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Berlin-Comic „Super-GAU“ : Fragile Existenzen zwischen Fukushima und Kreuzberg
In „Super-GAU“ verknüpft Bea Davies Berliner Alltagsbeobachtungen mit Erinnerungen an die Katastrophe von 2011 zu einer nachdenklichen Betrachtung über das Leben.
Stand:
Ihre Wege kreuzen sich mehrfach, sie kommen sich im Berliner Alltag ganz nah. Und doch nehmen die Hauptfiguren in Bea Davies‘ Ensemble-Comic „Super-GAU“ einander im Getümmel der Großstadt lange Zeit kaum wahr und scheinen in verschiedenen Welten zu leben. Erst langsam wird klar, dass sie überraschend viel miteinander verbindet.
„Jeder ist ein Jemand mit einer Geschichte, die einzigartig ist. Und alles ist miteinander verbunden“, bringt der zum Philosophieren neigende Baustellen-Wächter Alp in einer Szene eine Essenz dieser Graphic Novel auf den Punkt. „Doch keiner sieht’s. Wir bröseln auseinander wie Sandkörner einer ausgetrockneten Sandburg“, stellt er beim Warten auf die U-Bahn am Bahnhof Kottbusser Tor fest.
Neben Alp sind es gut ein halbes Dutzend weitere Figuren, um die herum Davies in „Super-GAU“ eine komplexe Handlung geflochten hat. Einen übergeordneten dramaturgischen Rahmen gibt die Tsunami-Katastrophe von Fukushima am 11. März 2011 ab. An diesem Tag sowie kurz davor und danach spielt sich ein Großteil der Geschichte ab, zu Beginn und am Ende des Buches hat Davies zwei Szenen in Japan angesiedelt.

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Zentraler Schauplatz ist allerdings Berlin, genauer gesagt Kreuzberg. Hier verortet Davies eine bunt gemischte Ansammlung von Menschen, die den Herausforderungen des Lebens auf unterschiedliche Weise trotzen. Darunter eine junge Frau, deren Mutter sie früh verlassen hat und die in einer Notunterkunft für Obdachlose arbeitet, ein mit der Welt hadernder Schriftsteller, eine Sozialarbeiterin mit familiären Verbindungen nach Japan und eine alkoholabhängige Flaschensammlerin.
Einflüsse aus den USA und Japan
Nach und nach verknüpft die Autorin die Schicksale ihrer Figuren in realistisch gezeichneten Szenen in Schwarz, Weiß und Grau miteinander. Davies, die seit 2012 mit ihrer Familie in Berlin lebt, hat sich in den vergangenen Jahren bereits mit mehreren Veröffentlichungen als eine der handwerklich herausragenden Zeichnerinnen der deutschen Comicszene etabliert.
Ihr Werk umfasst unter anderem die historische Graphic Novel „Der König der Vagabunden“ (Szenario: Patrick Spät), den Evolutions-Sachcomic „Mensch!“ (mit Susan Schädlich und Michael Stang) sowie den auf einem gezeichneten Online-Tagebuch basierenden autobiografischen Comic „A Child’s Journey“ über ihre Erfahrungen als Mutter. Ihr fließender Strich und vor allem ihre prägnante Figurenzeichnung erinnern mit ihrer zarten und zugleich sehr dynamischen Linienführung an nordamerikanische Meisterzeichner wie Will Eisner und Craig Thompson, weisen aber auch auf europäische Vorbilder hin.

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Für ihr Buch „Super-GAU“, das mit einem Comicstipendium des Berliner Senats gefördert wurde, hat die Künstlerin ihr visuelles Repertoire nun noch einmal entscheidend erweitert. Neben westlichen Einflüssen lassen sich in ihren vorwiegend im Aquarell-Look geschaffenen Straßenszenen und vor allem in der Art, wie sie Gesichter zeichnet, stilistische Bezüge zu japanischen Manga-Meistern wie Inio Asano, Naoki Urasawa oder Jiro Taniguchi erkennen.

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Diese stilistische Mischung passt zum einen zum Rahmenthema von „Super-GAU“ und reflektiert zum anderen den multikulturellen Hintergrund mehrerer Figuren im Buch. Und auch den der Künstlerin: Davies kam 1990 in Italien als Kind einer italienischen Mutter und eines Vaters mit koreanischen und hawaiianischen Wurzeln zur Welt, wuchs in den USA, Südkorea und Italien auf, studierte Kunst in New York und zog nach der Geburt ihres Kindes mit ihrem Partner nach Berlin.
Von fernöstlichen Vorbildern inspiriert
Die künstlerische Verknüpfung unterschiedlicher globaler Einflüsse erinnert an einen anderen Berliner Zeichner, der kürzlich in einer Graphic Novel Berliner Alltagsszenen mit visuellen Manga-Elementen und europäischen Zeichentraditionen verknüpft hat: Mikael Ross mit seinem in der vietnamesischen Community Berlins spielenden Lichtenberg-Thriller „Der verkehrte Himmel“.

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Im Vergleich dazu ist Davies‘ neues Werk fragmentarischer und weniger handlungsgetrieben. In künstlerischer Hinsicht zeigen beide Bücher auf ihre Weise, wie bereichernd es für die deutsche Comicszene ist, dass hiesige Zeichnerinnen und Zeichner sich künstlerisch zunehmend auch von fernöstlichen Vorbildern inspirieren lassen.
Vom Fukushima-Bezug, den der Buchtitel und das visuell besonders spektakuläre Eröffnungskapitel in den Fokus rücken, sollte man sich bei der Lektüre von „Super-GAU“ allerdings nicht auf die falsche Spur bringen lassen.
Die Ereignisse in Japan, deren katastrophale Folgen Davies anschaulich vermittelt, sind für einige der Figuren zwar sehr bedeutsam. Und wenn man will, kann man die quer durch die Handlung verteilten Fukushima-Szenen, die unter anderem in Form von eingestreuten TV-Nachrichtenschnipseln vermittelt werden, als Metapher für die sich durch das Buch ziehende Botschaft sehen, wie fragil die menschliche Existenz ist.
Jenseits der Schockwellen der Katastrophe
Im Zentrum der Graphic Novel stehen aber jenseits der Schockwellen der Katastrophe vor allem das urbane Leben in Berlin und die Beziehungen, die Menschen in der Großstadt miteinander verbinden. Das zeigt Davies so einfühlsam in all seinen Facetten und Widersprüchen, dass die Stadt in vielen Szenen die eigentliche Hauptrolle in ihrem Buch einnimmt.
Die in Kreuzberg lebende Zeichnerin nimmt sich viel Zeit, die besondere Atmosphäre ihrer Wahlheimat zu vermitteln. Die oftmals wortlosen, größtenteils der Gegend zwischen Landwehrkanal und dem Kiez rund um die kolossale Wohnanlage „Zentrum Kreuzberg“ in der Adalbertstraße zuzuordnenden Bildfolgen zeichnen ein kunstvoll collagiertes Bild vom Berliner Alltag, speziell dessen Kreuzberger Ausprägung. Die Stadt wird hier als lebendiger Organismus gezeigt, der von den unzähligen kleinen Interaktionen seiner Bewohner lebt.

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Dazwischen wendet die Erzählerin den Fokus von der allgemeinen Stadtbetrachtung immer wieder auf die persönlichen Sorgen und Gedanken ihrer überwiegend unter prekären Bedingungen lebenden Hauptfiguren, deren Alltagsdramen wie auch deren Lebensfreude und geteilte Glücksmomente.
Einigen zentralen Charakteren kommt man als Leser ganz besonders in jenen Szenen nahe, die im Obdachlosen-Milieu spielen. Diese Passagen sind, so hat es die Autorin in einem Interview geschildert, von eigenen Erfahrungen inspiriert und wirken daher besonders authentisch: Bea Davies hat ehrenamtlich eine Zeitlang in einer Notunterkunft für wohnungslose Menschen gearbeitet.
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