gebe es keine spezifische Klausel, die besage, dass eine bestimmte Organisation, in diesem Falle UNRWA, diese Hilfe ausführen müsse.

Frankreich widerspricht

Dagegen argumentierte der Vertreter Frankreichs, dass Israels möglicher Entscheidungsspielraum darüber, wer Hilfe leisten dürfe, angesichts der Umstände „reduziert“ sei: Es gebe derzeit keine andere Organisation, die dazu in der Lage sei.

Daher müsse Israel der UNWRA die Fortsetzung der Arbeit erlauben, „solange diese Lage andauert“. Israels Rechte könnten nicht dazu führen, „dass es absolut keinerlei Hilfe gibt“.

Die UN-Organisation UNRWA war in Gaza auch für das Bildungssystem zuständig und erfüllte quasi staatliche Aufgaben.

© AFP/OMAR AL-QATTAA

Paris argumentiert aber auch, dass Israel zwar nach bestimmten Verfahren der Streitschlichtung das Recht habe, die Zusammenarbeit mit einer UN-Unterorganisation auf seinem eigenen Staatsterritorium zu beenden; allerdings habe es als Besatzungsmacht nicht die Souveränität, dies auch für die palästinensischen Gebiete zu entscheiden.

UN-Mitarbeiter und Waren könnten aber nur über israelisches Territorium in die Enklave Gaza gelangen, da es alle Zugänge dorthin kontrolliere.

Die Totalblockade eines besetzten Gebietes ist eindeutig völkerrechtswidrig.

Kai Ambos, Straf- und Völkerrechtler

Der Göttinger Straf- und Völkerrechtler Kai Ambos stellt fest, dass Israel nicht auf die Tatsache eingegangen ist, dass es seit zwei Monaten Gaza komplett von Hilfsleistungen abgeschnitten hat.

„Die Totalblockade eines besetzten Gebietes ist eindeutig völkerrechtswidrig.“ Sie richte sich unterschiedslos gegen die gesamte Bevölkerung und „verkehrt damit die humanitäre Schutzpflicht der Besatzungsmacht in ihr Gegenteil“. Außerdem könne sie gegen das Verbot des Aushungerns der Zivilbevölkerung verstoßen, was ein Kriegsverbrechen darstellt.

Das Thema UNRWA sei komplex, sagt Ambos dem Tagesspiegel. Er verweist darauf, dass die Vorwürfe Israels sich gegen 19 Personen von insgesamt 17.000 Mitarbeitern in den Palästinensergebieten richteten.

Von einer Unterwanderung könne daher seiner Meinung nach nicht gesprochen werden. Die UN-Vertreterin hatte in ihrem Plädoyer Israel vorgeworfen, dass es noch immer keine Beweise für seine Anschuldigungen vorgelegt habe.

Vor allem aber sagt Ambos: „Tatsächlich ist die UNWRA derzeit unentbehrlich.“ Diese Einschätzung verträten auch Staaten wie Kolumbien oder China sowie Hilfsorganisationen vor Ort. „Eine völlige Blockade der Organisation ist deshalb unverhältnismäßig.“

Für die Vereinten Nationen ist es essenziell, dass Klarheit über die Pflichten der Mitgliedstaaten im Hinblick auf humanitäre Hilfeleistungen der UN herrscht.

Matthias Goldmann, Völkerrechtler

Der Völkerrechtler Matthias Goldmann verweist ebenfalls auf das humanitäre Völkerrecht, das Israel verpflichte, die Versorgung der Bevölkerung eines besetzten Gebiets sicherzustellen. „Das gilt auch und erst recht dann, wenn das Gebiet illegal besetzt ist wie das palästinensische Gebiet“, sagt er dem Tagesspiegel.

Und Goldmann unterstreicht, dass diese Pflichten auch im Krieg gelten. „Kriegshandlungen können sogar illegal sein, wenn sie die Versorgung unverhältnismäßig beeinträchtigen.“


Israel und Ungarn hatten auch argumentiert, dass der Internationale Gerichtshof kein Rechtsgutachten erstellen dürfe, weil er sich nicht von der Lage vor Ort überzeugen könne; und weil er damit dem Urteil in dem Verfahren Südafrika gegen Israel vorgreifen würde, in dem geprüft wird, ob Israels Politik in Gaza gegen die Völkermordkonvention verstößt.

Dazu sagt Goldmann, dass die Frage der Hilfslieferungen in der Tat eine entscheidende Rolle in dem von Südafrika angestrengten Verfahren spielen könne. „Allerdings ist es für die Vereinten Nationen geradezu essenziell, dass Klarheit über die Pflichten der Mitgliedstaaten im Hinblick auf humanitäre Hilfeleistungen der UN herrscht.“

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