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Kann Europa für die USA einspringen?

© Gestaltung: Tagesspiegel/ Seuffert/Getty/ Xia Yuan

Pro und Contra: Kann Europa die Ukraine alleine militärisch unterstützen – oder geht ohne die USA nichts?

Donald Trump ist kein Partner, die Ukraine steht allein da, Europa findet sich neu. Kann die Rolle der USA ersetzt werden? Ein Pro & Contra.

Stand:

PRO VON STEPHAN-ANDREAS CASDORFF

Es ist ja wahr, was der polnische Ministerpräsident Donald Tusk gefragt hat: „Was ist das eigentlich für eine komische Situation? 500 Millionen Europäer bitten 300 Millionen Amerikaner, sie vor 144 Millionen Russen zu schützen!“

Das ist die Wirklichkeit, und sie hält den Gegebenheiten nicht stand. Den Erfordernissen auch nicht.

Erforderlich ist jetzt, im Sinne der Wahrung aller Werte Verantwortung zu übernehmen, in Europa, in Deutschland. Das ist geradezu historisch. So lange haben wir uns darauf verlassen können, dass die Amerikaner an unserer Seite stehen, komme, was wolle. Dass sie einen Großteil der Arbeit – nennen wir sie Friedensarbeit – in Europa übernehmen würden. Und sei es nötigenfalls kriegerisch.

Das ist vorbei und kommt auch, wenn überhaupt, so schnell nicht wieder. Nach der Regierung Trump könnte es eine mit J. D. Vance an der Spitze geben, und die wäre eher noch härter. Wie Trump und besonders Vance den ukrainischen Präsidenten auf offener Bühne gedemütigt haben, das war nur ein Vorgeschmack.

Kein Abkommen: Ein Mitarbeit entfernt die Stühle vom Unterzeichnungstisch im Weißen Haus am vergangenen Freitag, nachdem nachdem das Treffen zwischen US-Präsident Trump und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Oval Office abgebrochen worden war.

© dpa/Carol Guzy

Darum ist es richtig und wichtig, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jetzt ein europäisches Wiederaufrüstungsprogramm forciert und Schwarz-Rot eine enorme nationale Anstrengung diskutiert. Beides ist nötig, weil es um eine Zurüstung für die Erhaltung der Demokratie geht. So weit ist es schon. So groß ist die Herausforderung. Der müssen alle Beteiligten auf europäischer wie, nicht zuletzt, auf nationaler Ebene gerecht werden.

Die Zurüstung wird Zumutungen nach sich ziehen, und keine kleinen. In Deutschland bedeutet das, dass Union und SPD weit über den Rahmen ihrer Parteiprogramme hinausgehen müssen. Spiegelstrich-Politik hat ausgedient. Die kommende Regierung darf bei dieser historischen Aufgabe nicht versagen.

Es ist viel zu tun. Gebildet werden muss – endlich – eine europäische Verteidigungsunion, mit Polen, Frankreich, Deutschland, Italien und den baltischen Staaten. Europa muss zeigen, dass es anders kann, wenn es will. Das beginnt in der Ukraine und endet dort nicht.

Gerade weil die Machtzentren auf der Welt sich verschieben, muss Europa eines von ihnen sein, neben den USA, China, Russland und Indien, aber eigenständig.

Bye-bye USA? Selenskyj verlässt das Gelände des Weißen Hauses.

© imago/MediaPunch/IMAGO/CNP / MediaPunch

Herfried Münkler, Professor Emeritus mit vielen Meriten in der Konfliktforschung, sagt es schon lange: Auch die EU wird nur Bestand haben, wenn sie geopolitisch wird, nicht bürokratisch bleibt. Wenn sie sich grundstürzend, grundlegend erneuert.

Mehrstimmig, aber einmütig, mit mehr Macht, auch militärischer. Mit einem eigenen Atomabwehrschirm der EU, nicht nur durch Frankreich oder ein wieder zurückgekehrtes Britannien. Die Auswirkungen auf die Nato sind unausweichlich. Denn es geht um eine Herrschaft des Respekts, des Anstands, der Würde, all dessen, was im Oval Office verloren ging.

Der scheidende Außenpolitiker Michael Roth sagte im Tagesspiegel: „Wer sich auf Trumps Amerika verlässt, der ist verlassen.“ Die Schuldenbremse darf keine Bremse der nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen sein. Ein historischer
Ausnahmezustand – das ist wahre Wirklichkeit. Sie erfordert Führung und Haltung. Kein autoritärer Präsident soll sich mit einem vermeintlichen Sieg brüsten dürfen.

(Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hatten wir Donald Tusk fälschlicherweise als „polnischen Staatspräsidenten“ bezeichnet. Er ist aber Polens Ministerpräsident. Das haben wir entsprechend korrigiert. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen!)

CONTRA VON MALTE LEHMING

In einem alten Lied der „Rolling Stones“ bewundert Mick Jagger eine Frau, weil sie „cool, calm and collected“ ist. Das lässt sich mit „kühl, ruhig und gelassen“ übersetzen. Europa ist derzeit das Gegenteil davon.

Seit dem Eklat im Weißen Haus, als Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj im Streit auseinandergingen, sind die Reaktionen überhitzt, die Stimmen laut, die Gemüter erregt. Doch Parolen sind kein Ersatz für Realitätssinn. Weder lassen sich – obwohl dringend geboten – eine neue europäische Einigkeit herbeizaubern, noch Jahr für Jahr dreistellige Milliardensummen.

Ein Europa, das die Ukraine fallen lässt, werde selbst fallen, heißt es. Dabei könnte auch eine andere Regel gelten: Ein Europa, das alleine versucht, die Ukraine zu retten, müsste am Ende selbst gerettet werden. Es ist höchste Zeit für eine Kaltwasserkur.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit dem britischen Premier Keir Starmer und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron beim Gipfel am vergangenen Sonntag in London.

© AFP/JUSTIN TALLIS

Sie beginnt mit einer Reihe von Einsichten. Erstens: Wladimir Putin wird seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine auf absehbare Zeit nicht verloren geben. Die Hoffnung, dass ihn ukrainischer Widerstandsgeist im Verbund mit westlicher Militärhilfe in die Knie zwingt, ist groß. Die Wahrscheinlichkeit klein.

Zweitens: Ohne Putin gibt es keinen Waffenstillstand oder gar ein Ende des Krieges. Er wird die Krim und weite Teile der Ostukraine behalten wollen und darauf beharren, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato wird. Die Machtverhältnisse begünstigen ihn.

Drittens: Wer das ablehnt – kein Appeasement, kein München 1938! –, hat zwar die Moral auf seiner Seite, setzt sich aber dem Verdacht aus, den Krieg ohne nennenswerte Erfolgsaussichten weiterführen zu wollen.

Viertens: Trump und Putin eint das Bestreben, bewundert, respektiert und gefürchtet zu werden. Sie genießen den Auftritt, die Bühne, das Scheinwerferlicht. Auf einem Gipfeltreffen, eins zu eins, werden sie jedweden Deal über die Ukraine vereinbaren wollen. Die Ukraine selbst und Europa werden höchstens im Vorfeld eingebunden oder im Nachhinein informiert.

Fünftens: Europa darf seine Kapazitäten nicht überschätzen. Es wäre kurzfristig nicht in der Lage, einen Ausfall der militärischen Ukraine-Hilfe der USA zu kompensieren. Deshalb sollte die EU diesen Eindruck auch nicht erwecken. Wer von einer Abnabelung Europas von den USA redet, liefert Trump einen zusätzlichen Vorwand, das Engagement seines Landes zurückzufahren.

Sechstens: Ohne amerikanische Sicherheitszusagen kann es keine Schutztruppe geben, die auf dem Boden der Ukraine einen möglichen Waffenstillstand effektiv überwacht. Das ist der Kernpunkt der Kontroverse. Trump meint, ein Abkommen über seltene Erden und andere Rohstoffe würde die USA ausreichend an die Ukraine binden. Selenskyj und seinen europäischen Verbündeten ist das zu wenig. Putin scheint grundsätzliche Vorbehalte gegen eine Schutztruppe zu haben.

Siebtens: Europa darf Trump weder verprellen noch aus der Verantwortung entlassen. Dem US-Präsidenten ist die Ukraine ziemlich egal. Ihm geht es in erster Linie darum, entweder ein Abkommen zu erzielen oder Schuldige zu benennen, wenn ein Abkommen platzt.

Ein Europa, das „cool, calm and collected“ auf Trump reagiert, kann der Sündenbockrolle am ehesten entgehen.

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