zum Hauptinhalt
 Reist am liebsten auf dem Papier. Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, 75, in Kreuzberg. 

© Sven Darmer

Emine Sevgi Özdamar auf der Buchmesse: Ein fulminantes Comeback auf 763 Seiten

Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar zog sich viele Jahre zurück. Mit „Ein von Schatten begrenzter Raum“ legt sie nun ihren großen Lebensroman vor. Ein Treffen.

Stand:

Gegen Ende von Emine Sevgi Özdamars großem Lebensroman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ sitzen zahlreiche Krähen in der Wohnung der Ich-Erzählerin am Kreuzberger Oranienplatz. Sie stellen Fragen, wollen mit ihr reden, fordern sie auf, doch bitte in ihr Manuskript zu schauen und vorzulesen, was auf Seite 59 oder auf Seite 84 steht – ein Manuskript, das den Titel „Ein von Schatten begrenzter Raum“ trägt.

Die Erzählerin macht, was die Krähen ihr sagen, wiederholt die Sätze auf ebenjenen Seiten im Roman, alles Prophezeiungen im Übrigen, die ihr die Krähen vor vielen Jahren gemacht und in den autofiktionalen Raum dieses Romans gestellt haben: dass sie trotz ihres Erfolgs als Schauspielerin und Schriftstellerin keine Ruhe finden und immer als „Brücke zwischen der Türkei und Deutschland“ gepriesen werde, ja, sie „das beste Beispiel der Integration“ sei.

Ich habe zehn Jahre an dem Roman geschrieben.

Emine Sevgi Özdamar

Tatsächlich war Emine Sevgi Özdamar mit ihren Romanen „Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus“ oder „Das goldene Horn“ die erste Vertreterin einer Literatur, die später unter Labels wie „Migrationsliteratur“ oder „transkulturelle Literatur“ firmierte, einer Literatur, die divers war, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Obwohl sie als Schauspielerin arbeitete und bevorzugt in Theaterkreisen verkehrte, schrieb sie Bücher über die erste Generation türkischer Migranten, damals Gastarbeiter genannt, eigensinnige, artistische Herkunfts- und Entwicklungsromane. Und fand sofort Resonanz. Noch bevor ihr Debütroman veröffentlicht wurde, gewann Özdamar mit einem Auszug davon 1991 in Klagenfurt den Bachmann-Preis.

Von Unruhe oder Getriebensein kann an diesem trüben Sonntagmittag bei Emine Sevgi Özdamar nicht die Rede sein; auch Krähen fliegen gerade keine über den Oranienplatz. Gemütlich steht die dieses Jahr 75 Jahre alt gewordene, im anatolischen Malatya geborene Schriftstellerin vor der Buchhandlung Dante Connection in der Oranienstraße und schaut sich in der Auslage ein Exemplar ihres im Suhrkamp Verlag erschienenen Romans an, ganz in schwarzer Kluft, die sie jugendlich wirken lässt, und einer blauen Mütze über den langen schwarzen Haaren.

Es wurde sehr ruhig um sie

Treffpunkt ist das Café Alibi nebenan, das aber geschlossen hat. Für sie kein Problem. Sogleich bietet sie an, in den Kuchenkaiser oder die Lounge des Hotels am Oranienplatz direkt gegenüber zu gehen. Es wird das Hotel, auch wegen seines Panoramablicks auf den Platz, der in Özdamars Roman wie in der Realität voller Geflüchteter ist, die 2012 ein Camp errichteten, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Özdamar wohnt seit über zwanzig Jahren in der Nähe, am Erkelenzdamm, mit ihrem Mann, dem Bühnenbildner und Regisseur Karl Kneidl. Beide sind gerade aus der Türkei gekommen, und nach der Buchpremiere vergangene Woche im Literaturhaus in der Fasanenstraße beginnt Özdamar nun, Interviews zu geben und sich auf die Buchmesse vorzubereiten.

Es war sehr ruhig um sie geworden in den vergangenen Jahren. Im Grunde hatte man seit 2006 nichts mehr von ihr gehört, seit dem Plagiatsstreit mit ihrem Kollegen Feridun Zaimoglu. Dieser schien sich, als großer Bewunderer von Özdamar, für seinen Roman „Leyla“ aus ihrer „Karawanserei“ bedient zu haben. Zaimoglus und Özdamars Bücher wurden damals beide bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht. Özdamar verließ den Verlag, schrieb noch ein Buch über Ece Ayhan, den „türkischen Rimbaud“, das nur in der Türkei erschien, sowie ein Theaterstück. Und sie begann mit der Arbeit an „Ein von Schatten begrenzter Raum“: „Ich habe zehn Jahre daran geschrieben“, nennt sie lakonisch den Grund für ihren Rückzug: „Es war gut, dass niemand Druck auf mich ausübte, dass ich erst mal keinen Verlag hatte.“

Klar sei ihr nicht gewesen, dass das Buch ein Volumen von knapp 800 Seiten annehmen, sich letztendlich an ihrem eigenen reichhaltigen künstlerischen Leben entlangbewegen würde. Ausgangspunkt sei das Schreiben über eine türkische Insel gewesen, mutmaßlich jene mit Blick auf das griechische Lesbos, auf der sie selbst einige Monate im Jahr lebt. „Sagen wir so: Die Insel ist dem Ort im Roman ähnlich“, warnt sie. Das wird sie im Verlauf des Gesprächs immer wieder tun, wenn es um den Abgleich von Leben und Roman geht; Özdamar möchte ihr Buch nicht als autobiografisches verstanden wissen.

Emine Sevgi Özdamar, 2010.

© Thilo Rückeis/TSP

Es soll ihre Ich-Erzählerin sein – Freunde nennen sie zuweilen „Min“ –, die die Insel verlässt und sich auf den Weg macht ins Berlin der siebziger Jahre, nach dem Militärputsch in der Türkei 1971: „Wie in meinem Traum hatte ich mich vor türkischen Nationalisten nach Berlin gerettet. Aber ich traf hier in Berlin die Schuldgefühle der deutschen Vergangenheit“, heißt es im Roman. Und weiter: „Ich fing an, an der Volksbühne in Ost-Berlin mit dem Brechtschüler Benno Besson zu arbeiten. Wenn ich in Ost-Berlin tagsüber in den Theaterproben mit Benno Besson, Matthias Langhoff, Heiner Müller und Christoph Hein saß oder abends in den Theatervorstellungen, vergaß ich Berlin und seine Schuldgefühle.“

Es fallen viele bekannte Namen in diesem Roman, und es ist ein Leichtes, diese und die Lebensstationen der Erzählerin mit Özdamars Biografie zu verschränken: In Berlin war sie – als Fan des Brecht-Theaters – Grenzgängerin zwischen Ost und West, auch in Paris hat sie mit Besson gearbeitet. Und in Bochum verbrachte sie bis 1984 fünf Jahre als Schauspielerin und Regieassistentin am Schauspielhaus unter Claus Peymann, bis sie 1986 in Frankfurt am Main ihr erstes eigenes Stück, „Karagöz in Alamania“, inszenierte.

Von „Inszenierung“ spricht Özdamar auch bezüglich ihrer eigenen Erinnerungen. Zu dieser Inszenierung gehört viel Surreales und Groteskes: sprechende Krähen und Mücken, sprechende Tote auf den Fresken einer orthodoxen Kirche, sprechende Wände. Oder Wanderungen über das Meer und auf dem Meeresboden. Dazu kommt ein großes Figurenpersonal: immer wieder neue Bekannte, die nicht prominent sind und also fiktiv sein könnten, Katzen, Hunde, Eichhörnchen. Oder Spanner vor der im Parterre liegenden Bochumer Wohnung der Erzählerin.

Sie bleibt oft eine Fremde

„Ein von Schatten begrenzter Raum“ ist ein riesiges Tableau. Es erzählt von der Identitätssuche einer türkischen Frau zwischen den Kulturen, vor allem mithilfe der Kunst. Ja, sie fungiert womöglich als „Brückenbauerin“, als Vorzeigetürkin, was ihr gegen den alltäglichen Rassismus nur wenig hilft. Sie ist oft eine Fremde, wie die Krähen vorausgesagt haben: „In der Fremde wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, weil er andauernd daran erinnert wird, dass er fremd ist.“ Das spiegelt sich in einer Unbehaustheit, die Özdamars Heldin sich unentwegt versichern lässt, wo sie alles zu wohnen in der Lage ist: in Besson, in einem Lächeln, in einer Nadel, in einem Lied von Edith Piaf, mit Toten in einem Schuhkarton undundund.

Zum anderen flimmern in diesem Roman mal im Hintergrund, mal vorn auf seiner Bühne die Politik und die historischen Ereignisse eines Jahrhunderts: der Genozid an den Armeniern, die Militärdiktaturen in der Türkei, der Bevölkerungsaustausch griechischer Türken und türkischer Griechen, die islamische Revolution im Iran 1979, der Hitler-Faschismus, die Schuld der Deutschen, ihre Schwierigkeiten mit dieser Vergangenheit.

Özdamar hat eine lange Passage „In der Pause der Hölle“ überschrieben. Damit meint sie eine Zeit, die sich eine Verschnaufpause gönnt; eine Zeit vor unserer Gegenwart mit Terroranschlägen in Paris, Istanbul oder Nizza, mit Geflüchteten auf dem Oranienplatz oder auf Lesbos.

Ich wollte mir unbedingt meine tote Großmutter vorstellen, sie sehen.

Emine Sevgi Özdamar

In der Pause der Hölle hat die Kunst noch geholfen, da war sie voller Utopien, auch davon erzählt dieser Roman. Es war damals eine gute Zeit für Emine Sevgi Özdamar, bevor ihr Schreiben begann. Auffällig ist: Ihre Jahre als Schriftstellerin nehmen nur einen kleinen letzten, knapp über hundert Seiten zählenden Platz ihres Romans ein. Sein Epizentrum sind die Jahre und Erfahrungen an den Theatern.

Özdamar spricht an diesem Mittag im Hotel am Oranienplatz davon, dass es womöglich ihre Großmutter gewesen sei, die sie zum Schreiben gebracht habe, eine schöne, im Alter von 30 Jahren tragisch verstorbene Frau: „Ich wollte mir unbedingt meine tote Großmutter vorstellen, sie sehen. Als mir das mit dem ersten Roman gelang, war ich sehr glücklich.“

Ganz von selbst kommt Özdamar noch einmal auf die Krähen zurück. Sie versteht sie als dunkle Gestalten, auch als Inbild „krank gewordener deutscher Wörter“. Zumal sie diese Krankheit schon in der Türkei mit der türkischen Sprache nach den Militärputschen erlebt hatte. Natürlich will sie all das nur bedingt auf sich selbst zurückführen, auf ihr weitestgehendes Verstummen nach dem Plagiatsstreit. Über den möchte sie nicht sprechen, obwohl auch dieser in ihrem Buch thematisiert wird. Die kranken Wörter seien letztendlich „nur eine Metapher“, so Özdamar.

Und überhaupt, betont sie ein weiteres Mal. Wenn sie eine Autobiografie schreiben wollte, würde sie andere Geschichten erzählen. Zum Beispiel über ihre Begegnungen mit dem Schriftsteller John Berger oder der Bergman-Schauspielerin Ingrid Thulin: „Bella, Bella, Bella, hat die zu mir gesagt und mich geküsst und immer wieder geküsst.“ Ihr Roman sei „eine Reise auf dem Papier“: „Ich könnte so eine Reise wieder unternehmen, und das wären ganz andere Geschichten.“

Özdamar erzählt an diesem Sonntag tatsächlich noch viele Geschichten, die nicht in ihrem Roman stehen: über Wolfgang Hilbig, den sie in Bergen-Enkheim kennengelernt hat. Über das Schicksal einer brasilianischen Journalistin, von der sie interviewt worden war und die bei dem Absturz der Air-France-Maschine über dem Atlantik ums Leben kam. Über ihre eigene Flugangst, die sie mit Gin Tonic bekämpft und die sie nach wie vor nur mit dem Auto in die Türkei reisen lässt.

Am Ende, wir stehen schon draußen am Oranienplatz, haben uns für Biere auf der Messe verabredet, und Özdamar wendet sich gerade in Richtung Erkelenzdamm, da muss ich sie doch noch fragen: „Wo wohnen Sie gerade, Frau Özdamar?“ Sie lacht und antwortet: „Das müssen Sie meine Romanfigur fragen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })