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Eröffnung des Filmfestivals: Depardieu-Urteil, Trumps Zölle – Cannes trotzt der Weltlage
In unsicheren Zeiten beginnen die Filmfestspiele in Cannes am Dienstag dennoch mit stolzgeschwellter Brust. Es wird wieder ein Spektakel.
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Einen Sinn für Dramaturgie kann man der Pariser Strafkammer nicht absprechen. Passend zur Eröffnung der 78. Internationalen Filmfestspiele in Cannes verkündet das Gericht am Dienstag das lang erwartete Urteil im Prozess gegen Gerard Depardieu.
Die französische Schauspiellegende muss sich für Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs verantworten, er soll 2021 die Szenenbildnerin Amélie K. und die Regieassistentin Sarah W. bei den Dreharbeiten zu „Les Volets Verts“ körperlich bedrängt und unsittlich berührt haben. Ihm drohen eine 18-monatige Haftstrafe auf Bewährung und eine Aufnahme ins nationale Sexualstraftäterregister.
Das Urteil dürfte am Dienstagabend auf und um den roten Teppich herum das dominierende Gesprächsthema sein – und auch davon ablenken, dass mit „Partir un jour“ von Amélie Bonnin erstmals in der Cannes-Geschichte das Debüt einer Regisseurin das Festival eröffnet.
MeToo-Proteste auf dem roten Teppich gehören seit den Weinstein-Enthüllungen 2017 in Cannes, dem bevorzugten Jagdgebiet des gefallenen Hollywood-Moguls, zum guten Ton. Im vergangenen Jahr erinnerte Judith Godrèche mit ihrem Kurzfilm „Moi Aussi“ („Me Too“) die Filmbranche daran, wie wenig Konsequenzen die MeToo-Bewegungen in Frankreich nach sich gezogen hat.
Das Denkmal Depardieu könnte zum Festivalstart stürzen
Offiziell verbrieft wurde das Anfang April mit einem parlamentarischen Untersuchungsbericht, der feststellt, dass sexuelle Gewalt und Missbrauch in der französischen Filmbranche „endemisch“ seien und sich die Situation seit dem Fall Weinstein kaum verbessert habe.
Das Depardieu-Urteil dürfte in Cannes auch deswegen hohe Wellen schlagen, weil der Schauspieler in Frankreich jahrzehntelang als Ikone verehrt wurde. Cannes-Direktor Thierry Frémaux gehörte bisher ebenfalls zu denen, die die Ansicht vertraten, die Kunst müsse unabhängig vom Künstler beurteilt werden; erst im vergangenen Jahr schloss er erstmals explizit die Rückkehr eines Woody Allen an die Croisette aus.
Es sind also besondere Umstände, unter denen das Schaulaufen der internationalen Filmbranche dieses Jahr über die Bühne geht. Die Präsidentin Iris Knobloch versprach schon mal pro forma im Namen der Festivalleitung, „maßgebliche Entwicklungen in der Gesellschaft zu begleiten“.
Das heißt im Klartext: In diesem Jahr sind erstmals sieben Regisseurinnen im Wettbewerb vertreten, darunter die Palmen-Gewinnerin Julia Ducournau mit dem Coming-of-Age-Aids-Drama „Alpha“, die spanische Bären-Gewinnerin Carla Simón und Lynne Ramsay mit ihrem Kammerhorrordrama „Die, My Love“.
So wie, last but not least, die Berliner Regisseurin Mascha Schilinski mit ihrem zweiten Film „In die Sonne schauen“. Außerdem folgen überhaupt erst zum zweiten Mal in 78 Jahren zwei Jury-Präsidentinnen aufeinander (Greta Gerwig in 2024): Juliette Binoche wird mit Halle Berry, Hong Sang-soo, Payal Kapadia und „Succession“-Star Jeremy Strong über die Palmen entscheiden.

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Man muss sich aber auch nichts vormachen. Die Branche hat in Cannes eine gewisse Routine darin entwickelt, die Wirklichkeit auszublenden, sobald das Festival auf Betriebstemperatur läuft. Dann rücken die gesellschaftspolitischen Debatten schnell wieder in den Hintergrund.
Es ist Thierry Frémaux aber auch nicht zu verdenken. Nach dem Oscar-Triumph des letztjährigen Palmen-Gewinners „Anora“ muss er sich auf dem Zenit seiner Macht im internationalen Arthousekino wähnen. Ein Königsmacher. Die Regel, dass die Oscar-Saison mit dem Festival in Venedig beginnt, ist – angefangen mit dem Überraschungserfolg von „Parasite“ 2019 – längst widerlegt.
Hollywood lässt in Cannes wieder die Muskeln spielen
Hollywood kehrt im großen Stil nach Cannes zurück. Auch Tom Cruise, der drei Jahre nach „Top Gun: Maverick“ mit „Mission: Impossible: The Final Reckoning“ den nächsten Sommer-Blockbuster mit an die Croisette bringt. Cannes dreht immer freier; mit dem dauererregten Spektakel, das Frémaux mit einer absurden Stardichte abfackelt, hat sich das Festival die gesamte Bandbreite des Kinos einverleibt.
Um die Palme konkurriert unter anderem Ari Aster mit seiner Western-Parabel „Eddington“ (mit Joaquin Phoenix, Pedro Pascal, Emma Stone, Austin Butler). Jennifer Lawrence und Robert Pattinson spielen die Hauptrollen in Ramsays „Die, My Love“. Richard Linklater war mit seiner Godard-Hommage „Nouvelle Vague“ ohnehin gesetzt. Ebenso Wes Andersons „Der phönizische Meisterstreich“, in dessen Ensemble unter anderem Tom Hanks, Bill Murray, Benedict Cumberbatch und Scarlett Johansson spielen.
Außer Konkurrenz gesellen sich noch Spike Lees Kurosawa-Remake „Highest 2 Lowest“ (mit Denzel Washington) und Rebecca Zlotowskis „Vie privée“ (Jodie Foster in ihrer ersten französischsprachigen Rolle) dazu.

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Scarlett Johansson gehört mit Kristen Stewart und „Baby Girl“-Star Harris Dickinson auch zum erlesenen Kreis von Stars, die in der Reihe Un Certain Regard ihre Regiedebüts vorstellen – die eigentlich eher der Entdeckung von jungen Talenten vorbehalten ist. Aber Bescheidenheit war noch nie Frémaux’ Sache, der Cannes-Boss scheint sich schon zu Lebzeiten seinen Platz in der Kinogeschichte sichern zu wollen.
Darüber kann man fast vergessen, dass der eigentliche Reiz immer noch darin besteht, im lauten Festivalbetrieb die kleinen, stilleren Filme zu entdecken. Im vergangenen Jahr gewann Payal Kapadias Frauendrama „All We Imagine As Light“ am Ende sogar den Großen Preis der Jury.
Helena Zengel in Schilinskis Debüt
Ein Kandidat auf die Nachfolge ist dieses Jahr tatsächlich ein deutscher Film. Vor acht Jahren entdeckte Mascha Schilinski die damals siebenjährige Helena Zengel für ihr bemerkenswertes Debüt „Die Tochter“. Im selben Jahr konkurrierte auch das letzte Mal ein deutscher Beitrag um die Goldene Palme. Es ruhen also berechtigte Erwartungen auf der Berliner Regisseurin, „In die Sonne schauen“ kursierte unter Branchen-Insidern schon vor Monaten als heißer Cannes-Anwärter.
Der Film erzählt über einen Zeitraum von 100 Jahren die Geschichten von vier Frauen (unter anderem Lena Urzendowsky und Luise Heyer), deren Schicksale miteinander verwoben sind. Und wenn sich Schilinski diese Zurückhaltung in ihren Beobachtungen und die Genauigkeit bei der Schauspielführung bewahrt hat, dürfte „In die Sonne schauen“ ein hoffnungsvolles Cannes-Comeback für den deutschen Film markieren.
Zumal mit Fatih Akin („Amrum“ in der Reihe Cannes Premières) und Christian Petzold („Mirrors No. 3“ in der Quinzaine des Réalisateurs) zwei weitere deutsche Regisseure im Hauptprogramm vertreten sind.
Unsicherheit droht bei aller Euphorie allerdings von unerwarteter Seite. Donald Trumps Ankündigung aus der vergangenen Woche, 100 Prozent Zölle auf alle internationalen Filmproduktionen zu veranschlagen, dürfte auf dem Marché du Film, auf dem bereits die Filmrechte für den Herbst verhandelt werden, leichte Beunruhigung auslösen.
Der amerikanische Markt ist für das internationale Arthousekino nicht nur wegen der Oscars als Saison-Höhepunkt von immenser Bedeutung, Importzölle würden da das Verhältnis von Trump und Hollywood nur weiter belasten. Es ist übrigens nicht überliefert, ob der US-Präsident, dem Handelsbilanzen über die Filmkunst gehen, den Vorjahressieger „Anora“ gesehen hat. Sean Bakers Komödie müsste aber – 100 Prozent „Made in America“ – ganz nach seinem Geschmack sein.
Die Weltkinohauptstadt Cannes stellt für einen Showdown im Handelskrieg zwischen Amerika und Europa jedenfalls die perfekte Bühne dar, nationalstaatliches Denken ist in der Filmproduktion längst ein Anachronismus. „Mission: Impossible: The Final Reckoning“ zum Beispiel, so heißt es, soll eine einzige Liebeserklärung an europäische Metropolen sein. Zeit also, dass ein erwiesener Retter des Kinos einen Termin im Weißen Haus bekommt. Tom Cruise, übernehmen Sie!
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